Navigation auf uzh.ch
Im vergangenen Februar erhielt Onur Boyman innerhalb von wenigen Tagen Tausende E-Mails. Zwar ist ein volles Postfach für ihn nichts Ungewöhnliches. Schliesslich ist der 49-Jährige sowohl Medizinprofessor an der UZH als auch Klinikdirektor am Universitätsspital Zürich. Doch diese Menge Nachrichten in so kurzer Zeit: «Das war eine neue Dimension», sagt er beim Besuch in seinem Labor am Häldeliweg.
Gemeldet haben sich nicht nur Forschende und Vertreter aus der Industrie. Sondern auch jede Menge kranker Menschen. Denn die Resultate der Forschung von Boyman und seinem Team gelangten nicht nur ins renommierte Fachmagazin «Science», sondern auch in die Hauptnachrichten des Schweizer Fernsehens, zum amerikanischen Newssender NBC und in unzählige andere Medien. Und von dort um die halbe Welt.
Was war passiert? Die Forschenden rund um Boyman hatten Anfang Jahr einen Durchbruch bei der Erforschung von Long Covid erzielt. Als erste Wissenschaftler:innen überhaupt entdeckten sie einen sogenannten Biomarker der Krankheit – also eine messbare Veränderung im Körper von Menschen, die an Long Covid leiden. Durch umfassende Blutanalysen stellten sie fest, dass ein Teil des Immunsystems von Langzeiterkrankten aktiviert bleibt, selbst nachdem das Virus erfolgreich bekämpft ist.
Konkret geht es um das sogenannte Komplementsystem, das normalerweise Infektionen bekämpft, indem es infizierte Körperzellen beseitigt. Die Forschenden stellten fest, dass dieses bei Long-Covid-Patient:innen einfach nicht zur Ruhe kommt – und so gesunde Zellen und Organe beschädigt. Die Folge sind Erschöpfung, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Schwäche und Atemnot – die bekannten Long-Covid-Symptome. Durch diese Erkenntnisse liegt die Vermutung nahe, dass Long Covid im Grunde eine Immunerkrankung ist. Im besten Fall könnte das den Weg ebnen für Diagnosetests und Therapien der Langzeiterkrankung. Bis dahin dürfte es allerdings noch Jahre gehen, schliesslich müssten Pharmafirmen etliche Millionen in die Erarbeitung eines vereinfachten Bluttests und entsprechende Medikamente stecken. Trotz dieser langfristigen Perspektive handelt es sich bei vielen der E-Mails, die Boyman erhalten hat, um Danksagungen. Denn fast genauso wichtig wie die Hoffnung auf eine Therapie ist für viele Long-Covid-Betroffene derzeit die Anerkennung der Krankheit an sich. Boyman sagt: «Unsere Studie widerlegt endgültig, dass Long Covid nur Einbildung ist.»
Unsere Studie widerlegt endgültig, dass Long Covid nur Einbildung ist.
Boyman trägt an diesem Sommertag ein weisses Hemd, den obersten Knopf hat er offen gelassen. Er ist der Typ Arzt, dem man gerne sein Schicksal anvertraut – ruhig, seriös und ehrlich interessiert, aber doch distanziert genug, damit man sich sicher ist, dass das alles vertraulich bleibt. Ausserdem strahlt er eine professionelle Freundlichkeit aus. Fragen beantwortet er mit einem einleitenden «gerne», während des Interviews hält er plötzlich ein Schälchen mit Süssigkeiten hin. «Bitte. Ein kleines Pläsierchen für zwischendurch.»
Geboren ist Boyman, Sohn eines Ingenieurs und einer Buchhalterin, in Lausanne. Bevor er in die Schule kam, zog die Familie in den Kanton Zürich. Sein Medizinstudium absolvierte er an der UZH. Am Fach fasziniert habe ihn das dafür notwendige vernetzte Denken. Was er damit meint, zeigt er, indem er die Schale mit den Süssigkeiten zu sich zieht und ein Raffaello, ein Amaretto sowie je ein Tartufo bianco und nero vor sich auf den Tisch legt. «Sagen wir, ein Patient kommt mit diesen vier unterschiedlichen Symptomen zu mir. Als Arzt muss ich überlegen, was sie miteinander zu tun haben. Und zwar auch wenn ich die Ursache für die Beschwerden nicht kenne.» Ein einfaches Beispiel: Leidet jemand an Atemnot, Erschöpfung und Husten und befinden wir uns gerade in einer Covid-19-Welle, dann ist eine Infektion mit dem Virus naheliegend.
