Ethik im Mainstream der Medizin verankern
Schon im ersten Semester lernen Medizinstudierende der Universität Zürich, dass Medizin und Ethik eng verknüpft sind. Nach einer Einführungsvorlesung reflektieren sie im Kurs «GEM - Grundlagen der Ethik in der Medizin» persönliche Erfahrungen, die sie selbst im Gesundheitswesen gemacht haben - als Patient:in, als Familienmitglied, Freund:in oder auch als Sitzwache oder Praktikant:in. Sie diskutieren moralische Dilemmata und üben das Argumentieren in Situationen, in denen es selten einfache Antworten gibt.
«Mainstreaming Ethics» nennt Nikola Biller-Andorno die treibende Idee dahinter: «Ich sage allen Erstsemestrigen: In eurer künftigen Arbeit steckt überall Ethik drin! Im klinischen Alltag werden sie immer wieder gefordert sein, kritisch zu denken – und das in hierarchisch geprägten Situationen und unter Zeitdruck.»
Digitaler Werkzeugkasten für die ethische Analyse
Als Biller-Andorno 2005 den neu geschaffenen Lehrstuhl an der Medizinischen Fakultät antrat und kurze Zeit später als Gründungsdirektorin die Leitung des Instituts für Biomedizinische Ethik (IBME) übernahm, stand das problemorientierte Lernen (POL) im Zentrum. In Kleingruppen von neun bis zehn Studierenden sollten die angehenden Medizinerinnen und Mediziner selbstständig die zentralen Konzepte der Ethik entdecken. «Das Betreuungsverhältnis war ein grosser Luxus und so konnten alle mitdiskutieren», erinnert sie sich. «Aber irgendwann merkten wir, dass gute Diskussionen schwer sind, wenn die Grundlagen fehlen.»
Daraufhin entwickelte das Team am IBME ein digitales Lern-Tool – eine Art digitaler Werkzeugkasten für die ethische Analyse – das den Studierenden den Einstieg in ethische Fragestellungen erleichtern sollte. «Wir wollten, dass sie Begriffe sauber definieren, ihre eigene Perspektive reflektieren können und lernen zu unterscheiden, was in einem Fallbericht reine Fakten sind und wo moralische Wertungen mitschwingen», erklärt Biller-Andorno.
Essay schreiben statt Multiple Choice
Auch der Werkzeugkasten ist bereits wieder in Überarbeitung. Angesichts der aktuellen Herausforderungen durch fake news, Filterblasen und Echokammern sollen die Analyse von Argumenten und ihre Erprobung im Diskurs besonderes Gewicht erhalten. «Ähnlich wie in der Anatomie helfen wir, Strukturen zu erkennen und einzuordnen, nur dass es sich bei uns nicht um Gefässe und Nerven, sondern um Argumente handelt», sagt Biller-Andorno. Dabei gehe es auch darum zu lernen, wie man in einem Gespräch, in dem keine Einigkeit besteht, Konsens oder zumindest Verständnis herstellt – eine zentrale Fähigkeit in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft.
Ähnlich wie in der Anatomie helfen wir, Strukturen zu erkennen und einzuordnen, nur dass es sich bei uns nicht um Gefässe und Nerven, sondern um Argumente handelt.
Ein überraschendes Element des Kurses ist das Essayschreiben. Statt wie so oft im Medizinstudium Erlerntes per Multiple Choice zu testen, reflektieren die Erstsemester literarisch eine Situation, die sie erlebt haben – und zwar auf persönlicher Ebene, als Betroffene, nicht als medizinische Fachperson. «Dieser Perspektivenwechsel ist wichtig, um nachzufühlen, wie sehr medizinische Entscheidungen bei Menschen und ihren Familien oft noch über Jahre nachhallen», erklärt Biller-Andorno. Um den Essays mehr Gewicht zu verleihen, werden die besten Leistungen mit einem Preis ausgezeichnet.
Premio Pusterla 2025
Gewinnerinnen und Jury-Mitglieder bei der Verleihung des Premio Pusterla (v. l. n. r.): Tobias Eichinger (Oberassistent am IBME), Beatrice Beck Schimmer (Direktorin Universitäre Medizin Zürich), Aileen Löblein (3. Platz), Mara Nöthiger (2. Platz), Sophia Borges (1. Platz), Nikola Biller-Andorno, Anna Elsner (Professorin für französische Kulturwissenschaften und Medical Humanities an der Universität St. Gallen), Christoph Meier (Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich) und Paul Hoff (Psychiater und Philosoph). (Bild: UZH/Frank Brüderli)
Seit 2018 vergibt das Center for Medical Humanities am IBME jährlich den Essay-Preis «Premio Pusterla» an Medizinstudierende des ersten Semesters. Der Preis würdigt den besten Essay, der ethische Probleme und Konfliktsituationen in der ärztlichen Praxis und Klinik in literarisch ansprechender Form verarbeitet und darstellt. Bei einer öffentlichen Preisverleihung werden die drei Essays, die es in die Endrunde geschafft haben, ausgezeichnet und der beste Text wird vorgetragen.
