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Studierende, die hervorragende Arbeiten geschrieben haben, werden von der UZH mit einem Semesterpreis ausgezeichnet. Die Preisträger:innen werden jeweils am Tag der Lehre geehrt. In einer Serie zeigen wir anhand einiger Beispiele, was eine gute Arbeit ausmacht, worin ihr didaktischer Nutzen besteht, was Studierende zu besonderen Leistungen motiviert und wie sie von Dozierenden unterstützt und betreut werden.
«Die Möglichkeit, zur aktuellen Forschung in der Pferdechirurgie beizutragen, hat mich während meiner Masterarbeit motiviert und mich auch über strenge Phasen hinweg getragen», sagt Natalie Miller-Collmann strahlend und krempelt die Ärmel ihres hellblauen Overalls herunter. Die Semesterpreisträgerin kommt gerade aus den Stallungen am Tierspital Zürich. Ihre beiden Betreuungspersonen Anton Fürst, Professor für Pferdechirurgie, und Stefanie Ohlerth, Professorin für Bildgebung, nehmen ebenfalls am Interview teil. Beide bescheinigen Natalie Miller-Collmann eine ausgezeichnete Leistung. Ihre Arbeit wurde auch von der Fachwelt interessiert aufgenommen. An einer Tagung durfte sie die Ergebnisse über Halswirbel beim Pferd vorstellen.
Die Resonanz war unter anderem deshalb so gross, weil über das Thema der Arbeit gerade viel diskutiert wird. Viele Expert:innen vertreten die Ansicht, dass die beiden letzten Pferde-Halswirbel C6 und C7, wenn sie von der Norm abweichen, als pathologisch einzustufen seien und sprechen dann von einer «Malformation». Andere wiederum sehen die unterschiedlichen anatomischen Variationen der beiden Wirbel eher als Teil der natürlichen Variabilität an. Sie argumentieren, dass es zahlreiche genetische und umweltbedingte Faktoren gebe, die die Wirbelsäulenanatomie von Pferden beeinflussen können, leichte Variationen müssten daher nicht unbedingt krankhaft sein.
«Die Grundsatzfrage, ob die Variation der Halswirbel eine anatomische oder pathologische Variation ist, betrifft direkt den klinischen Alltag, denn pathologisch verformte Wirbel müssten behandelt werden», sagt Anton Fürst. Und es gibt auch einen ökonomischen Aspekt: Die Preise von Spring-, Reit- oder Zuchtpferden können schnell einmal 100’000 Franken übersteigen. Gelten die Halswirbel als deformiert, mindert das den ökonomischen Wert des Tieres.
Bei der Vergabe von Masterarbeiten achtet Anton Fürst darauf, dass das Thema fachlich relevant, aber auch im Rahmen einer Masterarbeit zeitlich zu schaffen ist. «Weil wir angewandte Forschung betreiben, sind die Themen in der Regel nicht abstrakt, sondern betreffen Fragen, mit denen die Studierenden im klinischen Alltag unmittelbar konfrontiert sind.» Für ihre Motivation sei das enorm wichtig gewesen, sagt Natalie Miller-Collmann: «Mir geht es letztlich um die Tiere. Es war für mich ein starker Antrieb, mit meiner Masterarbeit etwas zum Wohl des Tieres beitragen zu können.»
Anton Fürst riet seiner Studentin, zunächst ein kurzes inhaltliche Exposé zu verfassen, in der sie ihr Vorgehen beschreiben sollte. «Auf diese Weise kann ich bei meinen Masterstudierenden rechtzeitig intervenieren, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Thema nicht richtig durchdacht wurde». Die Erwartungen der Studierenden an die Betreuung seien sehr unterschiedlich. Die einen fragten viel nach, seien unsicher. Andere versuchten, alles allein zu bewerkstelligen. «Ich versuche, die richtige Balance zu halten zwischen Förderung von Eigenständigkeit und methodischer Unterstützung», sagt Fürst. Ein Ziel sei es, das Selbstvertrauen und die Problemlösungsfähigkeiten der Studierenden zu stärken. «Wichtig ist regelmässiges Feedback und eine vertrauensvolle und offene Kommunikationsbasis, die es den Studierenden ermöglicht, Fragen zu stellen und Herausforderungen zu besprechen und sie zugleich ermutigt, eigene Lösungsansätze zu finden.»
