«Demokratien sterben schleichend»
Belén González, Sie forschen zur internationalen Sicherheit, zu Frieden und Konflikten. Wir erleben gerade Kriege in der Ukraine und in Gaza, eine US-Regierung, die mit Unterstützung der Nationalgarde gegen Migrant:innen und Demonstrierende im eigenen Land vorgeht. Gewalt, hat man den Eindruck, wird wieder vermehrt genutzt, um politischen Probleme zu lösen. Ist das so?
Belén González: Aus wissenschaftlicher Sicht unterscheiden sich diese drei Fälle deutlich voneinander. Beim Krieg in der Ukraine handelt es sich um einen zwischenstaatlichen und in Gaza um eine Art innerstaatlichen Konflikt. In den USA könnte es zu einer Phase staatlicher Repression kommen. Was alle drei Fälle gemeinsam haben, ist, dass politische Akteure Gewalt als Mittel zur Durchsetzung oder Erreichung ihrer politischen Ziele sehen. Wir wissen aus der Forschung, dass das Anwenden politischer Gewalt in den meisten Fällen einer kaltblütigen Kosten-Nutzen-Rechnung folgt.
Wie sieht diese Kosten-Nutzen-Rechnung aus?
González: Regierungen, egal ob in einer Diktatur oder in einer Demokratie, wägen grundsätzlich ab, ob und wie weit sich der Einsatz von Gewalt für sie lohnt. Sie wenden Gewalt dann nicht an, wenn die Kosten, beispielsweise durch drohende Sanktionen oder eine militärische Intervention, grösser sind als der zu erwartende Nutzen, etwa die Neutralisierung von politischen Gegnern. Gleichzeitig wissen wir, dass Demokratien im Schnitt weniger gewalttätig sind als Autokratien. Das liegt an zwei elementaren Kontrollmechanismen, die die Anwendung von Gewalt für demokratische Regierungen politisch kostspielig und damit unattraktiv machen. Der erste Mechanismus ist die vertikale Kontrolle, die durch freie und faire Wahlen ausgeübt wird. In Demokratien riskieren Regierungen, die Gewalt anwenden oder repressiv sind, abgewählt zu werden. Der zweite Mechanismus ist die horizontale Kontrolle. Sie basiert auf der Unabhängigkeit der Gerichte. Regierungsvertreterinnen und -vertreter müssen damit rechnen, dass sie vor Gericht gestellt und für ihre Taten bestraft werden.
Autokratien neigen deshalb eher dazu, Gewalt anzuwenden?
González: Exakt. Autokratien kennen per Definition weder freie Wahlen noch unabhängige Gerichte. Damit entfallen Kontroll- und Rechenschaftsmechanismen, über die die Anwendung von politischer Gewalt sanktioniert werden kann. Das macht es erheblich wahrscheinlicher, dass Autokraten Gewalt nutzen und zum Beispiel unliebsame Oppositionelle oder Regimekritiker:innen attackieren. Natürlich finden in Autokratien, wie etwa in Russland, auch Wahlen statt, aber diese sind weder fair noch frei – sie werden dementsprechend von den amtierenden Regierungen nicht verloren und entfalten damit keine Kontrollwirkung. Das Gleiche gilt für die Gerichte, die nicht mehr unabhängig sind, wie in Polen unter der PiS-Regierung. Politikwissenschaftlich lassen sich Regierungen grundsätzlich auf einem Spektrum platzieren, das von in sich geschlossenen Autokratien auf der einen Seite und liberalen, offenen Demokratien auf der anderen reicht. Wichtig ist, zu verstehen, dass es dazwischen viele Schattierungen und Graustufen gibt. Länder können ihre Position auf diesem Spektrum verschieben. Das können wir im Fall von Ungarn oder der Türkei beobachten. Unter der Führung von Viktor Orban und Recep Tayyip Erdogan sind die beiden Länder in den letzten Jahren autokratischer geworden – dies macht die Anwendung politischer Gewalt wahrscheinlicher. Anders als früher, als Demokratien noch durch einen grossen Knall, oft durch einen Putsch des Militärs, kollabiert sind, sterben Demokratien heute schleichend.
