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Universitäre Lehrförderung – Teil 4: Individualisierte Lehre

Vom Mikroskopiersaal ins Wohnzimmer

Mit der Applikation «MyMi.mobile 2.0» können Medizinstudierende über Rechner oder Smartphone Gewebeproben der Pathologie mikroskopieren, um die Zusammenhänge zwischen Zellstruktur und Organstörungen zu verstehen.
Stéphanie Hegelbach
Mikroskopische Gewebeanalyse am Institut für Pathologie und Molekularpathologie. Studierende können das Mikroskopieren aber auch virtuell üben. «Über eine App haben sie unbegrenzten Zugriff auf die Präparatesammlung und können den Kurs auf dem Handy oder dem Tablet individuell vor- und nachbereiten», sagt Pathologe Michael Reinehr.


In weissen Labormänteln sitzen sie aufgereiht nebeneinander, jeder an einem Mikroskop: Die Medizinstudierenden im Histopathologiekurs des frühen 20. Jahrhunderts. Heute machen es sich die Studierenden zu Hause auf dem Sofa bequem und erwerben die Fachkenntnisse über einen Online-Kurs. Bald werden sie von dort aus noch effektiver mitmikroskopieren können: In Zusammenarbeit mit dem Institut für Molekulare und Zelluläre Anatomie der Universität Ulm entwickelt Michael Reinehr, Klinischer Dozent an der UZH und Pathologe am Universitätsspital Zürich (USZ), die Plattform «MyMi.mobile 2.0», auf der die Studierenden eine Vielzahl von eingefärbten Gewebeproben untersuchen können.

Es handelt sich dabei um eine Art virtuelles Mikroskop, bei dem die Studierenden die hochaufgelösten Scans von Präparaten frei bewegen und hineinzoomen können. «Früher sahen die Studierenden die Proben nur einmal im Kurs und schrieben nachher die Prüfung», erklärt Reinehr. «Über unsere App haben die Studierenden unbegrenzten Zugriff auf die Präparatesammlung und können den Kurs so vor- und nachbereiten – und das auch bei der Heimreise auf dem Handy oder Tablet.»

Vom Organ zur Zelle

Den Studierenden ein gut funktionierendes Werkzeug für die Selbstlernzeit an die Hand zu geben, ist ein wichtiges Anliegen für Reinehr. Er hat bemerkt, dass der Weg in die Histopathologie für viele Studierende eine Herausforderung darstellt. Die Histopathologie diagnostiziert Krankheiten anhand von beobachtbaren Veränderungen auf zellulärer Ebene. Dazu wird operativ entferntes Gewebe in zwei bis drei Mikrometer dünne Schichten geschnitten, eingefärbt und unter dem Mikroskop untersucht.

«Wenn man ein ganzes Herz vor sich liegen hat, versteht man schnell, wie es funktioniert», erklärt Reinehr. «Wenn man das Ganze aber schneidet und auf zelluläre Ebene vergrössert, wird es abstrakt und schwierig nachzuvollziehen.»

Ebendiese Verbindung zwischen der Zellstruktur und der Funktion oder Funktionsstörung eines Organs zu verstehen, ist das übergeordnete Lernziel der Histopathologie-Veranstaltungen im dritten, vierten und sechsten Jahr des Medizinstudiums. In seinem Unterricht springt Reinehr deshalb stetig zwischen der Makro- und Mikroebene hin und her.

«Bei der Leberzirrhose, einer von Bindegewebe durchbauten Leber, zeigen wir den Studierenden zuerst das Makroorgan», klärt er auf. «Da sehen sie die Knoten auf der Schnittfläche und bemerken, dass sich diese aufgrund von Gallestau grün verfärben.»

Anschliessend ist es für die Studierenden einfacher, das zugehörige Präparat einzuordnen und zu verstehen, warum sie dort Bindegewebsfasern und Galletröpfchen erkennen können. «Solche Bezüge sind schwierig nachzuvollziehen, wenn die Studierenden die Präparate nur einmal sehen, ohne sich – beispielsweise mit MyMi.mobile 2.0 – selbst damit beschäftigen zu können», sagt Reinehr.

Aktiver Unterricht trotz hohen Studierendenzahlen

Die Idee für das virtuelle Mikroskop stammt von Stefan Britsch, Anatomieprofessor der Universität Ulm, unter dem Reinehr früher gearbeitet hat. Vor gut zehn Jahren entwickelte Britsch mit Hilfe der Firma Zeiss den Vorgänger «MyMicroscope» und scannte erste Histologie-Proben. «Das war damals bahnbrechend: Erstmals wurde das Internet für einen solchen Zweck genutzt», erzählt Reinehr.

Die neue Version des Programms läuft über das leistungsstarke Rechnungszentrum der Uni Ulm und verfügt zudem über einen besseren Viewer. Dadurch können viele Studierende gleichzeitig auf die Software zugreifen, ohne dass das Programm langsamer wird. In Zukunft wird es so auch möglich sein, Prüfungen – beispielsweise die Pathologieprüfung als Zulassung zum Staatsexamen – über die Plattform durchzuführen.

Dank einem Lehrkredit der Universitären Lehrförderung konnte Reinehr für die UZH, die ETH und das USZ eine unbeschränkte Lizenz zur Benutzung der Plattform erwerben. Darauf kann er den Studierenden nun Scans von pathologischen Gewebeproben zur Verfügung stellen. Über 18 Monate hat er dazu interessante Präparate aus der alltäglichen Diagnostik gesammelt. «Die Studierenden bekommen nicht den besonders schönen Fall, sondern den realistischen Fall zu sehen», klärt er auf.

