«Antibiotika-Resistenzen sind ein globales Problem wie der Klimawandel»
Herr Seeger, was macht antimikrobielle Resistenzen (AMR) zu einer globalen Herausforderung?
Markus Seeger: Zu lange haben wir dieselben Antibiotika eingesetzt, und noch dazu unsachgemäss – überdosiert, falsch indiziert oder ohne Verschreibung. Die Folge davon ist Resistenzbildung, ein ganz natürlicher Prozess, den man höchstens verlangsamen, aber nicht mehr aufhalten kann – und der auch nicht vor Staatsgrenzen Halt macht. Die Tatsache, dass wir in der Antibiotikaforschung und -entwicklung eine drastische Lücke haben, macht AMR darüber hinaus zu einem Jahrhundertproblem. Ähnlich wie der Klimawandel ist AMR ein schleichendes, weltweites Problem, das eine globale Antwort verlangt. Besonders betroffen sind Länder im globalen Süden, insbesondere auch Indien. Gleichzeitig fehlt es dort oft an Regulierung, etwa beim Verkauf von Antibiotika.
Das klingt dramatisch. Können Sie diese Parallele zum Klimawandel näher erklären?
Seeger: Beide Probleme sind menschengemacht und entwickeln sich unaufhaltsam. Und bei beiden denkt man oft: «Was bringt es schon, wenn wir alleine handeln?». Diese Logik ist fatal. Denn auch wenn die Schweiz als kleines Land wenig Einfluss auf die globale Statistik hat: Wir haben Know-how, Ressourcen und einen hohen Standard in der Forschung und bei Public Health. Wenn wir unsere Ressourcen und unser Know-how gezielt dort einsetzen, wo sie am meisten bewirken – etwa in Ländern wie Indien, wo die AMR-Last hoch ist –, dann können wir wirklich etwas bewegen. Aber diese globale Denkweise ist noch nicht tief genug verankert. Eine grosse verpasste Chance, wie ich finde.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Hebel im Umgang mit AMR?
Seeger: Ich sehe vier grosse Problembereiche. Erstens: der Missbrauch von Antibiotika. In vielen Ländern sind sie immer noch rezeptfrei erhältlich und billig. Aber auch bei uns in der Schweiz und in Europa ist der Antibiotikaeinsatz in einigen Bereichen immer noch recht hoch, so beispielsweise in der Kälbermast, aber auch in Spitälern. Da gibt es weiterhin Verbesserungspotential.
Ein zweiter Aspekt: Das Monitoring ist kompliziert. Wir wissen oft nicht genau, wo Antibiotika-Resistenzen entstehen, auf welchen Routen sie sich verbreiten und wie sie dann letztlich eine Infektion in einem Patienten auslösen. Wo findet die Übertragung statt, im Spital? Über die Ernährung? Von Tier zu Mensch? Das ist eine typische One-Health-Problematik. Dieser Zusammenhang wird bisher noch zu wenig verstanden und es ist sehr komplex, ihn zu erforschen.
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Wenn wir unsere Ressourcen und unser Know-how gezielt dort einsetzen, wo sie am meisten bewirken – etwa in Ländern wie Indien, wo die AMR-Last hoch ist –, dann können wir wirklich etwas bewegen.
In Ländern wie Indien besteht zudem das Problem, dass dieses Monitoring kaum stattfindet. Teilweise fehlt das Geld für die Sequenzierung von Bakterien-Genomen. Und teilweise werden, wie wir im Austausch mit unseren indischen Kolleg:innen gelernt haben, genetische Daten von resistenten Keimen zwar erhoben – aber dann von den staatlichen Gesundheitsbehörden nicht geteilt, aus Angst vor Reputationsverlust. Dabei wäre genau dieser Datenaustausch essenziell, um AMR wirksam zu bekämpfen.
Und letztlich beschäftigt uns die Forschungslücke sehr. Die grossen Pharmakonzerne haben sich während mehrerer Jahrzehnte aus der Antibiotikaforschung und -entwicklung zurückgezogen, weil sich damit im Vergleich zu anderen Medikamenten nicht genug Geld verdienen liess. Das hat das Innovationsökosystem regelrecht kollabieren lassen. Jetzt fehlen uns neue Wirkstoffe – mitten in der Krise.
In vielen Ländern ist AMR schon Realität, nicht nur Prognose. Wie weit ist die Krise bereits fortgeschritten?
Seeger: In Ländern wie Russland, Indien oder auch Teilen Südeuropas sind wir schon mitten in der post-antibiotischen Ära. Dort treten Infektionen auf, gegen die kaum noch ein Medikament hilft. In der Schweiz ist die Lage zwar besser, aber auch hier stellt sich nicht die Frage, ob das Problem kommt, sondern wann.
Sie sind Biochemiker. Wie engagieren Sie sich persönlich in diesem Thema?