Weshalb wenden Regierungen Gewalt an?
González: Wir wissen aus unzähligen wissenschaftlichen Studien, dass Regierungen Gewalt anwenden, wenn sie sich politisch fundamental bedroht fühlen. Dies ist zum Beispiel nach einem Terroranschlag der Fall oder wenn es zu einem bewaffneten Aufstand kommt. Politische Gewalt und staatliche Repressionen dienen dann dem Ziel, den anderen Akteur, also im konkreten Fall die Terrororganisation oder die Revolutionsbewegung, zu neutralisieren oder zumindest zu schwächen. Dies gilt übrigens nicht nur für Autokratien, sondern auch für Demokratien. In extremen Situationen können Demokratien genauso gewalttätig sein wie Autokratien.
Wie beispielsweise in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001?
González: Das ist in der Tat ein interessantes Beispiel. Wissenschaftlich lassen sich verschiedene Formen von Repression unterscheiden. Zum einen gibt es Verletzungen der bürgerlichen Freiheiten. Dies umfasst Einschränkungen des Versammlungsrechts oder der freien Meinungsäusserung – eine, sagen wir, mildere Form staatlicher Repression. Wie wir heute wissen, haben die USA als Reaktion auf die Anschläge des 11. September ein riesiges, transnationales Überwachungsprogramm aufgebaut. Zum anderen gibt es deutlich schärfere Formen staatlicher Repression. Diese fundamentaleren Menschenrechtsverletzungen, die wir auch als eine «Politik der eisernen Faust» bezeichnen können, beinhalten die physische Verletzung oder gar Zerstörung von Personen. Denken Sie etwa an das Folterprogramm und die extralegalen Tötungen durch Drohnen, die die USA nach dem 11. September betrieben haben.
Zurück zu unserer Anfangsfrage: Ist es ein Trend, dass politische Gewalt häufiger eingesetzt wird?
González: Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Natürlich haben wir das Gefühl, dass die Gewalt zunimmt, weil die angesprochenen Konflikte geografisch näher gerückt sind oder weil sie in den Medien stärker thematisiert werden. Aber ich würde davor warnen, hier von einem Trend zu sprechen. Leider ist die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Zielen so alt wie die Menschheit selbst. Die Daten aus der Konfliktforschung der letzten Jahrzehnte lassen eher auf einen gegenteiligen Trend schliessen – nämlich dass die Anwendung politischer Gewalt global sinkt. Dies schliesst natürlich nicht aus, dass sich das in Zukunft wieder ändern kann.
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Für die regelbasierte internationale Ordnung haben die USA eine herausragende Rolle gespielt. Dies hat sich aber seit dem 11. September 2001 geändert.
Wir haben auch den Eindruck, dass die internationale Ordnung heute weniger stabil ist als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Teilen Sie diese Einschätzung?
González: Nein, das bezweifle ich. Wir sollten nicht vergessen, dass grundlegende Bestandteile der regelbasierten Ordnung auf einem Opt-in-Prinzip basieren. Das heisst, Staaten entscheiden sich freiwillig, ein gewisses Verhalten zu unterlassen. Ob sie Verträge und Abkommen zum Schutz von Menschenrechten oder zur Unverletzlichkeit von Grenzen ratifizieren und sich daran halten, ist eine ganz andere Frage. Darüber hinaus haben sich Staaten auch immer wieder entschieden, gewissen Abkommen gar nicht erst beizutreten. Letztlich hat das Völkerrecht nur bedingten Einfluss darauf, wie sich Länder verhalten. Im Kern handelt es sich um Werte, für oder gegen die sich Staaten entscheiden.
Die internationale Ordnung war in der Vergangenheit schon fragil, sagen Sie – hat sich da im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten nichts verändert?
