Auf dem Seil tanzen
Wir brauchen Stress – nicht immer, aber immer wieder. Morgens vor dem Aufstehen etwa steigt der Cortisolspiegel in unserem Körper jeweils an. Und er schnellt in die Höhe, wenn wir später aufs Tram rennen müssen, weil wir wieder einmal spät dran sind. Das Stresshormon Cortisol mobilisiert die Energie, die wir brauchen, um im Alltag leistungsfähig zu sein. Wenn wir dann nach dem Spurt aufs Tram gemütlich ins Büro zuckeln, fährt der Körper die Produktion von Stresshormonen wieder runter und wir entspannen uns.
Anders sieht es aus, wenn wir chronisch gestresst sind. Dann rennen wir quasi ununterbrochen aufs Tram. Der Körper läuft angetrieben durch Stresshormone, zu denen neben Cortisol auch Adrenalin und Noradrenalin gehören, ständig auf Hochtouren. Oder belastende Gedanken drehen sich wie ein nimmermüdes Karussell unaufhörlich im Kopf. Die notwendigen Entspannungspausen bleiben dagegen aus. Das geht im schlimmsten Fall so lange, bis wir total ausgebrannt sind und zusammenbrechen – das ist dann der viel zitierte Burnout. So weit kommt es trotz Dauerstress längst nicht immer. Tatsache ist aber, dass sich in der Schweiz viele Menschen unter Druck fühlen. Gemäss der in diesem Jahr veröffentlichen, repräsentativen Health-Forecast-Studie des Krankenversicherers Sanitas ist rund ein Viertel der Schweizerinnen und Schweizer oft gestresst – bei den unter 30-Jährigen sind es sogar 40 Prozent.
Viele fühlen sich unter Druck
Die Stresswahrnehmung in der Bevölkerung ist seit der Corona-Pandemie deutlich gestiegen, sind sich auch Birgit Kleim, Isabelle Mansuy und Christian Ruff einig. Die Gründe dafür sind vielfältig. «Die Pandemie hat uns für die eigene Verletzlichkeit sensibilisiert», sagt Psychologin Birgit Kleim, die gemeinsam mit der Neurobiologin Isabelle Mansuy das Flagship-Forschungsprojekt STRESS leitet, «und Corona hat dazu geführt, dass das Sprechen über Stress und andere psychische Belastungen enttabuisiert wurde.» Aktuell kommt hinzu, dass die unsichere Weltlage – Kriege, Naturkatastrophen und Klimawandel – viele, vor allem auch jüngere Menschen beschäftigt und belastet. «Sehr belastend sind auch häusliche Gewalt und psychische und physische Misshandlungen, die in allen sozialen Schichten vorkommen», betont Isabelle Mansuy.
Das Forschungsprojekt STRESS, das im Rahmen der Initiative Hochschulmedizin Zürich lanciert wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, interdisziplinär die biologischen, neurologischen und psychischen Mechanismen von Stress besser zu verstehen. In einem nächsten Schritt wollen die daran beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfinden, was Menschen resilienter, also widerstandsfähiger gegen Stress macht.
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Chronischer Stress kann unseren ganzen Körper negativ beeinflussen – Gehirn, Immunsystem, Herz-Kreislauf, Blutbild, Knochenqualität und Mikrobiom.
Das Projekt verbindet Grundlagenforschung mit der Entwicklung von praktischen Anwendungen – etwa verbesserten Diagnoseverfahren, Trainingsapps oder neuen Therapiekonzepten, die uns helfen sollen, besser mit Stress umzugehen, oder noch besser, Dauerstress erst gar nicht aufkommen zu lassen. «Wir wollen Interventionen ermöglichen, bevor Probleme erst entstehen und positive Dinge – Lebensfreude, Vitalität und Energie – stärken», sagt Neuroökonom Christian Ruff. Denn Dauerstress kann gravierende Folgen für unsere Gesundheit haben – er kann unter anderem zu Depressionen, Angststörungen oder Herz-Kreislauf-Problemen führen.