Seeger: Ich bin Grundlagenforscher und beschäftige mich mit den Mechanismen von Resistenzen. Zusammen mit meinem Forschungsteam untersuchen wir Transportmechanismen in Bakterien – mit dem Ziel zu verstehen, wie Antibiotika in die Zelle gelangen oder wieder hinausbefördert werden. Dieses Wissen ist für die Entwicklung von neuen Antibiotika essenziell. Darüber hinaus interessieren wir uns für neue Diagnostikmethoden, die auch in einfachen Laboren funktionieren, sowie für sogenannte «Precision Antibiotics», also Wirkstoffe, die gezielt nur gegen bestimmte Bakterien wirken. Und ich arbeite gern an Schnittstellen: zwischen Grundlagenforschung, angewandter Wissenschaft und internationaler Kooperation.
Welche Rolle spielt der internationale Austausch für Ihre Arbeit – und darüber hinaus?
Seeger: Eine enorme. In der Grundlagenforschung tauschen wir uns regelmässig mit Laboren auf der ganzen Welt aus, bei internationalen Konferenzen etwa. Aber wirkliche Veränderung geschieht dort, wo man über die Fachgrenzen hinausdenkt. Genau das haben wir im Indo-Swiss AMR Innovation Dialogue versucht, der im Mai zum zweiten Mal stattgefunden hat. Diesmal waren wir die Gastgeber. Wir haben Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen zusammengebracht – Forschende, Behörden, Industrie, Kliniker – aus Indien und der Schweiz.
Beim Indo-Swiss AMR Innovation Dialogue handelt es sich um ein neues Format. Was war der konkrete Anlass dafür?
Seeger: Die Idee ist einem Zufall geschuldet, einem Gedankenaustausch mit einer indischen Forscherin auf LinkedIn, die ich von unserer gemeinsamen Zeit in Cambridge (UK) kannte. Sie arbeitete mittlerweile für Swissnex India und beriet Schweizer Firmen, welche in Indien Fuss fassen möchten. Und sie brachte mich mit Lena Robra in Kontakt, die bei Swissnex India für Wissenschaftskollaborationen zwischen der Schweiz und Indien zuständig ist. Daraus entwickelte sich die Vision eines vertieften bilateralen Dialogs zu AMR. Das erste Treffen fand 2023 in Bengaluru statt, das zweite vor Kurzem in Zürich. Swissnex war dabei ein unschätzbarer Partner: Sie kannten die richtigen Leute, öffneten Türen, organisierten mit. Ohne ihr Netzwerk wäre der Austausch nicht machbar gewesen.
Im Vergleich zu den üblichen internationalen Konferenzen, was war das Besondere an diesem Austausch?
Seeger: Wir waren etwa 50 ausgewählte Expertinnen und Experten, zur Hälfte aus Indien und zur Hälfte aus der Schweiz, die alle Bereiche abgedeckt haben: Forschung, medizinische Praxis, Unternehmen, NGOs und staatliche Akteure. Es gab kurze Impulsvorträge, sehr viel Raum für informellen Austausch und interaktive Workshops. Wir haben als Mitorganisatoren gespürt: innerhalb der Schweizer Mikrobiologie-Community besteht ein grosses Interesse an dieser Zusammenarbeit und diesem bilateralen Austausch. Unser Programm war breit aufgestellt – von Universitäten über Start-ups bis zur Pharmaindustrie. Es ging uns darum zu zeigen, was hier in der Schweiz an verschiedenen Standorten, nicht nur an der Universität Zürich, läuft.
Haben die beiden Treffen in Indien und in der Schweiz schon zu neuen Kooperationen geführt?
Seeger: Ja, der Austausch hat sich intensiviert. So besteht eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Medizinische Mikrobiologie der UZH und dem Christian Medical College (CMC) Vellore in Indien zur Entdeckung und Überwachung neuer Antibiotikaresistenzen. Zudem erwarten wir bald neue Fördercalls für bilaterale Projekte. Für diese sind wir bestens vorbereitet. Die durch den AMR Dialogue entstandene Vertrauensbasis hilft enorm – man kennt sich, hat gemeinsam gearbeitet, kann schnell loslegen.
Was sind Ihrer Meinung nach die Erfolgsfaktoren für solche multidisziplinäre Dialog-Formate?
Seeger: Zuerst: Mut, etwas Neues zu starten. Dann: gute Netzwerke – und dafür war Swissnex absolut entscheidend. Drittens: Augenhöhe. Wir sind nicht nach Indien gereist, um «Hilfe zu bringen», sondern um gemeinsam zu lernen. Die indischen Partner waren sehr offen, selbstkritisch und lösungsorientiert. Das war keine diplomatische Fassade, sondern ein ehrlicher Austausch.
Was war für Sie persönlich der bewegendste Moment des AMR Dialogue in Zürich?
Seeger: Ehrlich? Es war wie eine Hochzeit zu organisieren – viel Aufwand und viel Verantwortung. Aber als alle Teilnehmer auch noch bis zur letzten Session vollkonzentriert dabei waren, spürte ich: Das war mehr als eine Konferenz. Da sind echte Verbindungen entstanden – manche fast freundschaftlich. Diese Woche hat Menschen zusammengeschweisst, die gemeinsam etwas verändern wollen. Und genau darum geht es.