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Bilanz UFSP «Soziale Netzwerke»

Wertewandel und Nachhaltigkeit

Was bringt Menschen in sozialen Netzwerken dazu, ihre Werte und ihr Verhalten nachhaltig zu verändern? Die Forschenden des Universitären Forschungsschwerpunkts «Soziale Netzwerke» entwickelten neue Theorien und Methoden, um die komplexen Verbindungen zwischen Individuen und Netzwerk analysieren zu können.
Brigitte Blöchlinger
Professor René Algesheimer (Mitte) und sein Team (Foto: Angela Straub)
Professor René Algesheimer (Mitte) und sein Team (Foto: Angela Straub)

«Was mir am Herzen liegt, ist Marketing for Social Impact», sagt René Algesheimer, Co-Direktor des Universitären Forschungsschwerpunkts «Soziale Netzwerke» und Professor am Institut für Betriebswirtschaftslehre. Seine Forschung will dazu beitragen, besser zu verstehen, wie Menschen und Organisationen zu nachhaltigem Verhalten bewegt werden können. Ein Marketing-Ansatz, der sozialen Wandel anstrebt.

Dazu haben er und seine UFSP-Kolleg:innen aus den verschiedensten Disziplinen die Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteur:innen und ihren sozialen Netzwerken angeschaut. Den Begriff des sozialen Netzwerks fassten die Forschenden breit: Es konnte jede Entität sein mit Akteur:innen, die miteinander in Verbindung stehen. Zum Beispiel Online-Plattformen wie Instagram oder TikTok und deren Followers, aber auch Offline-Netzwerke wie Schüler:innen im Klassenverbund oder Bündnisse von Nationen, die in bestimmten Bereichen wie der Migration (Schengen-Raum) oder der Sicherheit (NATO) zusammenarbeiten.

Wichtigste Resultate

In verschiedenen sozialen Netzwerken identifizierten die UFSP-Forschenden die Schlüsselpersonen (Influencer:innen), die einen sozialen Wandel vorantrieben. «Diese Akteur:innen sind selbstdenkend, -handelnd und -fühlend und beeinflussen das Netzwerk», betont Algesheimer. Will eine Gesellschaft beispielsweise den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen fördern, spielen solche Influencer:innen eine wichtige Rolle. Sie «schubsen» andere Menschen in den sozialen Netzwerken «an», ihr Verhalten ebenfalls zu verändern, bis schliesslich die grosse Masse «kippt» bzw. folgt.

Verbindungen und ihre Wechselwirkungen
Algesheimer ist überzeugt: «Wir können die Krisen in der Welt nur meistern und sozialen Wandel positiv gestalten, wenn wir die Verbindungen und Interaktionen zwischen den Menschen und die sich daraus entwickelnden globalen Muster analysieren und verstehen.» Menschen leben nie unabhängig voneinander, sie beeinflussen sich und ihre sozialen Netzwerke kontinuierlich und wechselseitig. 

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Die gesellschaftliche Relevanz von sozialen Netzwerken kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

René Algesheimer, Co-Direktor UFSP «Soziale Netzwerke»

Wenn Menschen ihr Verhalten ändern, tun sie das, weil sich auch ihre Werte und Einstellungen geändert haben, lautet eine zentrale Erkenntnis des UFSP. Algesheimer führt aus: «Werte sind die Leitprinzipien in einem Menschenleben, sie werden einem von klein auf mitgegeben und helfen im Erwachsenenalter, die täglichen Einflüsse zu verarbeiten und einzuschätzen.» Daraus formt sich schliesslich die «eigene Meinung» eines Individuums zu gesellschaftlichen Themen. Und darauf wiederum basiert das Verhalten. 

Um die Werte und Meinungen hinter dem menschlichen Verhalten zu erforschen, entwickelte die Gruppe neue Instrumente. Ihr Fragebogen zur Untersuchung von Werten wird mittlerweile weltweit am häufigsten verwendet; ausserdem schufen sie einen auf Bildern basierenden Fragebogen für kleine Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können; damit lässt sich herausfinden, welchen Werten und Einstellungen Kinder folgen.

Entstehung und Wandel von Werten
Mit den neuen Instrumenten führten die UFSP-Forschenden mehrere Langzeitstudien zu den Wertesystemen von Erwachsenen und Kindern durch. Sie untersuchten zum Beispiel in der Schweiz, wie sich die Einstellung von Schüleri:nnen zur Integration von Flüchtlingskindern in Schulklassen entwickelte. 