Negative Situationen neu bewerten
Die Wissenschaft weiss bereits einiges darüber, was Menschen widerstandsfähiger gegen Stress macht. Dazu gehören eine optimistische Lebenseinstellung, die Fähigkeit, seine Emotionen zu regulieren, das Gefühl, selbstwirksam zu sein, die Kompetenz, Probleme zu lösen, und das Vermögen, auch negativen Situationen zuweilen etwas Positives abzugewinnen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von «positive reappraisal», also von einer positiven Neubewertung.
Konkret bedeutet das beispielsweise: Wenn ich das Tram, auf das ich am Morgen gerannt bin, verpasse und es deshalb nicht rechtzeitig an die Sitzung schaffe, laufe ich Gefahr, mich dem aufkommenden Stress auszuliefern. Ich schaue dann nervös und im Minutentakt auf die Uhr, raufe mir die Haare und rege mich darüber auf, dass der öffentliche Verkehr in Zürich so langsam ist. Besser ist dagegen, die Verspätung zu akzeptieren und die Zeit zu nutzen, um etwas Sinnvolles zu machen: zum Beispiel schon einmal die E-Mails checken, die geplante Präsentation nochmals durchgehen, Ideen für das laufende Projekt sammeln oder einfach gut durchatmen und die milde Morgenluft geniessen im Wissen darum, dass die Welt wegen einer Verspätung nicht untergeht. Das ist dann eben die positive Neubewertung – und eine gelungene Stressbewältigung.
Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, ist ein zentraler Faktor für Resilienz und einen positiven Umgang mit Stress. Dies hat die Forschung an der UZH gezeigt. «Resiliente Menschen zeichnen sich durch kognitive und emotionale Flexibilität aus», sagt Neurowissenschaftler Christian Ruff, «also durch das Vermögen, sich in Stressmomenten situativ optimal anzupassen und sich danach möglichst rasch wieder ins Lot zu bringen.» Wie Seiltänzerinnen und -tänzer gelingt es ihnen, sich möglichst gut im Gleichgewicht zu halten, Unsicherheiten wirkungsvoll auszubalancieren und so sich auf dem Seil zu halten, ohne abzustürzen. «Viele denken, Resilienz sei ein bestimmtes Merkmal einer Person oder es gebe gar eine Resilienz-Gen. Das ist aber unwahrscheinlich – wir gehen eher davon aus, dass es ebendiese Anpassungsfähigkeit in Stressmomenten ist», sagt auch Birgit Kleim. Wie sich diese Fähigkeit im Hirn manifestiert und welche Folgen das hat, haben Kleim und Ruff zusammen experimentell erforscht.
Resilienztraining mit Neurofeedback
In einer Studie, die sie gemeinsam mit dem Neuroökonomen Marcus Grüschow gemacht haben, haben Kleim und Ruff Medizinstudierende der UZH im Praktikumshalbjahr auf der Spital-Notaufnahme unter die Lupe genommen. «Man muss sich das so vorstellen: Die Studierenden büffeln zuerst zwei Jahre lang Theorie, dann stehen sie plötzlich im Operationssaal der Notfallstation, wo ein schwerverletzter Patient liegt», sagt Christian Ruff, «das ist ein massiver Stress.» Die Forschenden wollten nun herausfinden, wie gut Studierende mit diesem Stress umgehen können und inwiefern dies durch Merkmale der Informationsverarbeitung im Gehirn erklärt oder sogar vorhergesagt werden kann. Deshalb machten sie vor dem Praktikumsstart mit den Versuchsteilnehmenden einen Stresstest im Labor. Während die angehenden Ärztinnen und Ärzte in einem funktionellen Magnetresonanztomografen lagen, der die Aktivitäten in ihrem Hirn aufzeichnete, wurden sie mit teils widersprüchlichen emotionalen Informationen konfrontiert, die sie verarbeiten mussten. Interessiert haben sich Kleim, Grüschow und Ruff dabei für Aktivitäten in einer ganz bestimmten Region unseres Hirns – dem im Hirnstamm liegenden Locus-Coeruleus-Norepinephrin-System (LC-NE).
