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Ganz neu sind Klimaklagen nicht: Schon in den Achtziger- und Neunzigerjahren gab es Prozesse, bei denen es meistens um den Anstieg des Meeresspiegels ging. Hohe Wellen warfen sie nicht – die Klagen scheiterten fast ausnahmslos. Seit einigen Jahren erhalten Klimaprozesse nun aber eine ganz neue Dynamik. Sie beschäftigen auch nicht mehr nur Gerichte im angelsächsischen Raum, sondern ebenso in Deutschland, Portugal und der Schweiz. Oft geht es in diesen Beschwerden um Schadenersatzforderungen oder Umsiedlungen – immer häufiger aber auch um Menschenrechte.
Gut ein Dutzend Klimarechtsfälle sind heute am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hängig. Eine der ersten Klagen kam aus der Schweiz: Der Verein Klimaseniorinnen und weitere Personen hatten vor sechs Jahren zuerst beim Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) und danach beim Bundesgericht vergeblich geklagt und schliesslich 2020 am EGMR Beschwerde eingereicht. Die Klimaseniorinnen werfen den Bundesbehörden vor, zu wenig zur Reduktion der Treibhausgasemissionen zu unternehmen, und fordern eine Kurskorrektur in der Schweizer Klimapolitik. Die Schweiz verletze ihre Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung und älteren Frauen im Speziellen. Diese würden besonders unter den Folgen der Klimaerwärmung leiden, bestehe gerade für sie doch nachweislich ein Zusammenhang zwischen Hitzewellen und Übersterblichkeit. Noch hat der EGMR zu keinem der Fälle Stellung genommen.
«Es ist in den vergangenen Jahren immer deutlicher geworden, dass sich der Klimawandel auch auf die Menschenrechte auswirken wird», sagt die Rechtswissenschaftlerin Corina Heri. «Ob und wie man solche Verletzungen einklagen kann, ist dagegen alles andere als klar.» Gemeinsam mit der Rechtsprofessorin Helen Keller beschäftigt sich Heri derzeit mit den grossen Fragen, die mit den ersten Klimarechtsfällen auf den Gerichtshof in Strassburg zukommen. «Wir müssen solchen Beschwerden die Chance geben, gehört zu werden», sagt Keller, die lange als Richterin am EGMR tätig war. «Denn schliesslich geht es um eine der grössten Bedrohungen der Menschheit.»
Das «Climate Rights and Remedies Project» will die Palette an Problemen aufzeigen, die sich ergeben können, wenn die gängigen Verfahrensmassstäbe des EGMR für Klimaklagen zu eng sind. Das Forschungsprojekt wird aus einem Legat der 2019 verstorbenen Zürcher Anwältin Ursula Brunner finanziert; sie hat sich zeitlebens stark für Umweltanliegen eingesetzt – und war die erste Anwältin, die damals die Klimaseniorinnen vertreten hat. «Sicher kann es nicht im Sinne eines effektiven Menschenrechtsschutzes sein, dass der Gerichtshof seine Hürden umso höher legt, je mehr Menschen betroffen sind», ist Keller überzeugt.
Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Zulässigkeit von Beschwerden: Sind die heutigen Bedingungen für das Eintreten bei Klimarechtsfällen in jedem Fall sinnvoll? Die Ausschöpfungsregel zum Beispiel: Sie schreibt vor, dass Beschwerdeführende zuerst alle nationalen Instanzen durchlaufen müssen, bevor sie an den Gerichtshof in Strassburg gelangen können. Was aber, wenn nicht nur gegen ein Land geklagt wird, sondern gegen ganze dreiunddreissig Staaten, wie es etwa in einer Klimaklage aus Portugal der Fall ist? Und: Wie definiert man den Opferstatus bei einem globalen Problem wie dem Klimawandel, von dem alle irgendwie betroffen sind? Oder wie zweckmässig ist das geltende Verständnis, dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen eines Staates auf sein Hoheitsgebiet beschränkt sind, wenn doch Treibhausgasemissionen nicht an Landesgrenzen halt machen?
Gerade beschäftigen sich Keller und Heri auch mit möglichen Rechtsfolgen von Klimaklagen – etwa der Frage, wie man Umweltschäden überhaupt beziffern kann: Wie viel ist ein Jahr verlorener Lebenszeit wert, wie viel ein zerstörtes Feuchtgebiet, verschmutztes Abwasser? «Es geht uns nicht einfach darum, den Klagenden mehr Munition für ihre Beschwerden zu liefern», betont Rechtswissenschaftlerin Keller. «Wir wollen die Gerichte sensibilisieren, sodass sie in Klimarechtsfällen überlegte und gerechte Urteile fällen können.
