Friedlich Konflikte lösen

Brian Keller hat unrühmliche Berühmtheit erlangt: Das Schweizer Publikum hat den heute 29-Jährigen unter dem Pseudonym «Carlos» kennengelernt. Er wurde mehrfach wegen Gewalttaten verurteilt und kommt nicht mehr aus den Schlagzeilen. Fälle wie dieser führen zum Eindruck, dass Jugendgewalt enorm zunehme. Doch wie sehen die Zahlen tatsächlich aus? Verschiedene Quellen liefern Aufschluss: Die Zahlen aus dem sogenannten Hellfeld – die offizielle polizeiliche Kriminalstatistik – und jene aus dem Dunkelfeld. Das sind Angaben, die die Jugendlichen selbst machen. Sie sind normalerweise höher als die offiziellen Statistiken, da nicht jeder Vorfall angezeigt wird.
Ging die Jugendgewalt seit Mitte der 2000er- bis zur Mitte der 2010er-Jahre zurück, lässt sich seither wieder ein Wachstum feststellen. «Tatsächlich haben wir zwischen 2014 und 2021 einen Anstieg beobachtet. Fast jeder vierte Jugendliche gab an, bereits Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein», sagt Denis Ribeaud vom Jacobs Center for Productive Youth Develpment der UZH. Der Kriminologe leitet seit 2006 die Zürcher Jugendbefragungen zu Gewalterfahrungen Jugendlicher (ZYS), die anhand grosser Stichproben Aufschluss über die längerfristige Entwicklung der Jugendgewalt im Dunkelfeld geben.
Die Gewalttoleranz sinkt
Die letzte Befragung ergab eine deutliche Zunahme der Opferraten bei sexueller Gewalt und bei instrumenteller Gewalt. Mit Letzterer sind Delikte wie Raub und Erpressung gemeint, bei denen Gewalt eingesetzt wird. Auch die Gewalt in den sozialen Medien nimmt zu, darunter Cybermobbing und sexuelle Onlinebelästigung. Laut der Studie überlappen sich Täter- und Opferrollen stark. «Aus Opfern werden Täter und umgekehrt», sagt Ribeaud. Das nehme die Gesellschaft aufgrund von Alltagsstereotypen – hier die Opfer, da die Täter – häufig nicht wahr.
Dirk Baier, Professor für Kriminologie, beobachtet eine veränderte gesellschaftliche Toleranz gegenüber aggressivem Verhalten. «Die Gesellschaft ist heute weniger bereit, Gewalt zu akzeptieren. Und das ist eine positive Entwicklung», so Baier. In den Medien werde intensiv über Gewalttaten von Jugendlichen berichtet. «Man muss trotzdem die Relationen sehen: Über 90 Prozent der Jugendlichen begehen keine Gewalttaten. Diese will ich aber nicht kleinreden. Jeder Übergriff ist einer zu viel.» Gewalt prägt die Betroffenen manchmal ein Leben lang, mit Folgen wie posttraumatischen Belastungsstörungen.
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Man kann Kindern zeigen, wie man Konflikte nicht aggressiv löst. Je älter Menschen werden, desto schwieriger wird das, aber es ist trotzdem möglich.
Doch was bringt Jugendliche dazu, gewalttätig zu werden? Für die letzte ZYS-Studie hat Ribeaud die zentralen Risiken herausdestilliert. Er sieht zum einen jene Faktoren, die sich direkt auf die Gewaltausübung auswirken. Dazu zählen Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen wie mangelnde Selbstkontrolle, gewaltbefürwortende Männlichkeitsnormen oder mangelnde Konfliktlösungskompetenzen. Zum anderen gibt es Faktoren, die sich indirekt auswirken, etwa der familiäre Kontext: Konflikte zwischen den Eltern, innerfamiliäre Auseinandersetzungen und elterliche Gewalt gegen Kinder.