Oder sie analysierten, wie Werte in Deutschschweizer Schulklassen unterschiedlicher Stufen und Bildungsangebote entstehen, und verglichen die Resultate mit der Wertebildung von Schüler:innen in Polen. Es zeigte sich unter anderem, dass Kinder in Schulen, in denen unterschiedliche Kulturen und Schichten zusammentreffen, stabilere Wertesysteme ausbilden und stabilere Leistungen (Schulnoten) erzielen. 

Ein weiterer Schwerpunkt des UFSP lag auf der Förderung von nachhaltigem Verhalten in sozialen Netzwerken. Die meisten Individuen wissen eigentlich, was sie tun müssten, um nachhaltiger zu leben – weniger fliegen beispielsweise. Sie handeln aber nicht entsprechend. Die UFSP-Forschenden untersuchten am Beispiel von CO2-Kompensationszahlungen, wie der Wertewandel von Individuen in sozialen Netzwerken vor sich geht und wie nachhaltiges Verhalten gefördert werden kann. Dazu arbeiteten sie mit unterschiedlichen Schweizer Firmen wie dem Onlinehändler Digitec Galaxus zusammen. 

Säen statt einpflanzen
«Meistens fängt sozialer Wandel mit einer Minderheit von Menschen an, die Ausstrahlung und Überzeugungskraft haben», erzählt Algesheimer. Das können Visionär:innen, Influencer:innen oder, in Forschungsgruppen, die Nobelpreiskandidat:innen sein. Wenn diese ihr Verhalten ändern und eine neue soziale Norm – zum Beispiel nicht mehr zu fliegen – leben und dies mitteilen, motivieren sie nach und nach die anderen Menschen in ihrem sozialen Netzwerk dazu, ihr Verhalten ebenfalls zu überdenken. «Die Seeders machen, bildhaft gesprochen, die Aussaat, damit daraus ein blühender Garten wächst.» 

Auch die UFSP-Forschenden bildeten zusammen ein soziales Netzwerk voller Dynamik. (Foto: TBS)
Auch die UFSP-Forschenden bildeten zusammen ein soziales Netzwerk voller Dynamik. (Foto: TBS)

Damit die Saat aufgeht, müssen die Verbindungen stimmen. Algesheimer vergleicht den Wirkmechanismus mit dem Anlegen eines Permakultur-Gartens: Auch dort ist es wichtig, die richtigen Pflanzen nebeneinander auszusäen, solche, die sich gegenseitig positiv beeinflussen und unterstützen und sich nicht etwa die Nährstoffe oder das Wasser streitig machen; wenn dies stimmt, kann sich der Garten als Ganzes dauerhaft gut entwickelt. Kurzfristiges «Einpflanzen» von neuen Handlungsweisen oder Werten führt hingegen nicht den gewünschten sozialen Wandel herbei. Damit sich sozialer Wandel ereignet, muss die Verhaltensänderung anhaltend und konsequent erfolgen und in die Strukturen der Entität hineinsickern. Bis – um im Beispiel zu bleiben – das In-der-Welt-Herumfliegen nicht mehr angesagt ist. 

Kreisende Erregung und Unvorhersehbarkeit
Die digitalen Netzwerke sind in den vergangenen zwölf Jahren, während denen der UFSP «Soziale Netzwerke» lief, omnipräsent geworden. Und sie funktionieren nach ihren eigenen Gesetzen. So passiert es immer wieder, dass Ansichten oder News plötzlich von Unzähligen geteilt und enorm populär werden – es entstehen sogenannte kreisende Erregungen. Und das häufig sogar dann, wenn diese Nachrichten im Detail gar nicht gelesen oder nur überflogen werden. «Wann und wie sich digitale soziale Netzwerke hochschaukeln, ist schwer vorhersehbar – ausser bei Influencer:innen wie der Sängerin Tayler Swift mit ihren Millionen von Followern.» 

Was ist richtig, was falsch?
Schwierig vorhersehbar waren zum Beispiel die Reaktionen der Menschen auf Covid-19 im Jahr 2020. In den zahlreichen sozialen Netzwerken kursierten zum neuen Virus und später zum mRNA-Impfstoff rasch die unterschiedlichsten Meinungen, viele kamen wie Fakten daher oder wurden von selbsternannten Experten zum Besten gegeben. Die enorme Dynamik der auftauchenden und wieder untergehenden Meinungen und Überzeugungen wurde zum Problem beim Umsetzen staatlicher Massnahmen gegen die Pandemie. «Ab einer gewissen Informationsfülle und -komplexität ist es Einzelnen fast nicht mehr möglich, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.»

