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Er erinnert sich genau: Als Konfirmand musste er etwas mit seinem Pfarrer besprechen. An der Tür des Pfarrhauses wurde ihm gesagt, der Pfarrer sei im Garten. Da ging der junge Thomas um das stattliche Haus herum. Dort sah er ihn unter einem Baum sitzend konzentriert und in ruhiger Gelassenheit ein dickes Buch lesen. Das will ich auch, durchfuhr es ihn. Und tatsächlich, der erwachsene Thomas Schlag nickt, so ist es dann auch gekommen.
Man kann ihn sich gut vorstellen, den Professor für Praktische Theologie, wie er zuhause im Garten des Familienhauses im baden-württembergischen Calw sitzt, denkt und liest. Mit etwas Fantasie spiegelt sich der Pfarrgarten der Konfirmationszeit auch in den Bogenfenstern des Theologischen Seminars in Zürich, wo er arbeitet. Vor den Fenstern des Büros breiten sich auf dem Grossmünsterplatz die Äste einer Akazie aus, und wenn man die Fensterflügel des Gebäudes in Richtung Kreuzgang öffnet, hört man zwischen dem Schwatz der Touristen das Tschilpen der Spatzen und das stille Plätschern eines Brunnens. Im Innern des Büros allerdings wandelt sich die Idylle: Da stapeln sich Bücher, Papiere und Ordner, wohl ähnlich wie im Kopf des Theologen und Forschers, wo sich Gedanken, Ideen und Projekte ansammeln, verweben und vernetzen.
Thomas Schlag ist Leiter des neuen Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) «Digital Religion(s)». Begeistert und besonnen, als sässe er im Garten oder im Kreuzgang – erzählt er von diesem, wie er sagt, einzigartigen, grossartigen Vorhaben. «Ich bin selber gespannt, wohin die Reise geht», sagt der Theologe. Wir wissen nicht, wo die Digitalisierung in der religiösen Praxis in zehn, zwölf Jahren steht. Der Wandel in der digitalen Gesellschaft hat jedenfalls schon jetzt eine unglaubliche Dynamik auch in religiöser Hinsicht ausgelöst.
«Wir kommen den Phänomenen kaum hinterher», sagt Schlag. Manchmal erscheint ihm seine Forschungsarbeit wie «Schmetterlinge fangen». Man jagt nach dem einen und entdeckt dabei ein Dutzend andere, noch aufregendere Exemplare. «Mit dem UFSP betreiben wir Zukunftsforschung im besten Sinn», sagt Schlag begeistert. Zunächst soll erfasst werden, wie sich religiöse Inhalte, Prägungen, Gesten in den digitalen Medien ausdrücken und was sie bewirken. Denn nicht zuletzt die Pandemie hat den digitalen Wandel auch im religiösen Alltag beschleunigt. Das reicht von twitternden Pfarrpersonen über Seelsorge per Chat bis hin zu religiösen Influencern, Foren und Initiativen, die sich mit Glaubensfragen beschäftigen. Vermutlich wird nicht alles dauerhaft bleiben. Doch unverkennbar sind viele sinnvolle Innovationen entstanden.
Und die Hemmschwelle, den Computer mit dem Gottesdienst in Verbindung zu bringen, ist deutlich gesunken – etwa wenn bei einem Trauergottesdienst der Verwandte aus Übersee zugeschaltet wird.
Doch ist es nicht auch so, dass die Digitalisierung die Säkularisierung vorantreibt? Der Theologe nickt erst. Das könnte man vermuten. Doch Schlag stellt das Gegenteil fest. Einerseits sinken zwar die Zahlen der Kirchenmitglieder, andererseits beobachtet der Forscher ein breites Spektrum an religiösen Aktivitäten im Netz. Und so spricht er weniger von einer Säkularisierung als von einer De-Institutionalisierung. Die Religion im Netz entkoppelt sich je länger, je mehr von den grossen Institutionen und findet eigenständige, freie Ausdrucksformen, durchaus auch in neuem gemeinschaftlichem Gewand wie in Chat-Gruppen oder Gebetsforen.
«Die religiöse Landschaft wird nicht mehr durch die Grossgebirge der beiden Volkskirchen bestimmt, sie bleiben zwar, doch um sie herum bilden sich neue, vielfältige Wanderwege», prophezeit Schlag, «in Zukunft wird es wohl weniger die klassische Kerngemeinde sein, die auf die grossen Berge hinaufwandert, eher wird eine Vielzahl an Gemeinschaften für ihre religiöse Praxis ganz individuelle Wege beschreiten.» Die Suche nach Transzendenz aber sei auch online ungebrochen.
