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Gendermedizin

Die richtige Medizin für Frauen und Männer

Viele Krankheiten haben geschlechtsspezifische Ursachen und Symptome. Doch diese sind oft noch wenig erforscht. Das soll sich ändern. Die UZH hat den ersten Lehrstuhl für Gendermedizin in der Schweiz geschaffen, um diese Forschung voranzutreiben.
Roger Nickl und Thomas Gull
Bei vielen Krankheiten braucht es geschlechtsspezifische Behandlungen. Da in der Medizin häufig der Mann Prototyp war, ist das bis heute nicht selbstverständlich. (Illustration: Cornelia Gann)
Bei vielen Krankheiten braucht es geschlechtsspezifische Behandlungen. Da in der Medizin häufig der Mann Prototyp war, ist das bis heute nicht selbstverständlich. (Illustration: Cornelia Gann)

Männer erleiden in jüngeren Jahren häufiger einen Herzinfarkt als Frauen, später kehrt sich das Verhältnis um. Bei Frauen wird weit mehr als bei Männern eine Depression oder Migräne diagnostiziert. Wie und woran Menschen erkranken, ist auch eine Frage des Geschlechts. Dies zeigte sich auch in der Corona-Pandemie. So erkrankten Männer schwerer an Covid und starben häufiger als Frauen. Ein Grund dafür könnte sein, dass das weibliche Immunsystem schneller und stärker auf Krankheitserreger reagiert als das männliche. Frauen hatten während der Pandemie dagegen ein grösseres Risiko, infiziert zu werden, als Männer, weil sie bei ihrer Arbeit – zum Beispiel in der Pflege, im Verkauf, in der Schule oder bei der Kinderbetreuung – dem Coronavirus stärker ausgesetzt waren. Die Beispiele machen deutlich: Geht es um Krankheit und Gesundheit, spielen geschlechtsspezifische Unterschiede in der Biologie und im sozialen Verhalten eine wichtige Rolle. Und sie sind eng miteinander verknüpft.

Diese Unterschiede nimmt die Gendermedizin in den Blick. «Gendermedizin ist ein wichtiger Teil der Präzisionsmedizin, die ein Forschungsschwerpunkt der Universitären Medizin Zürich (UMZH) ist», sagt UZH-Professorin und UMZH-Direktorin Beatrice Beck Schimmer. Ziel der Präzisionsmedizin ist, individuellere Diagnosen und Therapien zu entwickeln, um die Genesung zu beschleunigen und zu verbessern. Geht es darum, möglichst massgeschneiderte Behandlungen für Menschen zu entwickeln, sind geschlechtsspezifische biologische und soziale Unterschiede wichtige Faktoren. Deshalb sollten sie in der Forschung und in der Klinik stets mitbedacht und in der Aus- und Weiterbildung vermittelt werden.

Prototyp Mann

Das klingt zwar plausibel, ist aber bis heute nicht selbstverständlich. «In vielen Bereichen der Medizin war der Mann der Prototyp», sagt Beck Schimmer, deshalb wurden Krankheiten bei Frauen in der Vergangenheit erst spät oder gar nicht erkannt, weil die Diagnose vor allem auf männlichen Symptome ausgerichtet war. So sind beispielsweise die Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen teilweise anders als bei Männern. 

Die Herzinfarktsymptome bei Frauen sind häufig diffuser, sagt Kardiologin Carolin Lerchenmüller, «etwa Magen-, Rücken- oder Kieferschmerzen». Statt in der Kardiologie landen betroffene Frauen deshalb oft zuerst beim Neurologen oder der Orthopädin. «Wir müssen lernen, geschlechtsspezifische Symptome als typisch anzusehen und nicht als atypisch abzustempeln und deshalb eine falsche Behandlung zu verordnen oder die richtige unbewusst hinauszuzögern», sagt Lerchenmüller. Sie verweist auf eine Studie, die zeigt: Frauen mit einem Herzinfarkt erhalten seltener die optimale Therapie, und sollten sie diese doch bekommen, dann oft mit Verspätung. Wichtig sei jedoch nicht nur, das Gesundheitspersonal besser zu sensibilisieren, auch die Bevölkerung müsse wissen, dass es sehr verschiedene Symptome gibt, die auf einen Herzinfarkt hindeuten, sagt Lerchenmüller. Das kann Leben retten, denn Frauen sterben oft infolge einer falschen oder zu späten Diagnose. Zudem wird der Heilungsprozess länger und beschwerlicher, wenn ein Herzinfarkt nicht rechtzeitig erkannt wird.

