Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Digitalisierung

Weniger Ungleichheit dank KI

Die Digitalisierung hat bisher schlechter qualifizierte Jobs wegrationalisiert und den Arbeitsmarkt polarisiert. KI könnte aber manche einfachere Jobs aufwerten und Ungleichheiten aufheben.
Stefan Stöcklin
Die Computerisierung der Arbeitswelt ist ein Langzeittrend, der mit der Entwicklung leistungsfähiger Halbleiter begonnen hat und mit der künstlichen Intelligenz noch lange nicht zu Ende ist. (Bild: istock/rozdemir01)

Wer in den letzten Jahren in irgendeiner Funktion im Büro gearbeitet hat, konnte den wachsenden Einfluss von Computern miterleben. In der Medienbranche sind beispielsweise die Texterfasserinnen – es waren meist Frauen –, welche die handgeschriebenen Manuskripte von einst digitalisierten, schon länger verschwunden. Dank Tabellenkalkulations- und weiteren Büroprogrammen erledigen heutzutage Sekretär:innen Aufgaben, die vormals in den Bereich von Spezialisten wie Buchhaltern gehörten. Und um ein drittes Beispiel aus dem Finanzwesen zu nennen: Börsenaufträge erledigen viele Leute unterdessen zuhause am Computer. Die Händler im Ring sind Relikte der Vergangenheit. Die Computerisierung der Arbeitswelt ist ein Langzeittrend, der mit der Entwicklung leistungsfähiger Halbleiter in den 1970er-Jahren begonnen hat und mit der künstlichen Intelligenz noch lange nicht zu Ende ist.

Mindestens so alt wie der Aufstieg der Computer sind die Furcht vor Massenarbeitslosigkeit und grimmige Prognosen darüber, wer als Nächstes seinen Job verlieren wird. Aktuell prognostiziert zum Beispiel das Beratungsunternehmen McKinsey, dass durch KI besonders die gut qualifizierten Arbeit:nehmerinnen mit Bachelor- und Masterabschluss und Promotion gefährdet seien. Und die Firma Accenture legt nach, dass fast die Hälfte der in der Schweiz geleisteten Arbeitsstunden von KI betroffen seien.

Wer gewinnt, wer verliert?

Der Ökonom David Dorn, Professor für Globalisierung und Arbeitsmärkte an der UZH, sieht die aktuelle Situation deutlich entspannter: «Zum einen überschätzen die Beratungsfirmen den Wandel durch KI. Zum anderen fehlt der Blick für künftige Tätigkeiten, welche die neuen Technologien ermöglichen werden», sagt der Ökonom. Der Angst vor Massenarbeitslosigkeit liege die falsche Annahme zugrunde, dass es eine begrenzte Menge an Arbeit gibt, die entweder der Mensch oder die Maschine erledigen muss. Dabei gehe vergessen, dass technische Innovationen kraft ihrer neuen Möglichkeiten zusätzliche Arbeitsfelder schaffen, die zuvor noch gar nicht existierten. Man denke an all die digitalen Informationssysteme, die in unzähligen Berufsfeldern entwickelt wurden und neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet haben. So hat auch die Computerisierung nicht zu den befürchteten grossen Entlassungswellen geführt. Stattdessen sind die Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer kontinuierlich gewachsen. Dennoch dürfte auch der aktuelle Technologieschub dazu führen, dass manche Tätigkeiten unwiederbringlich verschwinden.

Die Frage stellt sich: Wer gehört zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern? David Dorn hat den Einfluss der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt eingehend studiert. Beim Blick zurück auf die Veränderungen ab den 1990er-Jahren zeigt sich, dass Computer in der Vergangenheit vorwiegend Routineaufgaben übernommen haben. Dank definierter Programme sind sie besser als der Mensch geeignet, Arbeiten zu erledigen, die einem vorbestimmten Ablauf folgen: In der industriellen Produktion fertigen zum Beispiel computergesteuerte Roboter alle erdenklichen Teile, von der Autotüre bis zum Lautsprechergehäuse.

Im Büro haben sie die Hoheit über die Daten gewonnen und speichern, verarbeiten und rufen Kennzahlen nach festgelegten Regeln ab. In vielen Bereichen konnten Computer ihre Stärken ausspielen und verdrängten manche Arbeiter:innen sowohl in der produzierenden Industrie als auch in den Dienstleistungsbetrieben und der Verwaltung. Hingegen waren die Maschinen weniger geeignet, neue kreative Ideen zu entwickeln und Probleme zu lösen, ganz zu schweigen von kommunikativen Aufgaben. Abstrakte und kreative Arbeiten von Manager:innen, Programmierer:innen, Ingenieur:innen oder Forscher:innen gewannen stattdessen an Bedeutung. Und statt von Maschinen ersetzt zu werden, profitierten Hochqualifizierte von den Computern, da sie ihnen Routineaufgaben abnahmen und ihre Produktivität erhöhten.

dorn

Der Angst vor Massenarbeitslosigkeit liegt die falsche Annahme zugrunde, dass es eine begrenzte Menge an Arbeit gibt, die entweder der Mensch oder die Maschine erledigen muss.