Stapelweise Mappen durchforstete er, um 200 spannende Proben zu finden, welche sich für den Pathologieunterricht eignen. Diese mussten perfekt geschnitten und anschliessend gescannt werden. «Den Aufwand dafür habe ich unterschätzt», erzählt er. Derzeit warten die Scans darauf, bearbeitet zu werden, damit sie den Lernenden anschliessend in hochaufgelöster Qualität zur Verfügung stehen. «Sie werden dann während des Online-Histopathologiekurses an ihrem Rechner mitmikroskopieren können» erklärt Reinehr.

Individuelles Feedback durch KI

Die Plattform MyMi.mobile 2.0 findet aber nicht nur im Unterricht Verwendung. Ihr Hauptzweck besteht darin, den Studierenden das selbständige Lernen zu ermöglichen. Sie finden für jedes Präparat eine mit Anmerkungen versehene Ebene, auf der Pfeile interessante Bereiche markieren. In einem ausklappbaren Menü können sie mehr über diese Zellstrukturen nachlesen. «Dort können wir ebenfalls Lehrbuchkapitel oder interessante Paper verlinken», sagt Reinehr.

Die Gewebeproben auf dem Computer oder Tablet ansehen zu können, macht es für die Studierenden auch einfacher in Lerngruppen darüber zu diskutieren. Auf der Plattform stehen ihnen auch Übungen zur Verfügung, in denen sie bestimmte Strukturen suchen oder eine Diagnose stellen müssen. Das Programm gibt ihnen dabei sofortiges Feedback und zeigt an, wie viele Prozent der Fragen sie richtig beantwortet haben.

Die Feedback-Funktion wird derzeit vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz ausgebaut. Das Zentrum arbeitet an einem Algorithmus, der den Lernfortschritt der Studierenden beobachten und ihnen individuelles Feedback geben kann. «Mit Einverständnis des Nutzenden wird er verfolgen, wie die Lernenden Strukturen suchen und welche Fortschritte sie dabei machen», erklärt Reinehr. Diese Daten helfen auch den Dozierenden bei der Verbesserung ihres Unterrichts. In den nächsten Jahren könnte überdies ein virtueller Tutor hinzukommen, der Studierenden über die Plattform Nachhilfe erteilen kann.

Per Audioguide durch Zellstrukturen reisen

Vier Universitäten aus Deutschland nutzen die Plattform bereits für ihre anatomische Präparatesammlung. Die Universität Zürich wird der erste Partner sein, der histopathologische Proben hochlädt.

Die Studierende haben ebenfalls Zugriff auf die Sammlungen anderer Unis und können so auch mit neuen Präparaten üben. Mit wenigen Mausklicks können sie so von der Leberzirrhose in der Histopathologie zur Gewebeprobe der gesunden Leber springen und diese miteinander vergleichen. Diese Funktion ermächtigt die Studierenden, die Histopathologie mit ihrem Vorwissen aus der Anatomie zu verknüpfen und fördert dadurch den Lernerfolg.

«Es gilt das Sharing-Prinzip: Jede Uni profitiert von den anderen», sagt Reinehr. Als nächstes möchte er auch Makroaufnahmen von Organen hochladen, damit die Studierenden den Sprung von Organ zu Gewebe zu Hause nachvollziehen können.

Der Dozent sprudelt vor Ideen, wie sich die Plattform zukünftig erweitern lässt: Beispielsweise könnten auch Scans aus der Radiologie hochgeladen werden. Die Leberzirrhose wäre dadurch nicht nur mit der gesunden Leber, sondern auch mit dem entsprechenden CT-Schnittbild verknüpft. «Das würde den fächerübergreifenden Querschnittsunterricht wunderbar unterstützen», ist sich Reinehr sicher.

Zudem plant er, für die Histopathologie Podcasts aufzunehmen, in welchen er Präparate analysiert und erklärt, wie er diese als Pathologe liest. Die Studierenden mikroskopieren gleichzeitig mit und werden so per Audioguide durch ein Präparat geführt.

Paradigmenwechsel in der Pathologie

Was in der Lehre bereits Alltag ist, folgt nun auch in der Klinischen Pathologie: Der Schritt zur Digitalisierung von Präparaten und zur Diagnostik am Computer. In Zukunft sollen auch am USZ die Präparate direkt gescannt und den Patholog:innen auf dem Rechner zur Verfügung gestellt werden. «Zuerst muss jedoch die IT-Logistik der grossen Datenmenge gelöst und ein funktionierender Workflow etabliert werden», gibt Reinehr zu bedenken.

Die Digitalisierung bringt viele Vorteile mit sich: Einerseits lässt sich damit ein Platzproblem lösen, da derzeit alle Proben physisch in Wachsblöcken und in Form von Glasschnitten für 10 bis 15 Jahre aufbewahrt werden müssen. Andererseits verkürzen sich die Arbeitswege und es wird einfacher, ein schwieriges Präparat mit einem Spezialisten am anderen Ende der Welt zu besprechen.

Die digitale Pathologie krempelt das Fachgebiet grundlegend um: Künstliche Intelligenz zur Mustererkennung könnte in Zukunft die Diagnostik unterstützen. Und der Alltag sähe für Michael Reinehr plötzlich ganz anders aus: Anstatt den Tag am Mikroskop zu verbringen, könnte auch er vom Homeoffice aus diagnostizieren.

 

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