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Die Hoffnungsträger der Medizin wachsen in einem kahlen Raum, vollgestellt mit Brutschränken, Mikroskopen und Bildschirmen. Melanie Generali öffnet den auf 37 Grad temperierten Schrank, zieht eine transparente Kulturschale hervor und legt sie unter das Mikroskop. Auf dem Bildschirm erscheinen die wachsenden Zellen in den Vertiefungen der Schale, das feine Gewebe bildet eine transparente Schicht und pulsiert regelmässig. Was sich hier dem staunenden Betrachter zeigt, sind noch junge, aber bereits schlagende Herzmuskelzellen, gezüchtet aus Blutzellen eines Spenders. Sie liegen bereit für weitere Untersuchungen von Forschenden am Institut. Zellen der gleichen Art sollen dereinst Herzgewebe von Infarktpatient:innen ersetzen.
Wir befinden uns im Stammzellenraum des Instituts für Regenerative Medizin (IREM) der UZH hoch über der Wagistrasse in Schlieren. Hier betreibt Generali mit ihrem Team die «iPSC Core Facility», ein Dienstleistungszentrum zur Herstellung von Stammzellen, das auf der revolutionären Technologie des Japaners Shinya Yamanaka beruht. Der heute 62-jährige Mediziner von der Universität Kyoto hat für seine Erfindung 2012 den Nobelpreis erhalten. Durch die Zugabe von vier genetischen Faktoren gelang es ihm 2006, Hautzellen in einen Urzustand zurückzuprogrammieren, der embryonalen Zellen gleicht. Diese Zellen werden als induzierte pluripotente Stammzellen oder iPSC bezeichnet. Sie lassen sich in weiteren Schritten wieder in verschiedene Zelltypen, zum Beispiel Herzmuskel- oder Nervenzellen, differenzieren.
Was dem Japaner damit gelang, versetzt den Arzt und IREM-Direktor Simon Hoerstrup, Professor für Regenerative Medizin, noch immer in Begeisterung: «Yamanaka hat mit einem Schlag zwei fundamentale Probleme gelöst.» Einerseits das ethische Dilemma der Herkunft embryonaler Stammzellen, die zuvor nur um den Preis zerstörter menschlicher Embryonen zu haben waren. Dank Yamanakas Methode der induzierten Stammzellen entfiel diese Problematik. Andererseits löste seine Methode das Problem der Gewebeverträglichkeit, denn herkömmliche embryonale Stammzellen werden bei der Transplantation vom Immunsystem des Patienten in der Regel abgestossen. Induzierte Stammzellen hingegen werden massgeschneidert für jede Patientin und jeden Patienten aus dem eigenen Gewebe hergestellt und gewöhnlich vom Empfänger toleriert.
Man könnte also erwarten, dass zwanzig Jahre nach der Entdeckung des Verfahrens und zwölf Jahre nach dem Nobelpreis induzierte Stammzellen zum klinischen Alltag gehören. Doch davon kann keine Rede sein. Nach ersten Versuchen starten im Ausland zwar immer mehr klinische Studien, die sich auf Augen-, Hirn- und Herzerkrankungen konzentrieren. Aber von klinischer Routine ist man noch weit entfernt.
Am weitesten fortgeschritten ist eine Studie mit Parkinsonpatienten von Jun Takahashi von der Universität Kyoto. Der Neurochirurg und Direktor des Center for iPS Cell Research und Application (CiRA) hat ersten Patienten induzierte Nervenzellen direkt ins Gehirn transplantiert. Sie sollen dort kranke Nervenzellen ersetzen, die kein Dopamin mehr bilden und als Auslöser der Erkrankung gelten. Studienresultate sind noch nicht bekannt. Angesprochen auf diese lange Entwicklungszeit sagt Simon Hoerstrup: «In der Biologie erweisen sich die Vorgänge oft als komplizierter als anfänglich gedacht.» Melanie Generali meint dazu, im ersten Hype sei wohl übertrieben worden, aber Hoffnungsträger seien die iPSC-Zellen noch immer.
Ein Grund für die Verzögerungen liegt in den vier Yamanaka-Faktoren, die sich als komplexe und zweischneidige Werkzeuge herausgestellt haben. Es handelt sich bei diesen Faktoren um die genetischen Bauanleitungen für vier regulatorische Enzyme mit den kryptischen Kürzeln Oct4, Sox2, c-Myc und Klf4. Eine ihrer Funktionen besteht darin, ruhende Gene zu aktivieren, womit sie die differenzierten Zellen in einen quasi-embryonalen Zustand zurückversetzen. Sie können aber auch im Genom ruhende Krebsgene aktivieren oder die Zellen zur unkontrollierten Teilung anregen. Seit Yamanakas Entdeckung wurde deshalb nach Verfahren gesucht, diese unerwünschten Effekte zu verhindern respektive zu minimieren. Eine Möglichkeit besteht darin, die Faktoren nur vorübergehend und ausserhalb des Zellkerns zu aktivieren, statt sie in das Genom im Kern zu integrieren. Möglich ist dies dank einem Trägervirus namens Sendai, einem Verfahren, das auch im IREM genutzt wird. Eine andere Problematik besteht im Entwicklungszustand der Zellen. Simon Hoerstrup umschreibt es so: Die induzierte Stammzelle eines älteren Patienten sei nicht per se ein Jungbrunnen, da sie trotz Reprogrammierung die ursprüngliche Zellmaschinerie des Patienten behält.