David Dorn
Professor für Globalisierung und Arbeitsmärkte

Die Computer führten deshalb zu einer Polarisierung in der Arbeitswelt: Während Routinetätigkeiten, die sich digitalisieren lassen, an Bedeutung verloren, wurden höher qualifizierte Arbeiten stärker nachgefragt. David Dorn und weitere Forschende haben dieses Muster für viele Länder in Nordamerika, Europa und Ostasien empirisch nachgewiesen.

Interessant ist ein dritter Bereich sogenannt manueller Arbeiten wie derjenigen von Kellner:innen, Köch:innen, Chauffeur:innen, Friseur:innen und von Putzpersonal. Aufgrund der steigenden Produktivität der Volkswirtschaften, die letztlich auch auf die Digitalisierung zurückgeht, sind ihre Dienstleistungen zunehmend gefragt. Die Verlierer auf dem Arbeitsmarkt waren bisher also die weniger gut qualifizierten und schlechter bezahlten Arbeitskräfte im mittleren Segment mit einem hohen Anteil von digitalisierbaren Routineaufgaben. Ihre Löhne stagnierten, was zu einer steigenden Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt führte.

KI erweitert Kompetenzen

Mit der künstlichen Intelligenz hat die Digitalisierung eine neue Phase erreicht, die zu weiteren Verschiebungen führen dürfte. Wohin geht die Reise? David Autor, renommierter Ökonom am MIT bei Boston und langjähriger Koautor von David Dorn, überrascht mit einer optimistischen Sicht: Seiner Meinung nach hat KI das Potenzial, die (unter-)durchschnittlich qualifizierten Arbeiten des mittleren Segments aufzuwerten und die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zu reduzieren. «KI kann die Automatisierung durch Computer zurückdrängen und das Fachwissen vieler Arbeitskräfte erweitern», schreibt Autor in einem Arbeitspapier des NBER (National Bureau of Economic Research).

Kernpunkt seiner Überlegungen sind die Themen Expertise und Fachwissen. Während Computer bisher Routineaufgaben übernommen haben, kann künstliche Intelligenz Fachwissen bereitstellen, das vielen Arbeitskräften erlauben dürfte, ihre Expertise zu erhöhen und höher qualifizierte Arbeiten zu übernehmen. Damit verbessern durchschnittlich qualifizierte Arbeitskräfte ihre Kompetenzen und erledigen Aufgaben, die bisher von höher qualifizierten Berufsleuten übernommen wurden. David Autor nennt Arbeitsbereiche wie die von Ärzt:innen, Anwält:innen, Programmierer:innen oder Hochschulprofessor:innen. Pflegepersonal in Spitälern könnte dank Informationstechniken und KI Aufgaben erledigen, die heute Ärzt:innen vorbehalten sind, beispielsweise einen Katheter anlegen oder Röntgenbilder analysieren. Juristen mit einer Grundausbildung könnten dank KI Entscheidungen treffen, die heute besser ausgebildeten Anwält:innen vorbehalten sind. Ähnliches gelte für den Bildungsbereich, wo weniger Qualifizierte Vorlesungen und Arbeiten von Professoren erledigen könnten. Und Programmierer:innen können dank KI ihre Produktivität massiv erhöhen.

In all diesen Fällen, so schreibt David Autor, würde KI keine Expert:innen ersetzen, deren Qualifikationen immer noch gefragt wären, sondern weniger Qualifizierten Expertise bereitstellen. Und zwar in Bereichen wie dem Gesundheitswesen oder der Software-Industrie, wo mit einer stark steigenden Nachfrage nach Expertenwissen zu rechnen sei.

Welchen Wert hat Fachwissen?

Wie realistisch dieses optimistische Szenario ist, wird die Zukunft zeigen. Auch David Autor räumt ein, dass KI die wertvolle «Expertise» mancher Berufsleute entwerten könnte, so wie Navigationssysteme die in Jahren antrainierte Orientierung der Londoner Taxifahrer obsolet machten. Häufiger aber dienten Innovationen dazu, neue Möglichkeiten und damit verbundene Expertenjobs zu schaffen. Umso wichtiger sei es, die neue Technologie der künstlichen Intelligenz mit Augenmass und in Zusammenarbeit mit den Betroffenen und den relevanten Kräften der Gesellschaft einzuführen. Denn sie biete die Chance, die Polarisierung der Arbeitsmärkte durch die Computerisierung der letzten Jahre zu stoppen.

David Dorn erachtet die Szenarien seines Kollegen bei manchen Berufsfeldern für plausibel, ist selbst aber zurückhaltender. Wohin die Reise mit KI gehe, sei noch nicht entschieden, Daten aus den Arbeitsmärkten fehlten. Für die nähere Zukunft rechnet Dorn mit einer Weiterführung der bisherigen Trends, das heisst einer weiteren Automatisierung bestimmter Dienstleistungs- und Produktionstätigkeiten.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers «Mit Köpfchen und KI» aus dem UZH Magazin 3/2024.

Weiterführende Informationen