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Der Blick geht über die Dächer des Zürcher Central. Milo Puhan sitzt am Schreibtisch und arbeitet die Mailliste ab. Noch immer ist er eine gefragte Person. Während der Corona-Zeit war er eines der medialen Gesichter der UZH. Der Epidemiologe winkt ab. So oft war er gar nicht zu sehen. Doch seine Meldungen waren begehrt. Er informierte die Medien, wenn es neue Erkenntnisse aus der Corona-Forschung gab.
Milo Puhan ist Professor für Epidemiologie und Public Health und Direktor am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, kurz EBPI. Zusammen mit seinem Kollegen Jan Fehr, der das Department of Public and Global Health am EBPI leitet, hat er im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Corona Immunitas» umfangreiche Studien zu den Auswirkungen des Virus initiiert. So hat Corona Immunitas schweizweit untersucht, wie sich das Virus ausbreitete. Im Kanton Zürich etwa wurde im Rahmen des «Ciao-Corona»-Projekts 2500 Kindern regelmässig Blut entnommen, um die Corona-Entwicklung in den Schulen zu beobachten.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse dienten als Basis für politische Entscheide. So gelang es beispielsweise dem Ciao-Corona-Team, nachzuweisen, dass die Schulen keine Hotspots und die Kinder keine Treiber der Pandemie sind. Das bedeutete: Schulschliessungen waren nicht länger nötig. Auch für die Impfempfehlung im Herbst des vergangenen Jahres stützten sich die Behörden auf Forschungergebnisse des EBPI und seiner Partner der Swiss School of Public Health. Dank ihrer Studie, die im Sommer 2022 eine hohe Immunität der Bevölkerung nachweisen konnte, wurde die starke Impfempfehlung auf besonders vulnerable Personen beschränkt.
Milo Puhan ist ein bodenständiger Arzt. Ihn interessiert die Gesundheit der Bevölkerung. Wie werden Krankheit und Gesundheit gelebt? Wie wirken sie sich auf das Leben der Menschen aus? Er deutet auf das Büchergestell an der Wand. «Dort oben steht meine Dissertation.» Über der Fachliteratur thront ein Baumodell. Er holt das filigrane Holzwerk herunter, bläst den Staub weg und stellt es auf den Tisch. Es handelt sich um ein Lepraspital von 1472 in Steig bei Schaffhausen. Begeistert erzählt Puhan, wie er das Innere des Gebäudes rekonstruiert hat: «Viele aufschlussreiche Dokumente waren noch erhalten. Sie haben Einblick gegeben, wie die Räume genutzt wurden und wie man mit den Kranken umging.»
Milo Puhan, aufgewachsen in einem Vorort der Stadt Zürich, kommt aus einem Akademikerhaushalt. Der Vater, Zdenko Puhan, war dreissig Jahre lang Lebensmittelwissenschaftler an der ETH, die Mutter war Dolmetscherin. Dass es Medizin sein musste, war dem jungen Milo schon am Gymnasium Rämibühl klar. Nach dem Grundstudium an der UZH wusste er auch, wie er sich spezialisieren wollte: «Mich interessierten besonders die chronischen Krankheiten: Lungen-, Herzkrankheiten etwa oder Multiple Sklerose.»
Die Gesundheitsvorsorge muss dort funktionieren, wo die Menschen leben, wohnen, arbeiten.
Puhan nimmt einen Schluck Wasser und lehnt sich im Stuhl zurück. Prägend seien die vier Jahre an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore (USA) gewesen, wo er am Department of Epidemiology von 2008 bis 2012 eine Associate-Professur innehatte. Da habe er ein Gespür dafür entwickelt, wie wissenschaftliche Erkenntnis in der Realität Fuss fassen kann. «Die Zusammenarbeit der Forschenden mit politischen Entscheidungsträgern ist dort professionalisiert und gut etabliert», erklärt Puhan. In der Schweiz ist diese Verbindung weniger stark. Die Wissenschaft wird von den Behörden beratend zugezogen.
Milo Puhan ist Mitglied des vierzehnköpfigen wissenschaftlichen Beratungsgremiums Covid-19. Dieses beobachtet, wie sich das Coronavirus weiterentwickelt, und diskutiert mit der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und dem Bund, wie man sich künftig besser auf Epidemien vorbereiten kann.
Wir sitzen am Besprechungstisch. Im Hintergrund gleitet die Polybahn rot durch den grauen Tag. Das Wetter spielt hier keine Rolle. Puhan und sein Team gehen raus. Puhan setzt die Forschung dort an, wo Krankheit und Gesundheit stattfinden, mitten im Leben der Menschen. So fuhr das EBPI-Team für das Corona-Immunitas-Projekt mit Bussen, die mit Liegebett und Infrastruktur für die Blutentnahme ausgestattet waren, bei Kälte und Schnee in abgelegene Regionen, um auch die ländliche Bevölkerung oder Menschen, die nicht gut zu Fuss sind, zu erreichen. Für die Ciao-Corona-Studie wurde in Turnhallen und Aulen von Zürcher Schulen Kindern Blut entnommen, die für ihr Mitmachen mit Rubik’s Cube, Frotteetuch und Trinkflasche belohnt wurden.