Wie hält es Schlag eigentlich selber mit der digitalen religiösen Praxis? Er bevorzugt die direkte Begegnung in der Gemeinschaft. Er schätzt die sinnliche Atmosphäre in der Kirche. Doch es gibt durchaus in der digitalen Welt Momente, die ihn berühren können, das kann zum Beispiel ein gehaltvolles Wort zum Tag sein, das ein Kollege twittert, oder die digitalen Gottesdienste der deutschen Gemeinde in Edinburgh, der die Familie Schlag seit einem Auslandsjahr in Schottland verbunden geblieben ist.
Was macht Glauben und Religion aus angesichts dieser unendlichen Vielfalt? Draussen fliegen die Spatzen auf. Der Brunnen plätschert leise. Schlag denkt nach. Für ihn sind es die Fragen nach der menschlichen Existenz: Woher komme ich, wozu bin ich da und wohin geht die Reise? «Wenn Menschen versuchen, diese drei Fragen in den Blick zu nehmen und sich dabei an bestimmten Glaubensüberlieferungen, Texten, Traditionen oder Symbolen, gleich welcher konfessionellen Richtung, orientieren, dann ist das für mich ein Ausdruck von religiöser Praxis», meint Schlag.
Tatsächlich treibt das Netz allerlei bunte Blüten: «Pfarrer aus Plastik», «Holy Shit», «Anders Amen» sind nur einige, von den Landeskirchen unterstützte Initiativen, die sich in Sachen Religion im Netz tummeln. Da wird auf lockere und zugleich oft gehaltvolle Art über die Themen gebloggt, gevloggt und gechattet, die die Gegenwart umtreiben: etwa Generationengap, Frauen in der Kirche, gleichgeschlechtliche Liebe und vieles mehr. Darüber hinaus gibt es eine unendliche Vielfalt an Varianten religiöser Influencerinnen und Influencer über alle konfessionellen Schranken hinweg.
Sind das die Missionare der digitalen Welt? Zumindest gibt es eine Gruppe von Akteuren, die das Netz für ihre eigene Form von religiöser Kommunikation nutzen. «Das sind keineswegs engstirnige Überzeugungstäter», erklärt Schlag, «Influencer präsentieren sich vielmehr authentisch mit dem, was sie glauben und was ihnen
wichtig ist. Für kirchliche Verhältnisse haben sie teilweise grosse Followerzahlen.» In einem Teilprojekt des UFSP wird untersucht, was da gerade am Entstehen ist.
Bei so viel Vielfalt fallen auch manche gewohnten Schranken. Hinter all dem stellt sich die grosse Frage nach der Autorität. «Mit der Digitalisierung verändert sich die Deutungsmacht: Es gibt kein Copyright mehr. Kontrollinstanzen der Religionsgemeinschaften können praktisch nicht mehr eingreifen, wenn etwas aus dem Ruder läuft», erklärt Schlag. So können sich mehr oder weniger ungehemmt auch radikales Gedankengut, religiöse Intoleranz, Menschenfeindliches oder Verleumderisches ausbreiten.
Gemeinsam mit Forschenden der Computerlinguistik und der Rechtswissenschaft versucht der Theologe in einem weiteren Forschungsprojekt, dem Phänomen «Hatespeech» näherzukommen. «Mein Wunsch wäre es, eines Tages der Politik und den Webanbietern Kriterien an die Hand zu geben, um rechtlich gegen ‹Hatespeech› und religiöse Radikalisierung vorzugehen», sagt Schlag. Auch wenn er und sein Team mit dem UFSP «Digital Religion(s)» noch am Anfang stehen, so sieht er die grossen theologischen Fragen, die der digitale Wandel aufwirft, schon auf sich zukommen. Fragen zur künstlichen Intelligenz etwa. Manches wird schon deutlich – eine im Silicon Valley entwickelte KI-Software stellt etwa den Gedanken vom ewigen Leben auf den Kopf.
Eine Firma bietet an, nach dem Ableben den Hinterbliebenen den eigenen Avatar zu hinterlassen – der sich selbständig weiterentwickelt. Doch, so fragt der Theologe, was wird aus der christlichen Jenseitsvorstellung, wenn mein Avatar mich überlebt? Neulich habe er mit seinen erwachsenen Söhnen über diese Frage diskutiert, erzählt Schlag. Der jüngere habe ihn auf ein echtes Problem hingewiesen: «Wenn dich nach drei, vielleicht vier Generationen keiner mehr kennt, wer schaltet dich dann ab?» Und so wappnet sich Thomas Schlag für die theologischen Fragen der Zukunft – besonnen, mit scharfem Verstand, vielleicht nicht unter dem Baum im Pfarrgarten, aber mit Blick nach draussen auf die Akazie auf dem belebten Grossmünsterplatz und nach drinnen in den traditionsreichen Kreuzgang mit dem Brunnen in der Mitte.
Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin, Ausgabe Nr. 2, 2022.