Klarer Verstand und spitze Feder
Die Primarschullehrerin hatte ihr einst ins Freundschaftsbuch geschrieben: «hat ein starkes Durchsetzungsvermögen». Das ist auch noch im Erwachsenenleben so. Die Klimaanwältin Cordelia Bähr ist hartnäckig und erfolgreich. Dass sie ihren Willen durchsetzen kann, hat sie gerade wieder bewiesen. Sie ist der juristische Kopf hinter den Klimaseniorinnen Schweiz, die am Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schweiz klagten, das Land tue zu wenig gegen den Klimawandel. Das EGMR hat die Klage mit einem wegweisenden Urteil gutgeheissen. Das hat weltweit für Wirbel gesorgt.
Die 44-jährige Anwältin wirkt gefasst. Sie sei kein extrovertierter Mensch, sagt Cordelia Bähr von sich. Der öffentliche Rummel nach dem Entscheid des EGMR war ihr schon fast zu viel gewesen, aber natürlich gehört das zum Job. Lieber arbeitet sie im Stillen und brütet über Gesetzesparagraphen, bis sie eine Lösung gefunden hat. Bähr ist eine ruhige Schafferin. Sie sei gut organisiert, ihre Rechtsschriften seien stets akkurat strukturiert. «Vielleicht habe ich das von meiner Oma», sagt sie mit einem Lächeln, «sie war Mathematikerin.»
Rechtsanwältin statt Managerin
Cordelia Bähr sitzt mit einem Cappuccino in einer ruhigen Ecke in einem Café. Das blonde Haar hochgesteckt, der Blick wach. Weshalb eigentlich Rechtswissenschaft? «Als Kind habe ich Topmanagerin als Berufswunsch angegeben», erzählt Bähr mit ihrem etwas abgeschliffenen St.Galler Dialekt. Aber als sie dann mit der Matura im Sack ein Praktikum bei einer Bank machen wollte, kam sie schon nach dem Bewerbungsgespräch davon ab. Ihr wurde klar: Das Wirtschaftsbusiness passte nicht zu ihr. «Das Klima dort war eisig. Später, als ich bei einer Wirtschaftskanzlei arbeitete, merkte ich, dass es für mich zu wenig interessant ist, wenn es ‹nur› ums Geld geht», erzählt sie.
Argumentieren konnte sie aber immer schon gut. Sie schmunzelt. Das habe sie beim Debattieren mit der Mutter gelernt. Bähr ist in der Stadt St.Gallen aufgewachsen. Der Vater arbeitete im Bildungsbereich, die Mutter war Coiffeuse. Als Cordelia Bähr sieben Jahre alt war, liessen sich die Eltern scheiden. Sowohl die neue Lebenspartnerin des Vaters wie auch der Lebenspartner der Mutter waren Juristen. Die Rechtswissenschaft lag also durchaus schon in der Luft.
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Der Europäische Gerichtshof hat bestätigt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist.
Allmählich füllt sich das Café. Es könnten angehende Juristinnen und Juristen sein, die hierherkommen, um auf die nächste Prüfung zu büffeln, befindet sich das Lokal doch in unmittelbarer Nähe des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich. Cordelia Bähr ging an diesem Institut einst ein und aus. 2006 hatte sie das Rechtsstudium in Zürich mit dem Lizentiat abgeschlossen. Für den Master of Laws L.L.M. hat sie es – nach einigen beruflichen Stationen bei der Jugendanwaltschaft Wil, am Bezirksgericht des Kantons Zürich und bei einer Zürcher Wirtschaftskanzlei – an die renommierte London School of Economics and Political Science (LSE) geschafft. «Das war eine prägende Zeit», erzählt Bähr begeistert. Die spannenden Inputs und Diskussionen hätten ihr «den Ärmel reingezogen», erinnert sie sich. Und ihr Herz begann so richtig für das Klimarecht zu schlagen.
Al Gores unbequeme Wahrheit
Es hatte allerdings schon früher Klick gemacht. «Das war 2006, als der Film des ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore über die globale Erderwärmung, ‹An Inconvenient Truth› herausgekommen ist», sagt Bähr. Der Film habe ihr die Augen geöffnet. Ihr wurde klar, dass da einige grössere Probleme auf die Menschheit zukommen.
Doch was tun? Cordelia Bähr hätte Klimaaktivistin werden können. Sie wurde Anwältin. Klimaschutz habe nichts mit Idealismus zu tun, sagt sie. «Angesichts der naturwissenschaftlichen Fakten ist es notwendig, dass man Klimaschutz betreibt.» Ihr Rechtsstudium gab ihr Werkzeuge in die Hände, mit denen sie aktiv werden konnte.