Natalie Miller-Collmann bewies besonders viel Eigenständigkeit. Aus eigenem Antrieb hinterfragte sie die derzeitige Schulmeinung zum Thema Wirbelanatomie bei Pferden. «Ich habe sehr viel recherchiert, gelesen und dann gesehen, dass es zwar schon viele Publikationen zum Thema Halswirbel C6 und C7 gab, die eher der Deformationstheorie zustimmten. Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich all diese Studien in einer bestimmten Hinsicht einseitig waren: Es wurden immer nur kranke Pferde untersucht. Das brachte mich auf die Idee, auch die Wirbelanatomie von gesunden Pferden statistisch auszuwerten.» Es hätte aber Mut gebraucht, einen neuen, eigenständigen Ansatz zu verfolgen, doch sie habe Zuspruch erfahren von Mitstudierenden und ihren Betreuenden, sagt Miller-Collmann.
Unterstützt von Anton Fürst kontaktierte Natalie Miller-Collmann Tierärzt:innen in der ganzen Schweiz, die den Allgemeinzustand der zum Verkauf stehenden Renn-, Spring- oder Zuchtpferden untersuchen. Zu diesen standardmässig durchgeführten sogenannten Ankaufsuntersuchungen gehören auch Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule. Die Tierärzt:innen stellten Miller-Collmann anonymisiertes Datenmaterial für ihre Arbeit zur Verfügung: So erhielt sie Röntgenaufnahmen von 324 Pferdehälsen mit der jeweiligen Anatomie von C6 und C7.
Um ihre Forschungsfrage zu beantworten, konnte die Studentin die bildgebenden Verfahren an der Vetsuisse-Fakultät nutzen. «Jetzt begann die Detailarbeit», erzählt sie. Es ging darum, die Aufnahmen zielführend zu interpretieren. Dazu erarbeitete sie ein Schema, mit dem sie die Wirbel vergleichen konnte. «Ich habe die Röntgenaufnahmen immer wieder angeschaut», erinnert sich Miller-Collmann rückblickend. Man müsse sehr präzise arbeiten, um die Variation genau einzuordnen, zu kontextualisieren und statistisch auszuwerten. «Im Laufe der Zeit wurde sie zur Expertin», lobt Stefanie Ohlerth.
Bildgebende Verfahren wie MRT (Magnetresonanztomographie), Röntgen, Szintigrafie und CT (Computertomographie) sind am Tierspital vorhanden, auch für Grosstiere. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der veterinärmedizinischen Forschung, denn sie ermöglichen eine präzise Diagnostik und die detaillierte Untersuchung von anatomischen Strukturen sowie von pathologischen Veränderungen bei Tieren, sagt Ohlerth. «Für Masterstudierende in der Veterinärmedizin bedeutet dies eine gute Möglichkeit, sich mit modernen diagnostischen Methoden vertraut zu machen. Sie können lernen, wie man bildgebende Verfahren anwendet, interpretiert und in die Forschung integriert». Diese Fähigkeiten seien nicht nur für die akademische Laufbahn von Bedeutung, sondern auch für die praktische Anwendung in klinischen Settings, sagt Ohlerth.
Natalie Miller-Collmann liefert in ihrer Arbeit gute Argumente dafür, dass leichte Variationen der Pferdehalswirbel nicht unbedingt krankhaft sein müssen. Aufgrund ihrer Ergebnisse schlug sie eine neue Nomenklatur der Halswirbelvariationen vor, die sich von der eindeutigen pathologischen Sichtweise verabschiedet. Der neue Begriff Equine zervikothorakale Variation (ECTV) ordnet die Varianten des C7 und C6 als Variation ein und nicht als eindeutig pathologisch. ECTV könnte aufgrund von Zuchtselektion entstanden sein. Ob diese Vermutung richtig ist, könnte eine Folgestudie mit einer Population von ursprünglichen Rassen mit kürzeren Hälsen zeigen.
Natalie Miller-Collmanns Wunsch war es, Tierärztin zu werden. Das Studium habe sie dazu befähigt, eigenständig Wissen zu erarbeiten und auf dieser Grundlage verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, sagt sie. Am Ende des Gesprächs schlüpft sie wieder in den blauen Overall und geht in die Stallungen. Dort benötigt ein Pferd eine sachkundige Untersuchung.