González: Natürlich haben die USA als Wächter der regelbasierten Ordnung für eine gewisse Stabilität gesorgt, gerade nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dass sich dies nun mit dem Isolationismus der Trump-Regierung ändert, ist nicht weiter erstaunlich, aber aus europäischer Sicht natürlich nicht weniger bedenklich. Die regelbasierte Ordnung braucht engagierte Akteure, die sie durchsetzen.
Russland, Israel und auch die USA scheinen sich nicht mehr um internationale Regeln und Normen zu kümmern. Wie wirkt sich das aus?
González: Für die regelbasierte, manche sagen auch liberale, Ordnung haben die USA eine herausragende Rolle gespielt. Dies hat sich aber seit dem 11. September 2001 geändert. Im Zuge des amerikanischen «War on Terror» haben sich andere Staaten zu fragen begonnen, ob gewisse Normen, etwa das Respektieren der Menschenrechte, wirklich eingehalten werden müssen. Dementsprechend haben die USA hier einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der die Glaubwürdigkeit der regelbasierten Ordnung nachhaltig geschädigt hat.
Bleiben wir bei den USA. Sie forschen auch zu internen Konflikten und dem Einsatz von Gewalt im Innern. Was wir derzeit beobachten, ist, dass die Trump-Regierung Gewalt gegen Zivilisten anwendet, um ihre politische Agenda durchzusetzen. Wird diese Kosten-Nutzen-Rechnung aufgehen, etwa mit Blick auf die Zwischenwahlen für den US-Kongress im nächsten Jahr?
González: Das ist schwer zu sagen. Zwar können wir in den USA, wie in anderen etablierten Demokratien, eine Erosion demokratischer Institutionen beobachten, aber die USA sind Stand heute immer noch eine Demokratie. Wir haben zuvor über die elementaren Kontrollmechanismen demokratischer Regimes gesprochen. Wenn die Bürger:innen mit dem Vorgehen der Regierung nicht einverstanden sind, sollte sich dies auch in den nächsten Wahlergebnissen niederschlagen. Gleichzeitig versucht die jetzige Regierung natürlich alles, um ihre Macht auch langfristig zu sichern. Und sie verfolgt mit dem «Projekt 2025» eine Agenda, die für die liberalen Elemente der US-Demokratie toxisch sind.
Trump spricht offen von einer dritten Amtszeit. Erwarten Sie, dass er an der Macht bleiben wird wie sein Vorbild Putin?
González: Ich denke, dass es sich gerade in diesen Zeiten lohnt, nicht jede Aussage eines populistischen Regierungschefs für bare Münze zu nehmen. Wir sollten nicht vergessen, dass Russland erst nach dem Ende des Kalten Kriegs eine Demokratie wurde. Putin kam 2000 an die Macht und begann trotz grosser Hoffnungen das politische System umzubauen. Russland war aber zu diesem Zeitpunkt noch keine etablierte Demokratie mit sehr starken Institutionen und resilienten politischen Kontrollmechanismen – dies ist im Fall der USA deutlich anders. Die USA sind eine etablierte Demokratie mit robuster Zivilgesellschaft und einer freien Presse. Gleichzeitig sehen wir natürlich, wie die Trump-Regierung die demokratischen Institutionen biegt und teilweise auch zu brechen versucht. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass die Erosion der Demokratie so weit fortschreitet, dass die Beschränkung der Amtszeit des US-Präsidenten ausser Kraft gesetzt wird. Auch der amerikanische Vizepräsident JD Vance und Aussenminister Marco Rubio dürften dies wohl mit Blick auf ihre eigenen politischen Ambitionen nicht ohne weiteres akzeptieren.
Ist die Demokratie in den USA bedroht?