Dennoch gibt sich Simon Hoerstrup überzeugt, dass auch diese biologischen Prozesse unter Kontrolle zu kriegen sind. Die Forschenden würden die zugrundeliegenden Vorgänge immer besser verstehen und könnten die Risiken genauer abschätzen. «Ich habe keinen Zweifel, dass wir in Zukunft klinisch sichere induzierte Stammzellen herstellen können.» Aber die aufgeworfenen Fragen bedeuten, dass die Prüfung und Qualitätskontrolle der Zellen oberste Priorität haben müssen. Das gilt ganz besonders für ihren Einsatz im Rahmen klinischer Versuche an Menschen. Diese stehen hierzulande noch nicht unmittelbar an, im Unterschied etwa zu Japan oder Deutschland. Auf einem anderen Blatt stehen die Kosten. Heute beruhen alle Schritte im Herstellungsprozess der induzierten Stammzellen noch auf aufwändiger Handarbeit und generieren entsprechende Kosten, die Hunderttausende von Franken pro Zellprobe betragen können.
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Ich habe keinen Zweifel, dass wir in Zukunft klinisch sichere induzierte Stammzellen herstellen können.
Am IREM arbeiten die Forschenden am Ersatz von Herz- und Nervengewebe. Herzschwäche gehört zu den häufigsten chronischen Erkrankungen. Kommt es aufgrund einer Durchblutungsstörung der Herzkranzgefässe zu einem leichteren Herzinfarkt, stirbt das betroffene Muskelgewebe weitgehend ab. Im Unterschied zu anderem Gewebe, etwa der Leber, regeneriert dieses Gewebe nicht, stattdessen vernarbt es. Dies führt zu einer andauernden Einschränkung der Funktion, im schlimmsten Fall bis zum Tod. Hier könnten künftig reprogrammierte Herzmuskelzellen zum Einsatz kommen, die den Patient:innen zum Beispiel via Katheter appliziert würden. Die patienteneigenen Stammzellen könnten das Gewebe rund um die Narbe ersetzen und die Herzschwäche dauerhaft verbessern – so das Ziel. «Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren erste klinische Versuche beim Menschen durchführen können», sagt der Mediziner.
Neben den Arbeiten an Herzmuskelzellen laufen am IREM auch Vorarbeiten mit Blutgefässzellen und Herzklappengewebe. Ein anderer wichtiger Bereich betrifft den Ersatz von Nervengewebe. Hoerstrup sieht bei neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson oder Demenzerkrankungen viel Potenzial. Andernorts fokussieren Forschende auch auf den Ersatz von Netzhautgewebe im Auge. Das Sinnesorgan war übrigens das erste Ziel klinischer Versuche beim Menschen. 2014 injizierten japanische Forscher induzierte Stammzellen in die Augen einer 80-jährigen Patientin, die an einer Degeneration der Netzhaut litt. Laut den Forschenden konnte dadurch der Fortgang der Erkrankung gebremst werden.
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Induzierte Stammzellen lassen sich dazu nutzen, die Wirksamkeit einer Therapie, etwa gegen Krebs, individuell anzupassen und zu optimieren.
Hoerstrup und Generali weisen darauf hin, dass der Gewebs- und Organersatz die öffentliche Wahrnehmung des Forschungsbereichs dominiere. Dabei gehe vergessen, dass induzierte Stammzellen auch ein riesiges Potenzial besitzen in Bereichen, die weniger spektakulär sind, namentlich bei der Optimierung von medizinischen Therapien und der Entwicklung neuer Wirkstoffe. Induzierte Stammzellen lassen sich zum Beispiel dazu nutzen, die Wirksamkeit einer Therapie, etwa gegen Krebs, individuell anzupassen und zu optimieren. Die Stammzellen lassen sich auch zu millimetergrossen Organoiden heranzüchten, an denen Krankheitsprozesse studiert und neue Wirkstoffe getestet werden können. «Die induzierten Stammzellen eröffnen vielfältige Anwendungen im Bereich personalisierter Medizin», sagt Simon Hoerstrup. Und prophezeit, dass dieser Bereich in nächster Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird.
Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin Nr. 2/2024