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Studierende, die hervorragende Arbeiten geschrieben haben, werden von der UZH mit einem Semesterpreis ausgezeichnet. In einer Serie zeigen wir anhand einiger Beispiele, was eine gute Arbeit ausmacht, worin ihr didaktischer Nutzen besteht, was Studierende zu besonderen Leistungen motiviert und wie sie von Dozierenden unterstützt und betreut werden.
Navassa ist eine winzige Insel, die auf den meisten Karten der Karibik gar nicht verzeichnet ist. Aber im Jahr 1899 kam es dort zu einem Ereignis, das das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu ihren quasi-Kolonien auf abgelegenen Inseln nachhaltig veränderte. Bei einem gewalttätigen Aufstand von Arbeitern, die auf der Insel Guano-Dünger abbauten, kamen mehrere Aufseher ums Leben. Der Aufstand auf der abgelegenen Insel wurde in der damaligen US-amerikanischen Öffentlichkeit breit diskutiert und richtete ein Schlaglicht auf die sozialen Kosten der Minenarbeit.
Denn Guano – ein nährstoffreicher Dünger aus den Exkrementen von Seevögeln und Fledermäusen – war eine wichtige Ressource. Seit Mitte 19. Jahrhundert hatte Guano einen regelrechten Rush befeuert.
Auf Navassa kam es nicht ohne Grund zum Aufstand, wie Bachelorstudentin Vivianne Rhyner bei ihren Recherchen für ihre Seminararbeit herausfand, denn die Arbeitsbedingungen auf der Insel waren gesundheitsgefährdend und menschenverachtend. «Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stieg die Nachfrage nach Dünger in den westlichen Ländern enorm an», erklärt Rhyner. Besonders grosse Vorkommen fanden sich auf den Inseln im Pazifik und in der Karibik, so auch auf Navassa. Welche historischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der grosse Bedarf an Dünger hatte, war die Forschungsfrage, die sie in ihrer Seminararbeit beantworten wollte.
Auf das Thema gestossen war sie im Seminar «Mapping Pacific History» von Geschichtsdozent Jonas Rüegg. «Dünger aus Guano ist ein wichtiges Thema in der Geschichte des Pazifiks, da er eine der Ressourcen darstellt, um die sich Prozesse von Kolonisierung, Arbeitsmigration und Umweltzerstörung in Ozeanien drehten», sagt Rüegg. «Als Vivianne für ihre Seminararbeit auf Navassa kam, wusste ich zuerst selbst nicht, wo das ist, doch die Geschichte der Insel ergänzt das Bild des Guano-Rushes im Pazifik. Vivianne hat das Thema ihrer Arbeit selbst gesetzt und gründlich recherchiert. Sie hat Primär- und Sekundärquellen analysiert und sich kritisch mit der Düngernutzung aus wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Perspektive auseinandergesetzt» Für ihre besonders originelle, interdisziplinäre Leistung habe Vivianne Rhyner den Semesterpreis verdient, so Rüegg.
Bei ihrem Quellenstudium richtete Vivanne Rhyner den Fokus auf die Berichterstattung in den USA, die das Geschehen aus Sicht der damaligen Zeit beleuchtet. «Ich habe viel gelesen und schliesslich die Zeitungsartikel als Primärquellen ausgesucht», sagt die Geschichtsstudentin. Die Texte beschrieben, wie 130 Arbeiter von der Navassa-Insel nach dem Aufstand festgenommen und in die USA gebracht wurden. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ehemalige Sklaven und andere Arbeiter auf der Karibikinsel, die ja eigentlich nicht zum Hoheitsgebiet der USA gehörten, auf der Insel arbeiten mussten?