Beck-Schimmer

In vielen Bereichen der Medizin war der Mann der Prototyp.

Beatrice Beck Schimmer
Direktorin Universitäre Medizin Zürich

Solche geschlechtsspezifische blinde Flecken gibt es nicht nur in der Herzmedizin, sondern auch in vielen anderen medizinischen Disziplinen – von der Neurologie über die Pharmakologie bis hin zur Psychiatrie. Die gendermedizinische Forschung, die an der Universität und am Universitätsspital Zürich ausgebaut wird, soll das ändern. Dafür wurde an der UZH die erste Professur für Gendermedizin in der Schweiz geschaffen, die Carolin Lerchenmüller diesen Mai antreten wird. Die Universität Zürich übernimmt damit landesweit eine Vorreiterrolle.

«Evas Rippe»

Ihre Anfänge hatte die Gendermedizin in den 1980er-Jahren. Damals erkannte die amerikanische Kardiologin Marianne Legato erstmals, dass sich Herzerkrankungen bei Frauen und Männern unterschiedlich auswirken. Mit ihrem populärwissenschaftlichen Buch «Evas Rippe» sensibilisierte Legato ein breiteres Publikum für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin. Seither hat das Thema in der Wissenschaft zunehmend an Fahrt aufgenommen. Und es wurden immer mehr geschlechtsbezogene Wissenslücken in der medizinischen Forschung und Klinik deutlich. 

Der «Prototyp Mann» hat in der Forschung eine lange Tradition. «Ähnlich wie Leonardo da Vincis berühmte Zeichnung des vitruvianischen Menschen in der Kunst», sagt Beatrice Beck Schimmer, «diese stellt die idealen Proportionen des menschlichen Körpers dar – am Beispiel eines Mannes.» In der Medizin wurden präklinische Studien vorwiegend mit männlichen Versuchstieren und klinische Studien mit Männern durchgeführt. Ein Grund dafür ist der weibliche Zyklus. Die Forschenden befürchteten, dass die damit verbundenen Hormonschwankungen zu inhomogenen Resultaten führen. Sie vermieden deshalb Experimente mit weiblichen Versuchstieren und in späteren Phasen eines Forschungsprojekts Tests mit Probandinnen. So beispielsweise bei klinischen Studien, die für die Zulassung von Medikamenten erforderlich sind. «Das hatte in der Vergangenheit zum Teil fatale Folgen», sagt Sarah Scheidmantel, die an der UZH zu Sex- und Genderfragen in der Medizingeschichte forscht und dazu Vorlesungen und Seminare für Medizinstudierende anbietet.

Lerchenmüller

Wenn wir eine gerechtere und bessere Medizin wollen, müssen die Forschungsteams diverser werden.

Carolin Lerchenmüller
Gendermedizinerin

Ein Beispiel dafür ist der Contergan-Skandal in den 1960er-Jahren. Das damals millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel, das schwangere Frauen unter anderem gegen Schwangerschaftsübelkeit einnahmen, schädigte den Fötus und führte dazu, dass Babys mit massiven Fehlbildungen zur Welt kamen. «Contergan war das Paradebeispiel für einen Gendermedizin-Fall. Er machte deutlich, was passieren kann, wenn Medikamente nicht divers getestet werden», sagt Medizinhistorikerin Scheidmantel. Denn damalige klinische Studien zeigten zwar, dass Contergan wirkt. Da man sie aber nur mit Männern durchführte, wurden die gefährlichen Nebenwirkungen, die das Medikament während der Schwangerschaft verursachte, nicht erkannt. Rückblickend hat der Fall dazu beigetragen, das Bewusstsein für gendermedizinische Aspekte in der Forschung zu schärfen.