Auch die Biologie spielt eine Rolle: «Der präfrontale Cortex ist bei Jugendlichen noch nicht ausgereift. Sie sind deshalb noch gar nicht fähig, ihre Impulse im gleichen Ausmass zu kontrollieren wie Erwachsene», sagt Dorothea Stiefel. Die Psychiaterin ist Co-Leiterin des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik der Psychiatrischen Universitätklinik Zürich. Ihr Team schreibt pro Jahr rund fünfzig Gutachten für die Jugendanwaltschaft Zürich und therapiert jugendliche Straftäter:innen. Stiefel beobachtet bei vielen der behandelten Jugendlichen, dass sie in der Kindheit emotionalen und körperlichen Missbrauch erlebt haben. Bei vielen kommt als weiterer Risikofaktor eine psychische Störung dazu, zum Beispiel ein ADHS, eine Störung des Sozialverhaltens, Autismus oder – viel seltener – eine Schizophrenie.
Verhängnisvoll können Situationen mit hohem Konfliktpotenzial sein: unübersichtliche Menschenansammlungen, rivalisierende Gruppen oder wenn Alkohol- und Drogeneinfluss mitspielen. Laut der ZYS-Studie gehen Jugendliche heute aber seltener in den Ausgang als früher. Auch der Substanzkonsum hat abgenommen. Dafür verbringen sie mehr Zeit online. Dort kann es ebenfalls zu Gewaltvorfällen kommen, zum Beispiel Cybermobbing.
Höhere Strafen helfen wenig
Jugendliche mit nichtschweizerischer Staatsbürgerschaft sind als Gewalttäter in der Kriminalstatistik übervertreten. «Die Frage nach der Nationalität wird in diesem Kontext immer gestellt», sagt Baier. «Wenn man sich die Hintergründe anschaut, sieht man aber andere Zusammenhänge: zum Beispiel sozioökonomische Benachteiligung oder niedrige Bildung von Jugendlichen nichtschweizerischer Herkunft. Hier müssen wir ansetzen, um passende Massnahmen zu finden.»
Was schützt Jugendliche davor, gewalttätig zu werden? «Social Skills» wie Empathiefähigkeit oder Konfliktlösungskompetenz seien zentral für ein gewaltfreies Leben, sagt Ribeaud. Zum Aufbau solcher Kompetenzen trage die Unterstützung durch erwachsene Bezugspersonen entscheidend bei. Manchmal sind das die Eltern, zuweilen aber auch Lehrpersonen.
Höhere Strafen hingegen helfen wenig gegen Jugendgewalt. «Darüber ist sich die Wissenschaft grundsätzlich einig», sagt Baier. «Gerade bei jungen Menschen hat das keine abschreckende Wirkung. Die denken nicht darüber nach, ob auf ein Delikt drei oder fünf Jahre Haft stehen, wenn sie es begehen.» Dass trotzdem ab und zu die Gesetze verschärft werden, erklärt er mit den wenigen Handlungsmöglichkeiten der Politik: Strafen verschärfen oder Geld für Prävention sprechen. «Und Geld ausgeben ist meistens unpopulär.»
Soziale Kompetenzen vermitteln
Baier sieht in der Prävention den erfolgversprechenderen Weg. «Man kann nie früh genug damit anfangen, und es ist nie zu spät», sagt er. Kindern sollten so früh wie möglich soziale Kompetenzen vermittelt werden. Sie müssen lernen, sich in andere hineinzuversetzen und erkennen, was ihr eigenes Handeln bei anderen bewirkt. «Man kann Kindern zeigen, wie man Konflikte nicht aggressiv löst. Je älter Menschen werden, desto schwieriger wird das, aber es ist trotzdem möglich», sagt Baier. Bei älteren Jugendlichen brauche es Unterstützung von mehreren Seiten und eine Perspektive, zum Beispiel eine Ausbildung. «Viele Jugendliche kommen von selbst wieder aus problematischen Situationen heraus, weil sich ihre Lebenssituation verändert und ihre Einsicht wächst, dass es mit Gewalt nicht geht», sagt Baier. «Bei anderen ist es aber durchaus auch einmal nötig, dass sie in den Massnahmenvollzug kommen.»