Veränderungen im Laufe der Zeit
Mit der am UFSP entwickelten neuen Methode lassen sich gemäss Algesheimer nun Vorhersagen treffen, wie sich bestimmte Impulse oder Mechanismen in bestimmten sozialen Netzwerken im Laufe der Zeit verbreiten werden.

Gesellschaftliche Relevanz

«Die gesellschaftliche Relevanz von sozialen Netzwerken kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden», ist Algesheimer überzeugt. Die Verbindungen zwischen Akteur:innen und Netzwerken beeinflussen nicht nur das individuelle Leben einzelner Menschen, sondern auch das kollektive Leben, Organisationen, Nationen und immer häufiger die ganze Welt. 

Mit der neuen Methode lässt sich vorhersagen, wie sich bestimmte Impulse in sozialen Netzwerken im Laufe der Zeit verbreiten werden.

René Algesheimer, Co-Direktor UFSP «Soziale Netzwerke»

Positionierung

Den UFSP «Soziale Netzwerke» zeichnet sein innovativer methodischer Ansatz aus. In der Wirtschaftsforschung wird seit langem zwischen Mikro- und Makroökonomie unterschieden. Die UFSP-Forschenden verbanden nun diese beiden Ebenen miteinander. Sie kombinierten mikroökonomische Methoden wie Verhaltensexperimente und qualitative Studien mit makroökonomischen Simulations-Tools, die das kollektive Verhalten oder einen kollektiven Wertewandel aufzeigen können. 

Der kombinierte methodische Ansatz erlaubt es, das Geschehen auf individueller Ebene über einen bestimmten Zeitraum abzubilden und mit jenem auf der kollektiven Ebene zu verbinden. So werden die komplexen, dynamischen Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene erkennbar. 

Das Highlight

Algesheimers grösstes Highlight während der vergangenen zwölf Forschungsjahre war – der Universitäre Forschungsschwerpunkt selbst. «Wir haben von der Universität Zürich eine Unterstützung und ein Vertrauen erlebt, die ich grossartig finde. Finanzielle Mittel für eine zwölfjährige Forschungszeit zu erhalten, um das zu entwickeln, woran man glaubt, und dabei völlige Forschungs- und Lehrfreiheit zu geniessen, ist schlicht grossartig und für einen Forscher das grösste Geschenk, das er bekommen kann.» 

Wie es weitergeht

Das im UFSP «Soziale Netzwerke» erarbeitete Wissen wollen die UFSP-Forschenden in Zukunft nutzen, um Vertreter:innen aus Politik und Wirtschaft konkrete Massnahmen für einen sozialen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit aufzuzeigen. 

Blockchain Center
Eine Ausgründung aus dem UFSP «Soziale Netzwerke» ist das 2019 lancierte UZH Blockchain Center. Dessen Direktor Prof. Dr. Claudio J. Tessone war zuvor Assistenzprofessor in Algesheimers Forschungsgruppe. Am UZH Blockchain Center forschen 65 UZH-Forscher:innen sowie internationale Spitzenwissenschaftler:innen aus der Blockchain Community in den Bereichen Informatik, Wirtschaft, Finanzen, Recht, Regulierung, Kryptographie und digitale Kunst.

E-Learning-Modul
Die am UFSP entwickelte neue Methode zur Erforschung von sozialem Wandel hat seit letztem Herbst Eingang in die Lehre gefunden. Die Vermittlung des theoretischen und praktischen Wissens dazu erfolgt online auf der E-Learning-Plattform OLAT der Universität Zürich und offline im Klassenraum mit den Lehrpersonen. 

Auch nach Abschluss des UFSP «Soziale Netzwerke» wird die neue Methode weiterentwickelt. «Schön wäre es, unseren Ansatz als Standardmethode in den Wirtschaftswissenschaften zu etablieren», sagt Algesheimer. 

The Change Lab
Aktuell treibt Algesheimer an der UZH die Gründung eines «Kompetenzzentrums zu sozialem Wandel» an und ist hierfür auf Sponsorensuche. In seinem Vorschlag skizziert er einen integrativen Ansatz zur Untersuchung und Bewältigung des sozialen Wandels, der direkt auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen abzielt. Die Initiative will zur Schaffung nachhaltiger, integrativer und funktionaler Gesellschaften beitragen – unter anderem durch die Bereitstellung umsetzbarer Erkenntnisse für politische Entscheidungsträger.