«Heute wird in der Forschung nur noch selten mit dem Mann als Prototyp gearbeitet», sagt UZH-Neurologie-Professorin Susanne Wegener, die zu Kopfweh, Migräne und Schlaganfall forscht, auch mit gendermedizinischem Blick (siehe Artikel Seite 43). In der Forschung und bei klinischen Studien setzt sich zunehmend der Standard durch, dass die Geschlechter repräsentativ vertreten sein müssen – es sei denn, es geht um männer- oder frauenspezifische Themen wie Prostataerkrankungen oder Eierstockkrebs. «Wenn heute Arbeiten bei medizinischen Fachzeitschriften zur Publikation eingereicht werden, die nur mit männlichen Mäusen gemacht wurden, werden diese zurückgeschickt mit der Aufforderung, alles noch einmal mit weiblichen Mäusen zu wiederholen», sagt Wegener.

«Zu wenig Frauen in Leitungspositionen»

Zu diesem Bewusstseinswandel beigetragen hat wohl auch ein sozialer Faktor: Lange Zeit waren der Arztberuf und die medizinische Wissenschaft von Männern dominiert. «Wenn nur ein Geschlecht Forschung macht, engt das den Blick ein», sagt Medizinhistorikerin Sarah Scheidmantel. Das hat sich mittlerweile geändert. Heute gibt es mehr Medizinstudentinnen als -studenten und auch die Zahl von Ärztinnen in führenden Positionen und als Leiterinnen von Forschungsgruppen nimmt zu. In den obersten Hierarchiestufen bildet sich dieser Wandel allerdings nicht gleichermassen ab. Da überwiegen immer noch die Männer. 

Das spiegelt sich auch in den Publikationen in medizinischen Fachzeitschriften. Carolin Lerchenmüller hat untersucht, wie oft Frauen und Männer als Autor:innen von Fachartikeln ausgewiesen werden. Dabei zeigt sich, dass Frauen mittlerweile weit besser vertreten sind als noch vor zwanzig Jahren. Allerdings nicht bei den Letztautor:innen. Die Liste der Autorschaft ist hierarchisch geordnet, zuerst kommen jeweils die Forschenden, die die eigentliche Arbeit gemacht haben, oft sind das Doktorand:innen oder Postdoktorand:innen. An letzter Stelle erscheinen dann jene Personen, die das Forschungsprojekt verantworten, etwa Professor:innen. «In dieser Leitungsposition gibt es auch heute noch viel zu wenig Frauen», betont Lerchenmüller. Anders als bei den Studierenden- und Doktorierendenzahlen stagniert auf dieser Stufe der Anteil der Frauen.

Diverser forschen

Das hat Konsequenzen, denn Frauen interessieren sich in ihrer Forschung potenziell für andere Themen als Männer. Das belegt auch eine im renommierten Fachmagazin «Science» publizierte Studie: Sind in einem Forschungsteam Frauen führend, werden mehr Themen bearbeitet, die für Frauen relevant sind. Lerchenmüller zieht daraus einen klaren Schluss: «Wenn wir eine gerechtere und bessere Medizin wollen, müssen die Forschungsteams diverser werden.» Dabei gehe es nicht nur um mehr Frauen in der Medizin, sondern ganz grundsätzlich um mehr Diversität. «Diverse Forschungsteams sorgen für vielfältigere Perspektiven auf dasselbe Problem und damit potenziell für bessere Lösungen», so Lerchenmüller.

Was müsste denn passieren, damit mehr Frauen in Führungspositionen aufsteigen? Ein Weg sei, Frauen aktiv zu rekrutieren, das heisst, sie anzusprechen und einzuladen, sich für eine Führungsposition zu bewerben. Das sei auch in ihrem Fall mit dem Lehrstuhl für Gendermedizin an der UZH so gewesen, sagt Lerchenmüller. «Das hat grosse Wirkung, weil man sich vielleicht gar nicht getraut hätte, sich für eine bestimmte Position zu bewerben.» Frauen brauchten oft mehr Ermutigung, sich Führungspositionen zuzutrauen und diese anzustreben.