Drei der zwölf Klimaklagen am EGMR haben bereits die erste Hürde genommen: Sie wurden der Grossen Kammer zugewiesen, die nur in sehr schwierigen Fällen zum Zug kommt. «Es ist anzunehmen, dass der Entscheid zu diesen Beschwerden den Grundstein legen wird, um dann auch die weiteren Fälle zu beurteilen», so Keller. Zu den drei ersten Klagen gehört auch diejenige aus der Schweiz. Die Klimaseniorinnen haben laut den beiden Forscherinnen eine gute Chance, dass ihre Klage sogar zum ersten Klimarechtsfall wird, zu dem sich der Gerichtshof in Strassburg äussert. Das liegt vor allem daran, dass er eine wesentliche Zulässigkeitsbedingung erfüllt, an denen Klimaklagen, aber auch andere Menschenrechtsfälle häufig scheitern: Die Beschwerdeführenden haben wie vorgeschrieben den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft, bevor sie mit ihrer Beschwerde an den EGMR gelangt sind. Zudem richtet sich ihre Beschwerde einzig gegen die Schweiz und nicht gegen weitere Staaten.
Das Bundesgericht hatte 2020 befunden, eine Überschreitung des Klimaziels sei erst in mittlerer bis ferner Zukunft zu erwarten und für Massnahmen bleibe noch Zeit. Es fehle den Beschwerdeführerinnen zudem an der besonderen Betroffenheit und die Grundrechte würden nicht hinreichend intensiv berührt. «Da hat es sich das Bundesgericht zu leicht gemacht», kritisiert Keller, die als Richterin am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina tätig ist. Dass Hitzewellen gerade für ältere Frauen ein erhöhtes Gesundheitsrisiko bedeuten, lasse sich leicht belegen. «Doch keine der nationalen Behörden hat sich auch nur die Mühe gemacht, dies zu prüfen.» Der Gerichtshof in Strassburg habe so nichts in der Hand, worauf er sich stützen könnte. Die Beweisführung dürfte auch für andere Klimaklagen zum Knackpunkt werden. So zeigt sich immer wieder, dass umweltrechtliche Fälle vor dem EGMR eine viel grössere Chance haben, wenn schon die nationalen Behörden eine Missachtung von Umweltstandards festgestellt hatten. Kaum ein innerstaatliches Gericht dürfte sich allerdings kompetent genug fühlen, zu beurteilen, ob ein Land genug gegen die Krise tut. Dafür ist das Problem des Klimawandels zu komplex.
Verläuft alles nach Plan, dürfte der Gerichtshof die Parteien nächstes Jahr zu einer Anhörung einladen. «Dort müsste auch die Schweizer Regierung überzeugend darlegen, was sie unternimmt, um vulnerable Bevölkerungsschichten wie ältere Frauen zu schützen», sagt Keller. «Nachdem eben erst das CO2-Gesetz versenkt und das Referendum beim Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative angekündigt worden ist, befindet sich die Schweiz nicht gerade in einer komfortablen Lage.»
Gleichzeitig täten die Klimaseniorinnen gut daran, Fachleute aufzubieten, die den Klimabezug der Übersterblichkeit älterer Frauen glaubwürdig darstellen könnten. «Der Ausgang des Prozesses hängt stark davon ab, wie gut die Parteien vor Gericht argumentieren.» Ende 2023 dürfte ein Urteil erwartet werden.
Und dann? Ein Blick auf die bisher rund dreihundert in Strassburg verhandelten Umweltklagen zeigt laut Heri: Das Urteil des Gerichtshofs beschränkt sich in umweltrechtlichen Beschwerden meist auf eine Feststellung. Selten wird ein Geldbetrag zugesprochen, doch fällt auch dieser in der Regel bescheiden aus. Die Anordnung zu einer gerichtlichen Massnahme dagegen, wie man sie aus anderen Fällen kennt, wo beispielsweise die Freilassung einer Person aus dem Gefängnis verlangt werden kann, ist bei Umweltklagen unüblich und dürfte bei Klimarechtsfällen erst recht nicht zu erwarten sein, wie die Postdoktorandin schätzt. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Europäische Gerichtshof der Schweiz vorschreibt, wie sie ihre Klimaziele zu erreichen hat.»
«Natürlich schaffen auch Gerichtsurteile den Klimawandel nicht einfach aus der Welt», räumt Keller ein. «Doch stärken sie diejenigen Kräfte, etwa im Parlament, die sich schon lange für besseren Klimaschutz einsetzen.» Für den Gerichtshof in Strassburg dürften Klimaklagen ausserdem zur Schicksalsfrage werden: Wird er sich seine Bedeutung und Autorität, seine Funktion als Gewissen Europas für die Zukunft bewahren? Das dürfte laut den beiden Wissenschaftlerinnen stark davon abhängen, ob der EGMR nun den Sprung ins kalte Wasser wagt und sich den aktuellen Fragen stellt und vielleicht auch neue Wege zu gehen bereit ist. «Diese Entscheidung können wir dem Gerichtshof nicht abnehmen», sagt Keller. «Doch wir können das Wasser ein wenig vorwärmen.»