«Wenn wir in einer Belastungssituation oder in einem Konflikt sind, schüttet dieses System den Neurotransmitter Noradrenalin aus», sagt Christian Ruff, «das ist sozusagen unser körpereigenes Koffein.» Evolutionsbiologisch betrachtet stellt Noradrenalin unseren Körper auf Kampf ein: Es weitet die Pupillen, erhöht Blutdruck und Herzfrequenz, es schärft unsere Wahrnehmung und unsere Aufmerksamkeit. Wie stark das LC-NE-System auf eine Belastung reagiert, ist aber von Person zu Person unterschiedlich. Die Studie zeigte, dass Studierende, bei denen das LC-NE-System beim Test im Labor intensiver und länger anhaltend auf Konflikte reagierte, nach dem Praktikum auf der Notfallstation häufiger über Angst- und Depressionssymptome berichteten. Im Gegensatz dazu hatten ihre Kolleginnen und Kollegen, deren LC-NE-System flexibler auf die im Hirnscanner simulierte Konfliktsituation reagierten, weniger Mühe damit, längerfristig mit dem Stress klarzukommen. «Wo sich das Gehirn flexibler an die Anforderungen anpassen und regulieren konnte, ist die Resilienz stärker ausgeprägt», sagt Neuroökonom Ruff. Damit haben die Forschenden ein mögliches biologisches Mass gefunden, mit dem sich die Stressresilienz einer Person schon vor einer möglichen Krise erkennen lässt – aber nicht nur das. Die Erkenntnis aus dem Labor eröffnet auch neue Perspektiven für ein praktisches Training, das die Widerstandsfähigkeit gegen Stress unterstützt.
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Resiliente Menschen zeichnen sich durch kognitive und emotionale Flexibilität aus – das Vermögen, sich in Stressmomenten optimal anzupassen und sich danach rasch wieder ins Lot zu bringen.
«Denn über die Veränderungen der Pupillen, die mehr oder weniger gross sein können, lässt sich von aussen erkennen, wie stark das Erregungssystem in unserem Hirn aktiviert ist», sagt Psychologin Birgit Kleim. Das lässt sich für ein Neurofeedback-Training nutzen, bei dem Personen spielerisch lernen, das Stress-Erregungssystem in ihrem Hirn selbst zu regulieren und damit ihre Resilienz zu fördern. Dazu wurden aus dem Flagship-Projekt heraus bereits zwei Start-up-Firmen gegründet, die sich zum Ziel gesetzt haben, solche Trainingstools zur Marktreife weiterzuentwickeln.
Aus dem Alltag lernen
Das ist erst der Anfang. Künftig wollen die Forschenden ihre Flexibilitätshypothese mit weiteren Experimenten im Labor untermauern, die beispielsweise stressige soziale Interaktionen, finanzielle Entscheide oder unsichere Wahrnehmungssituationen simulieren. «Uns interessiert beispielsweise, ob Versuchspersonen unter Stress Unsicherheit ganz anders verarbeiten als im Normalzustand», sagt Christian Ruff, «wir vermuten, dass Personen, die prinzipiell flexibel reagieren, dies auch im Ausnahmezustand tun und entsprechend resilienter sind.» Ob das tatsächlich so ist, wird sich zeigen.
Die Wissenschaftler:innen der UZH untersuchen die Rolle, die flexibles Verhalten bei der Stressbewältigung spielt, nicht nur im Labor, sondern zusammen mit dem Resilienzforscher George Bonanno von der New Yorker Columbia University auch im Alltag. «Mit Hilfe von Smartphones können wir am Leben unserer Versuchspersonen teilnehmen», sagt Birgit Kleim, «wir fragen sie regelmässig nach Stresssituationen und wie sie darauf reagiert haben.»
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Viele denken, Resilienz sei ein bestimmtes Merkmal einer Person oder es gebe gar ein Resilienz-Gen. Das ist aber unwahrscheinlich.
Und die Forschenden erfassen, wie es den Studienteilnehmenden nach einem stressigen Erlebnis später im Tagesverlauf oder am nächsten Tag geht. Auf diese Weise lernen die Wissenschaftler:innen aus Zürich und New York aus dem praktischen Leben, was Menschen gegen Stress stark macht. Die Daten und Analysen von solchen positiven Bewältigungsstrategien aus dem richtigen Leben sollen später in Verhaltenstrainings einfliessen, in denen Menschen individuell, je nach ihren persönlichen Herausforderungen und Lebensumständen, neue Strategien im Umgang mit Stress einüben können.
