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BrainFair

Die Qual der Zahl

Unlösbare Aufgaben mit Zahlen: Wer eine Rechenstörung oder Dyskalkulie hat, für den ist Rechnen eine Qual. Frühzeitig diagnostiziert, lässt sich die Schwäche dank Trainingsprogrammen mildern. Die Rechen- sowie Leseschwächen sind ein Thema an der «BrainFair» 2023, die sich dem Lernen von Mensch und Maschine widmet.
Stefan Stöcklin
Kind vor Wandtafel
Kinder mit Dyskalkulie sind nicht weniger intelligent, sondern haben aufgrund von Hirnveränderungen Mühe mit Zahlen. Gezieltes Training hilft, die Defizite zu kompensieren. (Bild: istock/Imgorthand)

 

Menschen mit Dyskalkulien haben Mühe mit Zahlen und Mengen. Es fällt ihnen schwer, Rechnungen im Kopf auszuführen und Grössen miteinander zu vergleichen. Wievielmal grösser ist 1500 als 10? Solche Vergleiche, die den meisten von uns problemlos verständlich sind, machen Betroffenen Mühe. Dabei sind Rechenstörungen relativ häufig: «Rund sieben Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen», sagt die Neurobiologin Karin Kucian, «fast in jeder Schulklasse hat es im Schnitt ein bis zwei Kinder mit Rechenstörungen.»

Die Expertin vom Kinderspital wird am 14. März im Rahmen der «BrainFair 2023» über diese Lernstörung sprechen, zusammen mit der Neurobiologin Silvia Brem von der UZH, die über das Thema Lese- und Rechtschreibeschwächen (Dyslexien) informieren wird. Karin Kucian und Silvia Brem sind Mitglied des Universitären Forschungsschwerpunkts «Adaptive Brain Circuits in Development and Learning», der die Hirnnetzwerke für die Entwicklung und das Lernen erforscht.
Weitere Informationen zur BrainFair siehe Kasten am Ende des Artikels.

Intelligenz nicht betroffen

Kucian erforscht seit Jahren die neuronalen Prozesse, die der Dyskalkulie zugrundeliegen und entwickelt Lernprogramme, um Betroffenen zu helfen. Aus ihrer langjährigen Erfahrung weiss sie, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose ist. Zunächst einmal aufgrund des Leidensdrucks: Kinder mit Dyskalkulie hören oft abwertende Kommentare wie «du bist zu blöd, zu rechnen» und haben Mühe, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen. «Die negativen Folgen dieser Erfahrungen sind gravierend und können Kinder in Isolation und Depressionen treiben», sagt Kucian.

Die Diagnose einer Rechenstörung ist dann meist eine Erleichterung, sowohl für Kind wie Eltern und Umgebung, weil damit klar wird, dass hinter den Rechenproblemen weder Faulheit noch Dummheit stecken, sondern eine neuronal bedingte Schwäche, die sich primär aufs Zahlenverständnis auswirkt. «Denn Betroffene sind normal intelligent», betont Kucian.

Anzeichen einer Dyskalkulie, das heisst Schwächen im Umgang mit Zahlen, zeigen sich oft schon sehr früh im Vorschulalter. Meistens wird die Rechenstörung in der zweiten oder dritten Primarschulklasse festgestellt. Gelegentlich hat Kucian aber auch mit jungen Erwachsenen nach der obligatorischen Schulzeit zu tun, bei denen spät eine Dyskalkulie festgestellt wird. Betroffene entwickeln teils erstaunliche Fähigkeiten, ihre Schwächen zu kompensieren oder zu verdecken, stellt die Neurobiologin fest. «Es sind teils haarsträubende Geschichten von Leuten mit einer langen Leidensgeschichte von Erniedrigungen, denen ich begegne.»

Eine frühzeitige Diagnose könne solche Tragödien verhindern, sagt Kucian. Bei der Abklärung gehe es darum, ein umfassendes Bild der Fähigkeiten des oder der Betroffenen zu erstellen. Dazu dienen unter anderem neuropsychologische Tests, Übungen zum räumlichen Vorstellungsvermögen und natürlich Rechen-, Lese- und Schreibtests. Bestehe ein Verdacht auf Dyskalkulie, sollte man nicht zögern und eine Abklärung durchführen, denn die Schwäche ist nicht vorübergehender Natur, sondern bleibt lebenslang bestehen.

Betroffene müssen also lernen, damit umzugehen – und je früher sie dies tun, umso besser. Dazu dienen spielerische Trainings- und Lernprogramme zum Umgang mit Zahlen, Rechenoperationen, Mengen, Massen und Zeiten. «Oft haben Betroffene auch Mühe mit Masseinheiten, Zeitvorstellungen und der räumlichen Orientierung», sagt Kucian.

Anpassungsfähiges Gehirn

Der Lernstörung liegen Veränderungen im Hirnareal des Scheitellappens zugrunde, der für das Zahlenverständnis wichtig ist. Dies zeigen bildgebende Hirnuntersuchungen von Betroffenen, die auch Kucian durchführt. Trotzdem sollte die Diagnose einer Rechenstörung nicht entmutigen – denn die Gehirne könnten sich anpassen. Dank den heute verfügbaren Lernprogrammen lernen Betroffene, ihre Defizite auszubessern und ihren Weg zu gehen. Das kann dann für die Berufswahl heissen, eine entsprechende Tätigkeit zu wählen, bei der nicht gerade Zahlenfertigkeiten im Vordergrund stehen.

Erschwerend kommt hingegen hinzu, dass Rechenstörungen «häufig» in Kombination mit einer Lese- und Rechtschreibeschwäche – einer Dyslexie – oder einer Aufmerksamkeitsstörung auftreten. Es sei aus diesem Grund besonders wichtig, bei Verdachtsfällen eine umfassende Abklärung auf die drei genannten Störungen durchzuführen, sagt Silvia Brem, Professorin für Kognitive Neurowissenschaften an der UZH. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass Dyslexie mit Veränderungen in den Sprachzentren des Gehirns einhergehen, das heisst anderen Bereichen als bei einer Rechenstörung. Das erklärt , wieso die Störungen unabhängig voneinander auftreten können.

Was Diagnose und Therapie betrifft, so gelten bei Dyslexie die gleichen Grundsätze wie bei Dyskalkulie: Eine Früherkennung erleichtert den Leidensdruck und macht den Weg frei für die Therapie. Und dank den Trainingsprogrammen können die Kinder die Schwäche meist recht gut kompensieren.