«Der Grund liegt im Guano Islands Act von 1856» erklärt Rhyner. «Das Gesetz erlaubte es US-Bürgern, Inseln in internationalen Gewässern zu besetzen, wenn diese Guano-Lagerstätten aufwiesen». Das Anwaltsteam der angeklagten Arbeiter focht damals die Verfassungsmässigkeit des Guano Island Act an. Sie argumentierten, dass die Insel Navassa nicht zu den Vereinigten Staaten gehöre und die Arbeiter daher nicht nach amerikanischem Recht verurteilt werden dürften. Der Oberste Gerichtshof bestätigte jedoch die Gültigkeit des Gesetzes, wodurch der territoriale Anspruch der USA auf die Guano-Inseln bekräftigt und die Verurteilung der Arbeiter bestätigt wurde.
«An diesem Punkt sieht man deutlich die Verflechtung von Wirtschaft und Recht, die hier und anderswo die territoriale Expansion der USA vorantrieb», sagt Rhyner. Die Artikel vermittelten der Studentin zudem ein Bild davon, unter welch unmenschlichen Bedingungen die mehrheitlich nicht-weissen Arbeiter auf Navassa schuften mussten.
Aus den Quellen ergaben sich viele interessante Fragestellungen. «Schliesslich muss man sich jedoch für bestimmte Primärquellen entscheiden und den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen», sagt Rhyner. Die Vorgaben, worauf bei einer Seminararbeit in Geschichte zu achten ist, kannte sie: Länge der Arbeit, korrekte Zitierweise und sauber durchgeführte Methodik. «Ich fühlte mich sicher im Umgang mit Quellen, Literatur und Recherche. Die Herausforderung bestand darin, eine geeignete Form zu finden, den Stoff so aufzubereiten, dass es stimmig und wissenschaftlich korrekt war», sagt Rhyner.
«Den Studierenden beim Verfassen ihrer Seminararbeiten möglichst grosse Freiheiten zu lassen, ist didaktisch durchaus gewollt», erklärt Jonas Rüegg. Ziel des Bachelorstudiums sei es, zu lernen, eigenständig mit Quellen zu arbeiten. «Das Quellenstudium ist ergebnisoffen – die Studierenden müssen sich also auf eine intellektuelle Reise mit unbekanntem Ziel begeben», so Rüegg. Diese Offenheit müsse man aushalten können. Und sich zugleich immer wieder vergewissern, welche weiteren Schritte zielführend sind, welche Aspekte man weiter vertiefen möchte, was man weglassen will und ob es nötig ist, die ursprüngliche Fragestellung nachzujustieren. «Ich ermuntere meine Studierenden eine Mind Map zu zeichnen, denn die visuelle Umsetzung bringt oftmals Erkenntnisgewinn», erklärt der Geschichtsdozent. So habe Vivianne zum Beispiel die Insel gezeichnet, und dabei eine Vorstellung von der Grösse und den Bedingungen vor Ort bekommen. Das habe sie auch im Seminar den Mitstudierenden gezeigt und mit ihnen ihre Arbeit diskutiert.
Eine Seminararbeit sollte nicht im stillen Kämmerlein geplant werden, sagt Rüegg. Wichtig ist dem Geschichtsdozenten, dass sich die Studierenden untereinander austauschen – so wie es auch bei Vivianne Rhyner der Fall war. «Das hilft, die eigene Arbeit zu reflektieren und kreative Blockaden zu überwinden.»
Vivianne Rhyner hat beim Verfassen ihrer Seminararbeit gelernt, mit Freiheiten und Unsicherheit umzugehen. Unmittelbar nach der Fertigstellung der Arbeit begann sie ein Praktikum beim Schweizer Konsulat in New York. «Eine meiner ersten Aufgaben bestand darin, eine Rede für den Botschafter zu verfassen, und ich hatte kaum Vorgaben. Die Erfahrungen beim Schreiben meiner Seminararbeit haben mir geholfen: Ich habe gelernt, selbst Prioritäten zu setzen und die Argumentation gut aufzubauen», sagt sie. Heute arbeitet sie hochmotiviert an ihrem Masterabschluss in Internationalen Beziehungen am Geneva Graduate Institute.