Denn objektiven Stress gibt es nicht: Wie Belastungen wahrgenommen werden, hängt stark von der einzelnen Person ab – von ihrer Biologie, aber auch von ihrer Biografie und ihrem Umfeld. Entsprechend individuell sollten auch Trainingsapps oder verhaltenstherapeutische Interventionen sein, die die Resilienz fördern. Um im Bild zu bleiben: Das Seiltanzen muss jeder und jede für sich selbst lernen.
Menschen und Mäuse
«Geht es um Stress und Resilienz, spielt die Selbstwahrnehmung eine zentrale Rolle», sagt Isabelle Mansuy, «Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf die gleichen Ereignisse.» Ganz verschieden sind auch die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen, die permanenter Stress hat. Genau diese problematischen Folgen erforscht die Neuroepigenetikerin. «Chronischer Stress kann unseren ganzen Körper negativ beeinflussen – Gehirn, Immunsystem, Herz-Kreislauf, Blutbild, Knochenqualität und Mikrobiom», sagt Mansuy.
Denn, so zeigt die Forschung der Neurobiologin, Dauerstress verändert unsere epigenetische Signatur – also die biologische «Steuerungssoftware» unserer Genome und damit die Art und Weise, wie Gene aktiviert oder gehemmt werden. Für ihre Studien macht Isabelle Mansuy vor allem Laborexperimente mit Mäusen. Und sie vergleicht ihre Resultate mit Humanstudien. «Menschen und Mäuse sind zwar sehr unterschiedliche Lebewesen», sagt die Neuroepigenetikerin, «in vielem sind sie sich aber auch ähnlich – so gibt es etwa für Stress und Resilienz viele biologische Marker, die vergleichbar sind.»
Mansuys wissenschaftliche Arbeit im Mausmodell macht unter anderem deutlich, welch verheerende Folgen andauernder Stress in der frühen Kindheit langfristig haben kann. Diesen können beispielsweise instabile sozialen Beziehungen, Missbrauch und Vernachlässigung, aber auch physische und verbale Gewalt auslösen. «Die gesundheitlichen Folgen schwieriger Lebensumstände – etwa Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder problematisches Risikoverhalten – zeigen sich oft viel später im Leben», sagt Isabelle Mansuy, «viele Kinder bleiben deshalb undiagnostiziert.»
Stressfolgen können vererbt werden
Die Neuroepigenetikerin hat auch herausgefunden, dass die negativen gesundheitlichen Konsequenzen von chronischem Stress bei Mäusen nicht nur die direkt Betroffenen zu spüren kommen, sondern auch ihre Nachkommen. Denn die stressbedingten, epigenetischen Veränderungen können vererbt werden. Damit wird auch das Risiko, im Verlauf des Lebens an bestimmten Leiden zu erkranken, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Genauso könnte aber auch die Resilienz gegenüber bestimmten Krankheiten epigenetisch vererbt werden. Denn lange nicht alle Menschen, die Dauerstress ausgesetzt sind oder waren, entwickeln später auch stressbedingte Krankheiten.
«Die epigenetische Vererbung von Stresseffekten ist ein ganz neues Konzept, das in der Wissenschaft noch wenig untersucht ist», sagt Mansuy, die zu den Pionier:innen auf diesem Forschungsgebiet gehört. In Zukunft will die Neurobiologin mehr über die epigenetischen Mechanismen in Erfahrungen bringen. Und sie will weiter analysieren, welche Rolle sie bei den langfristigen negativen Folgen von massiven Stresserfahrungen spielen, aber auch beim Aufbau von Widerstandsfähigkeit gegen sie. Eines der Ziele ist die Prävention. So werden zurzeit diagnostische Bluttests erforscht, mit denen sich Risiken für stressbedingte Folgeerkrankungen frühzeitig erkennen und minimieren lassen. Und so fügt die Forschung der Neuroepigenetikerin einen weiteren wichtigen Puzzlestein zum umfassenden Bild hinzu, das die interdisziplinäre Forschung zu Stress und Resilienz zeichnet. Und sie gibt neue Impulse, um praktische Anwendungen zu entwickeln, mit denen unsere Widerstandsfähigkeit gezielt und individuell gefördert werden kann. Damit wir besser im Gleichgewicht bleiben.