Ändern müsse sich auch die Kultur in den grossen Spitälern und Kliniken, betont die Gendermedizinerin. Es brauche mehr Verständnis für die Bedürfnisse von Frauen, etwa was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht – Lerchenmüller hat drei Kinder –, und passende Strukturen. Das sei eine Führungsaufgabe, entsprechend sollten Personen in Führungspositionen – nach wie vor oft Männer – dafür sensibilisiert werden.

Evidenzbasierte Chancengerechtigkeit

Und was können die Frauen selbst tun? Sich gegenseitig unterstützen und ermutigen, sagt Lerchenmüller. Und sich trauen, die eigene Meinung zu vertreten und Führungsaufgaben zu übernehmen. Auch wenn das oft nicht einfach sei, etwa weil sich Frauen viel mehr Gedanken darüber machen, wie es ankommt, wenn sie eine andere Meinung haben als ihre männlichen Kollegen. «Solche Skrupel haben die Männer häufiger nicht», sagt Lerchenmüller. Die neue Gendermedizin-Professorin betont, sie möge den Begriff «Gleichstellung» nicht. «Was wir wollen, sind gerechte Chancen.» Sie nennt das «evidenzbasierte Chancengerechtigkeit», denn Gleichstellung sei nicht zwingend auch gerecht.

In Zukunft sollen in allen medizinischen Bereichen Leitlinien dafür entstehen, wie wir Patientinnen und Patienten genderspezifisch optimal behandeln können.

Beatrice Beck Schimmer
Direktorin Universitäre Medizin Zürich

Mit der neuen Professur stärkt die UZH die Forschung zur Gendermedizin. Lerchenmüller will aber auch über die Grenzen des eigenen Fachs hinausschauen und beispielsweise mit Geisteswissenschaftlern und Soziologinnen zusammenarbeiten. Bereits heute wird an der UZH zu geschlechtsspezifischen medizinischen Themen geforscht. Etwa im Zusammenhang mit Migräne und Schlaganfall, Depressionen, Krebs und Herzproblemen. «Viele Annahmen in der Gendermedizin beruhen noch auf Hypothesen», sagt Beatrice Beck Schimmer, «wir brauchen unbedingt mehr evidenzbasiertes Wissen darüber, weshalb Krankheiten sich bei Frauen und Männern anders zeigen und unterschiedlich verlaufen.» Dieses Wissen sollen künftige Forschungsprojekte schaffen. Vermehrt einfliessen soll es auch in die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten und anderer Gesundheitsberufe. 

Nationale Vernetzung

Um die wissenschaftliche Arbeit landesweit zu bündeln, zu koordinieren und zu stärken, strebt die UMZH mit anderen akademischen Partnern längerfristig ein gemeinsames Schweizer Institut für Gendermedizin an. «Wir wollen möglichst viele Leute einbeziehen und gemeinsam eine Passion entwickeln», sagt Lerchenmüller. Neue Erkenntnisse bringen wird auch das Ende letzten Jahres vom Schweizerischen Nationalfonds lancierte Nationale Forschungsprogramm «Gendermedizin und -gesundheit», zu dessen Leitungsteam Neurologin Susanne Wegener gehört.

«Noch konzentriert sich die gendermedizinische Forschung vorwiegend auf die biologischen Geschlechter», sagt Beck Schimmer, «sobald wir hier zu mehr fundiertem Wissen gelangt sind, sollten wir unbedingt auch Transgender-Aspekte miteinbeziehen.» Die Resultate der gendermedizinischen Forschung sollen künftig direkt in den klinischen Alltag einfliessen. «In Zukunft sollen in allen medizinischen Bereichen Leitlinien dafür entstehen, wie wir Patientinnen und Patienten genderspezifisch optimal behandeln können», sagt UMZH-Direktorin Beatrice Beck-Schimmer. Damit die Gendermedizin immer präziser wird – zum Nutzen aller.