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Noch nie war es für kreative Menschen so günstig und einfach, kulturelle Werke wie Musik, Bücher oder Videos zu produzieren und zu verbreiten. Möglich machen dies einerseits digitale Programme und Werkzeuge, die heute für viele Menschen einfach verfügbar sind. Zum anderen erlauben offene digitale Plattformen, Werke für wenig Geld auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. «Heute braucht man eigentlich nur noch ein Smartphone oder einen Laptop, um Musik aufzunehmen und sie auf YouTube oder Spotify hochzuladen», sagt Luis Aguiar, DSI-Professor an der UZH für Management and Economics of Digital Transformation.
Diese Entwicklung hat zu einem Produktionsboom geführt. Für die Nutzer:innen ist dies einerseits ein Segen, denn kein Plattenladen der Welt kann auch nur ein annähernd so breites Angebot an Lager halten wie die Streaming-Plattformen: Allein auf der grössten Plattform Spotify sind derzeit gemäss eigenen Angaben 100 Millionen Songs verfügbar. Allerdings ist die Fülle auch ein Fluch: «Uns stehen so viele Musiktitel zur Verfügung, dass die Aufmerksamkeit nicht für alle reicht», erklärt Aguiar. Wer definiert also, welche Titel mehr oder weniger von dieser Aufmerksamkeit erhalten?
Bis vor wenigen Jahren haben ganz unterschiedliche Akteure wie Radiostationen und Plattenläden Musik verteilt und vermittelt. «Heute wird die meiste Musik über die grossen Plattformen konsumiert», sagt Aguiar. Das heisst, auch die nach wie vor existierenden grossen Labels müssen ihre Musik über Spotify an die Hörerinnen und Hörer bringen. Im Westen wird dieser Markt mit 236 Millionen Abonnent:innen vom Streamingdienst Spotify dominiert. Die meiste Musik wird auf der Plattform über Playlists abgerufen, die abonniert werden können. Die 25 Playlists mit den meisten Nutzenden werden alle von Spotify kontrolliert. «Damit hat das Unternehmen grosse Einflussmöglichkeiten, welche Musik gehört wird», erklärt Aguiar.
Von diesen 25 Listen sind alle mit einer Ausnahme kuratiert. Das heisst, ihr Inhalt wird nicht von Algorithmen bestimmt, sondern von Spotify-Redaktor:innen, die gezielt Titel dafür auswählen. Die einzige nicht kuratierte Liste in dieser Gruppe ist die Global Top 50 Playlist, auf der die 50 weltweit am häufigsten gestreamten Songs zu finden sind.
Die kuratierten Listen haben einen markanten Einfluss darauf, ob Songs oft gestreamt oder gehört werden, wie Aguiar nachgewiesen hat: Ist ein Song auf der weltweit beliebtesten dieser kuratierten Playlists, «Today’s Top Hits», vertreten, erhöhen sich seine Streams um durchschnittlich 20 Millionen oder fast 25 Prozent. Im Vergleich dazu: Ein Song, der auf der nicht kuratierten Global Top 50 List aufgeführt ist, erreicht lediglich drei Prozent mehr Streams. «Spotify hat also tatsächlich die Möglichkeit, zu bestimmen, welche Musik wir hören», folgert Aguiar.
Ebenfalls einen grossen Einfluss hat Spotify, wenn es darum geht, neue Musiktitel zu entdecken. Dazu bietet die Plattform Playlists mit dem Namen «New Music Friday» an. In diese Liste werden jeden Freitag länderspezifisch neue Titel von bereits bekannten oder noch wenig bekannten Künstler:innen aufgenommen. Diese Listen, so hat Aguiar gezeigt, haben einen grossen Einfluss auf die Verbreitung neuer Titel: Songs, die zum Beispiel in den USA auf «New Music Friday» als Nummer eins geführt werden, erhalten dadurch 13 Millionen mehr Streams.
Spotify hat die Möglichkeit, zu bestimmen, welche Musik wir hören.
Spotify schlägt seinem Nutzer:innen auch neue Musiktitel vor, die individuell aufgrund der bisherigen Vorlieben mittels Algorithmen definiert werden. Welchen Einfluss solche Empfehlungen haben, lässt sich mit den verfügbaren Daten allerdings nicht eruieren. Es ist aber anzunehmen, dass die Informationen daraus auch in die redaktionellen Entscheide beim Zusammenstellen der Playlists einfliessen. «Spotify kann unser Verhalten genau beobachten, das ist eine Goldmine an Informationen», erklärt Aguiar. «Diese in die redaktionellen Empfehlungen einfliessen zu lassen, liegt nahe.»