González: Wir sollten nicht der Versuchung unterliegen und in einem binären Demokratie-Autokratie-Schema denken. Ich möchte noch einmal auf das bereits erwähnte Spektrum politischer Regimes zurückkommen. Wir wissen aus der Forschung, dass nur sehr wenige Länder, wie etwa Dänemark, Estland, die Schweiz und Norwegen, dem Idealtyp einer liberalen Demokratie entsprechen. Die meisten anderen Länder der Welt sind von diesem Idealtyp weiter entfernt. Das bedeutet aber nicht, dass sie zwingend Autokratien oder Diktaturen sind. Sofern die Länder freie und faire Wahlen abhalten, handelt es sich um elektorale Demokratien, die aber zum Teil auch durch Verletzungen von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten auffallen. Kurzum, es gibt qualitative Unterschiede zwischen Demokratien. Wir wissen aus der Forschung, dass etablierte Demokratien mit robusten Institutionen, einer freien Presse und einer aktiven Zivilgesellschaft relativ langsam erodieren. Das heisst aber nicht, dass eine Erosion ausgeschlossen ist; und das gilt natürlich auch für das politische System der Vereinigten Staaten.
Zu unserem letzten Thema: In den eingangs erwähnten Konflikten wird Gewalt eingesetzt, um politische Konflikte zu lösen. Funktioniert das?
González: Die Forschung zeigt, dass politische Gewalt auf lange Sicht tatsächlich zumeist kontraproduktiv ist. Dies liegt daran, dass die Anwendung von Gewalt sowohl innerstaatlich wie auf internationaler Ebene Widerstand hervorruft. Das Problem ist, dass sich Regierungen, insbesondere wenn sie sich bedroht fühlen, oft auf kurzfristige politische Ziele konzentrieren und dabei die längerfristigen negativen Konsequenzen ausser Acht lassen. Ausserdem lässt sich nicht ausschliessen, dass sich Politiker:innen bei der Anwendung von Gewalt schlichtweg verkalkulieren.
Glauben Sie, dass die Politik wieder vorhersehbarer und weniger populistisch werden könnte?
González: Ich stelle grundsätzlich eine zunehmende Nostalgie fest, die sich in westlichen Gesellschaften breitmacht. Viele scheinen zu denken, dass während des Kalten Krieges die Dinge geordneter und damit stabiler waren. Es gab zwei Supermächte, zwei ideologische Pole, die sich vorhersehbar verhielten. Allerdings glaube ich nicht, dass es sich für die jeweiligen Akteure zu jener Zeit so angefühlt hat. Das war keine ruhige Zeit. Denken Sie nur an die Kubakrise, den Vietnamkrieg, die Revolution im Iran und die unzähligen Stellvertreterkriege auf dem afrikanischen und dem lateinamerikanischen Kontinent. Wir müssen akzeptieren, dass wir in dynamischen Zeiten leben und es in Demokratien zu Stimmungsänderungen kommen kann, die auch sehr heftig sein können. Mit Blick auf die zunehmende ökonomische Ungleichheit und Polarisierung innerhalb der westlichen Gesellschaften, die einen autoritären Populismus füttern, sehe ich nicht, dass wir uns in nächster Zeit auf mehr Stabilität einstellen können.
Die aktuellen Konflikte zeigen, dass die bestehende Ordnung in Frage gestellt und vielleicht neu arrangiert wird. Können Sie sich vorstellen, dass am Ende so etwas wie eine Klärung eintritt, es eine neue Ordnung gibt, die wieder stabil ist?
González: Die entscheidende Frage ist, wer diese neue, stabile Ordnung herstellt. Als Bürger:innen freiheitlicher Demokratien müssen wir uns bewusst sein, dass sich derzeit autoritäre, illiberale Staaten und politische Kräfte aufmachen, eine neue globale Ordnung zu schaffen. Dies lässt sich anhand von wissenschaftlichen Daten belegen. Denken Sie an das so genannte «eiserne Dreieck» bestehend aus China, Russland und Iran. Es ist davon auszugehen, dass eine neue stabile Ordnung gleichzeitig autoritär, illiberal und nicht regelgebunden wäre – und das sollte für alle Demokratien Ansporn sein, die bestehende Ordnung als attraktives Gegenmodell zu verteidigen.