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Gewaltprävention muss langfristig angelegt sein. Über die ganze Schulzeit müssen dieselben Kompetenzen und Werte vermittelt werden.
Prävention solle langfristig angelegt sein, betont Ribeaud: «Über die ganze Schulzeit müssen dieselben Kompetenzen und Werte vermittelt werden. Eine punktuelle Intervention mag zwar kurzfristig etwas bewirken, aber die Effekte verpuffen mit der Zeit wieder.» Wichtig sei es auch, dass den Jugendlichen eine umfassende Medienkompetenz beigebracht werde.
Wenn die Prävention nicht gefruchtet hat und Jugendliche gewalttätig werden, dann wird in sehr schwerwiegenden Fällen die Kinder- und Jugendforensik hinzugezogen. Stiefel und ihr Team analysieren in ihren Gutachten die Delikte, um die deliktrelevanten Mechanismen dahinter zu verstehen. Das Gleiche wird von den Jugendlichen verlangt. «Ein Delikt ist oft ein Ausdruck von Not und Unbeholfenheit», sagt Stiefel. Ihr Ziel ist unter anderem, dass die Jugendlichen verstehen, wieso sie ihre Tat begangen haben. Sie müssen die Risikofaktoren erkennen und verstehen, was sie künftig besser unterlassen oder welche alternativen Bewältigungsstrategien sie anwenden müssten. «Das kann bedeuten, dass sich ein Jugendlicher sagt: Im Sommer gehe ich freitagabends nicht mehr zu den ‹Hot Spots› am Zürcher Stadelhofen, wo die Gefahr hoch ist, dass ich auf andere treffe, die auf Krawall aus sind», so die Psychiaterin. «Aber die Jugendlichen sollten auch unbedingt ihre Stärken kennenlernen, damit diese gezielt gefördert werden können.»
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Ein Delikt ist oft ein Ausdruck von Not und Unbeholfenheit.
Die Kinder- und Jugendforensik arbeitet mit den verurteilten Jugendlichen daran, eine Zukunft aufzubauen. «Sie müssen ein Alternativprogramm haben. Wenn sie bis anhin Anerkennung in ihrer delinquenten Peer Group hatten, dann lässt sich eine andere Form der Anerkennung mit Förderung ihrer Stärken finden, vielleicht in einem Sportklub», sagt Stiefel. Eine Schule mit passendem Niveau, eine Lehrstelle, eine geregelte Tagesstruktur: All das hilft, Selbstwert zu schöpfen, um den Ausstieg aus der Gewalt zu finden. Die Familien der Jugendlichen werden ebenfalls eingebunden, selbst wenn dort die Situation schwierig ist. «Trotzdem ist es die Familie, und mit ihr muss der Jugendliche klarkommen – das kann manchmal auf eine temporäre Trennung hinauslaufen», sagt Stiefel.
Der Weg zurück zum Glück führt für gewalttätige Jugendliche über harte Arbeit. «Natürlich haben viele Widerstände gegen diese Zwangsmassnahmen von Therapie und Fremdunterbringung», sagt Stiefel. «Ich versuche ihnen jeweils zu erklären, dass dies auch eine Chance ist, einen Beruf im geschützten Rahmen zu erlernen und gewaltfrei zu werden.»
Kommt es zu Gewaltvorfällen, ruft die Gesellschaft oft nach schnellen Lösungen und klaren Schuldigen. So einfach ist es aber nicht. «Es gibt nicht das eine Zahnrad, an dem wir drehen können», sagt Baier. Und unterstreicht, dass ganz viele Jugendliche gewaltfrei durchs Leben kommen.