Bei den 200 beliebtesten Titeln auf Spotify waren 2017 die kuratierten Playlists für 12 Prozent aller Streams verantwortlich. Seither ist dieser Anteil auf 16 Prozent gestiegen. Rund 80 Prozent dieser Streams stammen von Playlists, die von Spotify kontrolliert sind. Das heisst, die von Spotify zusammengestellten Listen haben an Einfluss auf das Hörverhalten zugenommen. «Das ist für alle ein gutes Zeichen», sagt Aguiar, «ausser für die grossen Labels.» Denn Spotify bevorzugt für die Playlists nicht Musik von den grossen, sondern von kleineren, unabhängigen Labels.
Gemäss Aguiar nutzt Spotify seine zahlreichen Playlists dazu, gezielt vielversprechende Musik von unabhängigen Labels zu testen, um sie dann auf den grossen Playlists stärker zu promoten. Zwischen 2017 und 2020 habe der Anteil von unabhängiger Musik auf den Spotify-Playlists stetig zugenommen. Dadurch lenkt Spotify die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen stärker auf unabhängige – und somit eher weniger bekannte – Musik. Nach Ansicht von Aguiar erreicht Spotify damit tatsächliche eine Art Demokratisierung des Zugangs zu Musik.
Dies geschieht allerdings nicht aus rein ideellen Gründen, sondern hat einen starken ökonomischen Hintergrund. «Musik von grossen Labels kostet Spotify in der Regel mehr», sagt Aguiar. Weil die Labels ihre Marktmacht nutzen, um von Spotify höhere Abgeltungen pro Song zu erhalten als unabhängige Labels. «Indem Spotify mehr Musik von unabhängigen Labels anbietet, kann das Unternehmen seine Kosten reduzieren und dabei gleichzeitig einen Mehrwert für die Nutzer:innen schaffen.»
Auch wenn Spotify die Rolle eines Türhüters in die Welt der Musik übernommen hat und mit seinen kuratierten Playlists starken Einfluss darauf ausübt, welche Musik viel Aufmerksamkeit erhält, ist die Plattform dennoch auf die grossen Labels angewiesen, die nach wie vor den grössten Teil der gestreamten Musik produzieren.
So stammten gemäss Angaben von Spotify rund drei Viertel der gestreamten Inhalte im Jahr 2023 von den vier Musiklabels Universal Music Group, Sony Music Entertainment, Warner Music Group und Merlin, einem unabhängigen Netzwerk für die Lizenzierung von digitalen Inhalten. Das heisst, Spotify braucht diese Musik, um für die Nutzer:innen attraktiv zu bleiben: «Wenn Spotify die grossen Playlists mit Musik bespielt, die die Nutzer:innen weniger mögen, werden sie diese nicht mehr abonnieren», erklärt Aguiar.
Aguiar hat die quantitativen Effekte der von Spotify kuratieren und algorithmisch zusammengestellten Playlists auf den Musikkonsum ausgewertet. Welche qualitativen Auswirkungen dies auf die Musikproduktion hat, hat er nicht untersucht. «Es gibt Aussagen, dass gewisse Genres, wie zum Beispiel Hip-Hop, mit dem Streaming stark gewachsen sind», erklärt er. Diese beruhten aber nicht auf formaler Forschung. Hinweise auf die Beliebtheit der Genres können die Playlists mit den meisten Followern auf Spotify geben: Nach den nicht Genre-spezifischen Listen Today’s Top Hits und Global Top 50 folgen dort nacheinander Playlists mit Rap, Latin Music und Reggaeton.
Einen anderen möglichen Einfluss, den die Plattformen auf die Form der Musiktitel haben, erwähnt Aguiar ebenfalls: «Spotify zahlt nur für Songs, die mindestens 30 Sekunden lang abgespielt werden.» Das heisst, Musikstücke müssen die Nutzer:innen in den ersten 30 Sekunden packen, damit sie dranbleiben. Songs mit langen Intros zum Beispiel hätten es bei der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer:innen dagegen schwerer. Das heisst, die Art und Weise, wie Spotify die Streams gegenüber den Künstler:innen vergütet, kann Auswirkungen auf die Kompositionen haben: «Das ist», so Aguiar, «nicht überraschend. Auch Künstler:innen folgen den Anreizen, auf denen das ökonomische System basiert.»