Puhan ist es wichtig, zu den Menschen zu gehen. Er will am Puls des Geschehens sein. Auch in anderen Forschungsprojekten setzt er bei den Betroffenen an. Etwa beim MS-Register. Bei diesem Citizen-Science-Projekt, das Puhan gestartet hat, werden mit der Hilfe von Menschen, die an Multipler Sklerose leiden, Daten und Erfahrungen gesammelt, die wissenschaftlich ausgewertet werden. Sie helfen, den Umgang mit der Krankheit zu verbessern. Denn, so Puhan: «Die Betroffenen selbst sind die besten Experten.»
Wieder leuchtet eine Polybahn rot im grauen Morgen auf. Milo Puhan schneidet ein Thema an, das ihm als Präventivmediziner am Herzen liegt: «Der Fokus in der Medizin sollte sich von der Akutmedizin auf die Langzeiterkrankungen verschieben.» Das zentrale Argument dafür, die Prioritäten anders zu setzen, hat er auch parat: «Bereits heute machen chronische Krankheiten 80 Prozent der Krankheitslast aus.» Dieser Trend wird sich noch verstärken, weil wir immer älter werden.
Deshalb wird die Gesundheitsvorsorge immer wichtiger. Milo Puhan verweist auf das nationale Forschungsprogramm «Gesundheitsvorsorge NFP74» des Schweizerischen Nationalfonds, das er geleitet hat. Als die Ergebnisse präsentiert wurden, war das Interesse gross. Nicht erstaunlich angesichts der anhaltenden Gesundheitskrise – Medikamentenmangel, explodierende Kassenprämien, steigende Kosten, fehlende Digitalisierung.
Um das zu ändern, schlagen Puhan und seine Kolleginnen und Kollegen kein neues System vor. Vielmehr sollen die vorhandenen Strukturen besser genutzt und effizienter werden. «Das A und O ist die Kommunikation und Koordination zwischen Betroffenen, Hausärztin, Pflegekräften, Angehörigen», sagt Puhan – dazu brauche es einen Kulturwandel: «Die Gesundheitsvorsorge muss in den konkreten Lebenskontext eingebettet werden. Sie muss dort funktionieren, wo die Menschen leben, wohnen, arbeiten.» So können Doppelspurigkeiten und Leerläufe vermieden und unnötige Hospitalisierung oder Übertherapie verhindert werden.
Wie hält er es eigentlich selber mit Krankheiten? Puhan schweigt einen kurzen Moment. Er sei halt Mediziner, sagt er schmunzelnd. Da gehe man selten zum Arzt. «Vielleicht etwas zu selten.» Aber meistens genese man ohnehin von selbst. «Und meine Frau ist Hausärztin.» Wichtig sei ihm ein gesunder Ausgleich. Allein schon das Vatersein zwinge einen zum zwischenzeitlichen Abschalten, sagt der Mediziner und lacht. Er hat zwei Töchter, vier und sechs Jahre alt. Er und seine Frau teilen sich die Betreuung. Abends ist erstmal Familienzeit angesagt. Wenn die Kleinen im Bett sind, setzen sich die Grossen meist nochmals an den Schreibtisch. Puhan zuckt die Schultern. Die viele Arbeit macht ihm nichts aus, sie macht ihm Spass. Und wenn es dann doch mal zu viel wird, dann spielt er eine Partie Tennis. Er ist seit bald vierzig Jahren begeisterter Sportler.
Der Fokus in der Medizin sollte sich von der Akutmedizin auf die Langzeiterkrankungen verschieben.
Doch wie geht es jetzt weiter? Die Gesundheitskrise ist ja noch lange nicht vom Tisch. Pläne? Puhans Augen leuchten. Er hat ein neues Projekt im Köcher. Eine grosse Herausforderung in der Medizin sind Menschen mit mehreren chronischen Krankheiten. Hat jemand beispielsweise gleichzeitig ein Herzproblem, Depressionen und Gelenkschmerzen, werden verschiedene Therapien verschrieben.
Doch wie die unterschiedlichen Medikamente zusammenspielen, ist oft unklar. «Es grenzt zuweilen an ein Vabanquespiel, was die Ärztinnen und Ärzte da bewerkstelligen müssen», sagt Puhan. Wie Nutzen und Nebenwirkungen von Therapien gegeneinander abgewogen werden, beschäftigt ihn schon lange. Jetzt hat er sich mit dem Teilchenphysiker Nicola Serra zusammengetan. Serra ist ein Spezialist in Sachen Machine Learning. Seine Expertise soll weiterhelfen. In einem interdisziplinären Team wollen sie gemeinsam ein AI-gestütztes Programm entwickeln, das individuell modulieren kann, welche Medikamentenkombination die bestmögliche ist. Puhan nickt. Einer der grossen Gewinne der Pandemie war das synergetische Arbeiten: «Wenn Kräfte gebündelt werden, ist viel mehr möglich.»
Auf der Polybahn stehen die Leute dicht gedrängt. Sie fahren Richtung Central. Mittagszeit. Für den Forscher muss ein Birchermüesli reichen. Eine Sitzung mit dem BAG steht an. Später holt er die Mädchen von der Kita. Heute gibt es noch eine Runde Verstecken vor dem Nachtessen. Danach, wenn Ruhe eingekehrt ist, wird er weiterknobeln, wie wir am besten mit unseren Krankheiten durchs Leben kommen.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im UZH Magazin 1/23.