- In diesem Jahr überzeugte Sophia Borges mit dem eindrücklichen Text «Zwischen Hoffnung und Herzschlag». (PDF, 52 KB) Sie versetzt sich darin in die Situation ihrer Eltern, denen zu einer Abtreibung geraten worden war – desjenigen Babys, das dann als junge Frau ein Medizinstudium beginnen sollte.
- Auf dem zweiten Platz landete Mara Nöthiger mit dem Essay «Endstation» (PDF, 118 KB), in dem sie die Interaktion eines dementen Patienten mit seinem Enkel reflektiert.
- Das Thema «moral distress» – die moralische Zerrissenheit, welche das medizinische Personal in einem von Effizienzzwängen geprägten Gesundheitssystem erlebt – behandelte Aileen Löblein in «Keine Zeit für Menschlichkeit» (PDF, 82 KB). Sie wurde dafür mit dem dritten Platz ausgezeichnet.
Die Preisträger:innen des Digital Media Award, eingerahmt von Tobias Eichinger und Nikola Biller-Andorno: Der erste Platz ging an Fabian Noel Egli (3. v. r.). (Bild: UZH/Frank Brüderli)
2025 wurde – in Reaktion auf die rasche Entwicklung generativer künstlicher Intelligenz –erstmals auch ein Digital Media Award ausgeschrieben, an dem sich Medizinstudierende schweizweit beteiligen konnten. Ausgezeichnet wurden Bilder oder Kurzvideos, die medizinethische Fragen behandeln. Fabian Noel Egli (UZH/Universität St. Gallen) gewann mit seinem Beitrag «Between Time and Living». Darin kritisierte er einen rein technologieorientierten Ansatz und plädierte für eine medizinische Entscheidungsfindung, die Werte, menschliche Beziehungen und die Linderung von Leiden berücksichtigt.
Ethik erfahrbar machen
Auch in anderen Modulen setzt das IBME auf kreative Lernformen. Mit Unterstützung der Universitären Lehrförderung (ULF) wurden mehrere Formate realisiert: etwa die Graphic Novel «The Outbreak», die ethische Dilemmata in Pandemiezeiten mit Studierenden inszeniert und graphisch umgesetzt hat, oder das digitale Rollenspiel uMed: Your Choice. In diesem dialogbasierten Spiel schlüpfen Studierende in die Rolle einer Assistenzärztin oder eines Assistenzarztes und müssen Entscheidungen treffen, für die es selten ein klares Richtig oder Falsch gibt. «Man sammelt Punkte für Integrität oder Effizienz – und bewertet am Ende auch die Institution: Ist das ein Ort, an dem ich arbeiten will?», sagt Biller-Andorno. So können Studierende alternative Verhaltensweisen in komplexen Situationen durchspielen und erfahren, wie eng Ethik mit der Realität des klinischen Alltags verwoben ist.
Bei steigenden Studierendenzahlen und kürzeren Spitalaufenthalten brauchen wir neue Wege, um realitätsnah zu lehren.
Ein weiteres Projekt basiert auf dipex.ch, eine vom IBME gehostete Plattform, welche Erfahrungsberichte von Patient:innen zugänglich macht. Das inhaltliche Spektrum reicht von Demenz und Covid-19 über chronische Schmerzen und psychische Gesundheit bis hin zu Schwangerschaft und pränataler Diagnostik. Mit den Berichten sollen mittels Künstlicher Intelligenz virtuelle Patient:innen trainiert werden, die dann den Studierenden für das Training kommunikativer Aufgaben wie der gemeinsamen Entscheidungsfindung zur Verfügung stehen: «Das kann das Bedside-Teaching – das Lernen am Spitalbett mit echten Patient:innen – nicht ersetzen», betont Biller-Andorno, «aber bei steigenden Studierendenzahlen und kürzeren Spitalaufenthalten brauchen wir neue Wege, um realitätsnah zu lehren.»
Hochaktuelle Zukunftsfragen
Im Mantelstudium bietet das Institut zudem Wahlmodule wie «Zukunft der Medizin» oder «Ethik und Recht in der Medizin» an. Dort werden Themen wie Künstliche Intelligenz, personalisierte Medizin oder Umweltethik aufgegriffen, die das Gesundheitswesen in Zukunft intensiv beschäftigen werden. Dies erfolgt meist im Co-Teaching, mit Spezialist:innen aus den jeweiligen Fachgebieten, z.B. der Genetik oder der Transplantationsmedizin.
Rund 50 Dozierende sind an der Lehre beteiligt – von erfahrenen Kliniker:innen bis zu Nachwuchsforschenden. Wichtig ist Biller-Andorno, dass die Studierenden früh einen Bezug zur Praxis bekommen. «Ethik darf sich nicht im Seminarraum erschöpfen. Sie soll helfen, sich in der realen Kliniksituation zu orientieren.»
Für Biller-Andorno ist innovative Lehre eine Herzensangelegenheit: «Ich möchte es den Studierenden leicht machen, die Begeisterung fürs Fach zu spüren, die ich selbst empfinde», sagt sie. «Wenn sie am Ende verstehen, dass Ethik kein Zusatz ist, sondern Teil jeder guten medizinischen Entscheidung – dann haben wir unser Ziel erreicht.»