Von «Nature» und «Time» ausgezeichnet
In der Klimarechtsszene wurde schon länger darüber nachgedacht, wie man sich mit rechtlichen Mitteln gegen Verfehlungen in der Klimapolitik wehren könnte. Mit der erfolgreichen Klage der Schweizer Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist Cordelia Bähr ein Coup gelungen, der zeigt, was möglich ist. Dafür wurde sie unlängst von der Wissenschaftszeitschrift «Nature» als eine von zehn Personen ausgezeichnet, die 2024 die Wissenschaft weltweit massgeblich mitgeprägt haben: «Die Anwältin, die die Schweiz wegen der globalen Erwärmung verklagte und gewann», titelte «Nature». Im April 2025 zog das «Time»-Magazin nach und kürte Bähr zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt.
Helen Keller, Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und einst selbst Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sagt im «Nature»-Artikel über Bähr, sie habe den Fall derart perfekt vorbereitet, dass es für das Gericht schwierig gewesen wäre, gegen die Klimaseniorinnen zu entscheiden. Bähr nickt. Sie hat auch diesen Fall sehr durchdacht aufgezogen. Inspiriert war sie von einem Fall in den Niederlanden. Dort hatte die Umweltorganisation Urgenda die Regierung erfolgreich verklagt mit dem Argument, sie sei wegen ihrer verfehlten Klimapolitik der Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung nicht nachgekommen.
Staatliche Schutzpflicht
Bähr nippt am Cappuccino und erzählt, wie es zur Klage der Klimaseniorinnen kam. Greenpeace kontaktierte ihre damalige Chefin mit der Anfrage, ob es einen Rechtsweg gebe, um die Schweiz zu einer verantwortungsvollen Klimapolitik zu bewegen. Darauf machte sich Bähr an die Arbeit. Bei ihrer Recherche stiess auf eine Studie zum Hitzesommer 2003, als in Europa 70000 Menschen wegen der Hitze starben. Überproportional betroffen waren ältere Frauen.
«Da wurde mir klar: Ältere Frauen könnten die strengen Anforderungen, die an Klagen in der Schweiz gestellt werden, erfüllen», erzählt Bähr. Sie sind beim Klimawandel eine besonders vulnerable Gruppe, die die staatliche Schutzpflicht der Schweiz einfordern konnte. Denn der Staat ist verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger vor Tod und Krankheit zu schützen. Im Fall des Klimawandels bedeutet dies, dass die Schweiz es versäumt hatte, die Gesetzgebung anzupassen, um die gesundheitsbedrohenden Folgen des Klimawandels zu verhindern. Damit hatte er seine Schutzpflicht verletzt. So lautete das juristische Argument von Bährs Anklageschrift.
Die grösste juristische Herausforderung sei allerdings die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gewesen. «In der Schweiz gibt es keine gerichtliche Instanz, die überprüft, ob Bundesgesetze verfassungswidrig sind», erklärt die Juristin. Der Rechtsweg der Klimaseniorinnen führte schliesslich zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und Strassburg gab ihnen recht. Die Schweiz wurde gerügt, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt und dem Pariser Klimaabkommen nicht nachgekommen ist, das sie ratifiziert hat.
Weltweites Aufsehen
Das Urteil erregte weltweit grosses Aufsehen. Die Musterschülerin Schweiz hatte einen Rüffel erhalten. Doch das Urteil des EGMR geht weit über die schweizerische Aufregung hinaus. Es ist ein Präzedenzfall. «Der Europäische Gerichtshof hat bestätigt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist», betont die 44-jährige Juristin, «das kann nun in allen 46 Staaten des Europarats mit Rechtsmitteln eingefordert werden.»
In der Kanzlei in Zürich, wo Bähr Partnerin ist, gibt es auch kleinere Mandate. Die Juristin beschäftigt sich etwa mit Streitigkeiten beim Gewässerschutz und anderen Umweltrechtsfällen, oder sie schreibt Rechtsschriften für Initiativen und Gutachten. Ein grösserer Fall, mit dem sie sich gerade beschäftigt, ist eine Zivilklage gegen Holcim, wo sie Einwohner:innen der indonesischen Insel Pari vertritt, die den Baustoffkonzern für Klimaschäden in ihrem Lebensraum verantwortlich machen und dafür Entschädigung fordern.
Cordelia Bähr ist eine gefragte Klimaanwältin. Sie hat viel zu tun. Auch die Klage der Klimaseniorinnen ist noch nicht ausgestanden. Die Schweiz hat bei der Europäischen Menschenrechtskommission beantragt, den Fall zu schliessen, weil sie das Urteil als nicht gerechtfertigt und bereits umgesetzt erachtet. Bald tagt das Ministerkomitee des Europarats, das die Umsetzung des Urteils überwacht. Bähr hat die Stellungnahme der Klimaseniorinnen schon eingereicht.
Neben ihrer Arbeit als Klimaanwältin führe sie ein ganz normales Familienleben mit Mann und Kind, erzählt Bähr. Dazu gehören das gemeinsamem Nachtessen mit dem siebenjährigen Sohn oder der Ausflug am Wochenende, um auf andere Gedanken zu kommen. Bevor die Anwältin dann am Montagmorgen am Schreibtisch wieder mit spitzer Feder und scharfem Verstand die nächste Rechtsschrift verfasst.