Dass Boyman nach dem Studium den Weg in die Forschung einschlug, habe damit zu tun gehabt, dass er mehr über die Ursachen von Krankheiten herausfinden wollte. «In der Forschung ist es nämlich gerade umgekehrt. Wir studieren die Ursachen, ohne den Nutzen dieser Arbeit zu kennen.» Heute hat Boyman beide Mäntel an: Als Arzt und Direktor der Klinik für Immunologie am USZ behandelt er Patient:innen mit komplexen Immunerkrankungen. Als Professor an der UZH führt er ein Forschungslabor, das seinen Namen trägt: das Boyman Lab. «Forschung und Klinik sind wie zwei unterschiedliche Sprachen. Hier sind wir bilingue», sagt er.
Forschung und Klinik sind wie zwei unterschiedliche Sprachen. Am Boyman Lab sind wir bilingue.
Zur Immunologie kam Boyman durch Untersuchungen zur Schuppenflechte. Dass das eigene Immunsystem für die Hautentzündung verantwortlich ist, fand er so erstaunlich, dass er schliesslich für einen Forschungsaufenthalt nach San Diego (USA) flog und sich vornahm, erst dann zurückzukommen, wenn er die immunologischen Mechanismen gänzlich verstanden hat. Schliesslich verbrachte er drei Jahre am renommierten The Scripps Research Institute in La Jolla, ehe er erst zurück nach Lausanne und dann nach Zürich kam.
Boyman legt die Süssigkeiten zurück in die Schale, das Tartufo nero spart er sich für später auf. Auf die Frage, wie lang seine Arbeitstage sind angesichts seiner zwei Jobs, sagt er: «Ich zähle meine Stunden nicht. Aber an beiden Orten hat man vermutlich das Gefühl, dass ich Vollzeit arbeite.» Und dann, beiläufig, erwähnt er, dass elf Jahre genug seien und dass er das Amt als Klinikdirektor am USZ per Ende Jahr abgeben wird. Er sei jetzt 49 und noch immer voller Energie. Der Arzt Boyman wird nun auch Unternehmer. «Wir haben da wirklich etwas Besonderes gefunden», sagt er.
Boyman steht von seinem Bürostuhl auf und holt ein kleines Kristall-Amulett, das über seinem Schreibtisch an der Wand hängt. Dieses habe ihm eine Patientin geschenkt, die für eine Therapie aus Brasilien eingeflogen war. «Zuerst hatte sie nach unserer Schuhgrösse gefragt», erzählt er – ein in ihrer Heimat offenbar gängiges Gastgeschenk. Boyman winkte ab, worauf die Frau mit dem Amulett ankam. Ihre Dankbarkeit rührte auch daher, dass die neuartige Therapie für sie kostenlos war, da sie im Rahmen einer klinischen Studie durchgeführt wurde.
Diese klinische Studie wiederum ist die Grundlage dafür, dass Boyman den Schritt hinaus in die Privatwirtschaft wagt. Denn sie zeigt, dass eine völlig neuartige Behandlung für Autoimmunerkrankungen funktioniert. Der Hintergrund: Bei Krankheiten wie Multipler Sklerose, Diabetes Typ I oder Lupus führt eine Überreaktion des eignen Immunsystems zu Entzündungen. Bis anhin werden solche Erkrankungen mit Immunsuppressiva wie Cortison behandelt.
Diese allerdings dämpfen das gesamte Immunsystem – also auch gesunde Zellen. Die Nebenwirkungen sind stark, der Körper nimmt auf Dauer Schaden. Die neue Therapie soll das Immunsystem ohne diese Nebenwirkungen ins Gleichgewicht bringen. Ein Protein mit dem Namen TREX regt dabei gezielt jene Zellen an, die das Immunsystem regulieren. Um die Immuntherapie letztlich auf den Markt zu bringen, hat Boyman nun zusammen mit Ufuk Karakus, Valerie Scholtes und Miro Räber das UZH-Spin-off Seito Biologics gegründet. Bis zur marktfähigen Therapie wird es aber – wie immer in der Medizin – noch Jahre dauern.
Arzt, Forscher und nun also Unternehmer: Sein Antrieb sei stets, zu verstehen und zu helfen, betont Onur Boyman gegen Ende des Gesprächs. Das Verstehen gelingt ihm durch seine Forschung immer besser – die Arbeit an der UZH möchte er, wenn möglich, auch als Unternehmer weiterführen. Das Helfen allerdings sei in seiner Rolle als Klinikdirektor angesichts der vielen administrativen Tätigkeiten manchmal etwas zu kurz gekommen, sagt er. Das würde sich ändern, wenn es mit der neuen Immuntherapie klappt.
Acht Monate ist es her, seit Tausende von E-Mails Onur Boymans digitales Postfach fluteten. «Ich bin noch immer am Abarbeiten», sagt er in seiner gewohnt beiläufigen Art. Ob er wirklich vorhabe, die vielen Nachrichten persönlich zu beantworten? «Das ist schon mein Anspruch. Schliesslich haben sich diese Menschen auch die Mühe gemacht, mir zu schreiben.»