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Taxifahrten, Kinderbetreuung, Wohnungsreinigung, Essenslieferungen – viele Dienstleistungen werden heute über Onlineplattformen vermittelt. Erbracht werden sie von Menschen, die auf Abruf arbeiten. Wie manche Musikerinnen und Musiker, die von einem Auftritt (englisch «Gig») zum nächsten tingeln, hangeln sich die digitalen Taglöhner:innen der Gig-Industrie von Auftrag zu Auftrag. Ihre Anfänge hatte die Gig-Ökonomie in den USA, wo 2009 der Fahrdienstvermittler Uber als einer der ersten Anbieter bekannt wurde. Seither ist der Markt am Wachsen – auch in der Schweiz. In der EU waren 2022 rund 23,8 Millionen Menschen für digitale Arbeitsplattformen tätig. Gemäss Prognosen sollen es 2025 gegen 43 Millionen sein.
«Als sie aufkamen, haben die digitalen Plattformen grosse Freiheiten versprochen», sagt Karin Schwiter, «nämlich sein eigener Boss zu sein und dann zu arbeiten, wenn man kann und will.» Die Geografin forscht mit ihrem Team an der UZH unter anderem zur Arbeit in der Gig-Ökonomie. Ganz falsch ist dieses Freiheitsversprechen nicht: Nutzen können es vor allem Menschen, die nicht existenziell auf die Gig-Arbeit angewiesen sind und sich mit Gelegenheitsjobs ein Zubrot verdienen. So arbeiten etwa zahlreiche Studierende neben ihrer Ausbildung an der Hochschule für Online-Anbieter. Auch für neu ankommende Migrant:innen kann die niederschwellige Arbeitsvermittlung der digitalen Plattformen eine Chance sein, sagt Schwiter. «Die Gig-Arbeit ermöglicht ihnen, überhaupt in den Arbeitsmarkt einzutreten, wenn andere Türen noch verschlossen sind.»
Schwieriger ist es für Menschen, die ihren ganzen Unterhalt mit Gig-Arbeit bestreiten. «Sie leben oft in prekären Verhältnissen und haben kaum Zugang zu anderen Arbeitsmöglichkeiten», sagt Karin Schwiter. Sie sind darauf angewiesen, genügend Aufträge zu erhalten, um sich über Wasser zu halten. Deshalb sind sie mehr oder weniger ständig auf Abruf, das Handy immer parat, um den nächsten Auftrag entgegenzunehmen. «Diese Nervosität, das Warten auf den nächsten Job, spüren wir sehr stark, wenn wir uns für unsere Forschung mit Gig-Arbeitenden treffen», sagt die Wissenschaftlerin, «von Freiheitsgefühlen ist hier wenig zu spüren.» Zumal die Gefahr besteht, dass sie nicht genügend Aufträge erhalten, um die Rechnungen am Ende des Monats zu bezahlen. Denn eine Garantie für ein existenzsicherndes Einkommen geben die Firmen der digitalen Arbeitsvermittlung nicht.
Die digitalen Plattformen haben grosse Freiheiten versprochen, nämlich sein eigener Boss zu sein und dann zu arbeiten, wenn man kann und will.
Bislang haben Uber & Co. wenig Verantwortung für die Menschen übernommen, die für sie arbeiten. Sie sehen sich vor allem als Vermittler zwischen Dienstleistern und Kundschaft, nicht aber als Arbeitgeber mit entsprechenden Verpflichtungen. Die Risiken – etwa nicht auf einen genügenden Monatslohn zu kommen – wird ganz auf die Gig-Arbeitenden übertragen. «Die Frage, wie viel Verantwortung die Unternehmen für ihre Arbeitskräfte tragen sollten, wird deshalb momentan kontrovers debattiert», sagt Arbeitsgeografin Schwiter.
Eine Antwort darauf zu geben, sei gar nicht so einfach, meint die Geografin. Denn die digitale Arbeitsvermittlung bestimmt die Arbeit und das Leben der Gig-Arbeitenden in unterschiedlichem Ausmass. So gibt es einfache Websites, die Babysitterinnen mit Eltern zusammenbringen, die eine Betreuung für ihre Kinder suchen. Zu welchen Konditionen, handeln sie dann selbständig miteinander aus. «In diesem Fall intervenieren die Plattformbetreiber kaum und beeinflussen das Arbeitsverhalten wenig», sagt Karin Schwiter.
Andere Gig-Unternehmen definieren dagegen sehr genau, wie und zu welchen Bedingungen gearbeitet wird und wie die Aufträge verteilt werden. «Hier wird die Arbeit viel stärker gesteuert und überwacht», sagt die Wissenschaftlerin. Die entscheidende Frage sei deshalb, wann eine Vermittlungsplattform tatsächlich zur Arbeitgeberin wird, die dann auch mehr Verpflichtungen übernehmen und etwa Beiträge zur Sozialversicherung leisten oder Krankheitstage bezahlen muss. Eine umstrittene Frage sei auch die Abgeltung von Transportkosten und Wegzeiten, sagt Schwiter. Denn in der Regel entlöhnen die Plattformen nur die eigentlichen Dienstleistungen, nicht aber den ganzen Aufwand, um diese zu erledigen. «Das kann dazu führen, dass jemand nur auf wenige bezahlte Stunden kommt, obwohl er oder sie den ganzen Tag gearbeitet hat.»
In den letzten Jahren haben sich auch in der Schweiz immer wieder Gerichte mit den Arbeitsverhältnissen in der Gig-Ökonomie beschäftigt. So musste beispielsweise die Firma Batmaid, die Reinigungspersonal vermittelt, nach einem Vergleich am Arbeitsgericht in Lausanne diesen Frühling eine ehemalige Mitarbeiterin, der sie fristlos gekündigt hatte, entschädigen. Und sie musste ausstehende Wegzeiten- und Transportkosten bezahlen. Batmaid wurde so gesehen als Arbeitgeber in die Pflicht genommen.
Mittlerweile hat die EU Richtlinien erlassen, die die Rechte und Arbeitsbedingungen in der Gig-Ökonomie verbessern und die Arbeitnehmenden mehr schützen sollen. So wird unter anderem davon ausgegangen, dass Gig-Arbeitende, die für eine Plattform tätig sind, Angestelltenstatus haben. Sollte dies nicht der Fall sein, müssen die Unternehmen den Nachweis dafür liefern.
In der Schweiz gibt es noch keine entsprechenden Regelungen. «Der Bundesrat geht immer noch davon aus, dass die Gig-Arbeit ein marginales Phänomen ist und vor allem einen Zuverdienst ermöglicht», sagt Schwiter, «er hat nicht wahrgenommen, dass Menschen damit auch versuchen, ihre Existenz zu sichern.» Die neuen Richtlinien der EU seien aber eine Chance, das Thema auch in der Schweiz wieder breiter zu diskutieren. Denn verbindlichere Arbeitsverhältnisse in der Gig-Ökonomie sind künftig auch hierzulande nötig – davon ist die Wissenschaftlerin überzeugt. Mit ihrer Forschung und ihren Analysen will sie zu einer differenzierten Debatte zur Plattformarbeit von morgen beitragen.
Dieser Artikel stammt aus dem Dossier «Mit Köpfchen und KI» des UZH Magazins 3/2024