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Weltraumforschung

Der Weltraum als Werkstatt

Im Orbit lassen sich Dinge produzieren, die auf der Erde nicht möglich sind, sagt Oliver Ullrich. Der Biochemiker und Raumfahrtmediziner über schwerelose Zellen, den UZH Space Hub und den Menschen als interplanetarische Spezies.
Roger Nickl
Oliver Ullrich vor einem Space Shuttle.
Oliver Ullrich ist der Direktor des UZH Space Hubs.

Oliver Ullrich, Sie sind Direktor des UZH Space Hub und forschen im Bereich Space Biotechnology. Wann haben Sie begonnen, vom Weltraum zu träumen?

Oliver Ullrich: Während meiner früheren Forschung begann ich mich dafür zu interessieren. Ich hatte also kein «Weltraumerweckungserlebnis» und der Weltraum gehörte auch nicht zu meinen Bubenträumen. Bevor ich an die UZH kam, arbeitete ich an der Universität Magdeburg zur molekularen Immunologie.

Ich bin dabei auf eine in «Science» publizierte Arbeit eines Schweizer Pioniers in der Weltraumforschung gestossen: Augusto Cogoli führte 1983 auf einer der frühen Space-Shuttle-Expeditionen ein bahnbrechendes Experiment mit menschlichen Lymphozyten durch. Er stellte dabei fest, dass diese in Schwerelosigkeit nicht mehr gut funktionierten. Hier zeigte sich erstmals, dass die Schwerkraft die Funktion und das Verhalten von menschlichen Zellen möglicherweise fundamental reguliert. Wenn man diese Kraft wegnimmt, wie das im All geschieht, funktioniert eine normale menschliche Zelle nicht mehr normal.

Das hat mich interessiert. Daraufhin begann ich vor 18 Jahren zuerst mit Forschungen mittels bodengestützter Simulationen und Experimenten auf Parabelflügen, mit denen für kurze Zeit Schwerelosigkeit erzeugt werden kann. Später folgten parallel dazu Versuche auf suborbitalen Forschungsraketen und auf der Internationalen Raumstation ISS. Auch dort wurde deutlich, dass die Schwerelosigkeit Effekte auf die Zellen hatte, die man weiter erforschen sollte.

Was hat Sie daran fasziniert?

Ullrich: Über Schwerkraft denkt man in der Regel nicht nach – sie ist einfach. Wir leben auf der Erde. Dinge, die uns so selbstverständlich umgeben, nehmen wir oft als nicht wirklich relevant wahr. Die Erkenntnisse aus der Schwerelosigkeit zeigten nun aber, dass Schwerkraft eben für unsere Biologie essenziell ist. Die Frage, warum das so ist, warum eine Zelle Schwerkraft braucht, um gut zu funktionieren, hat mich seither nicht mehr losgelassen.

Haben Sie bereits eine Antwort auf diese Frage?

Ullrich: Wir haben herausgefunden, dass die gesamte Zelle auf die Schwerelosigkeit reagiert. Das heisst: Die ganze Zelle ist der Sensor, nicht ein bestimmtes Molekül oder ein Rezeptor. Sie überträgt die Schwerkraft mechanisch auf den Zellkern, das verändert die Position von bestimmten Genen und führt zu einer veränderten Genregulation.

2014 machten wir ein bahnbrechendes Experiment auf der Internationalen Raumstation ISS. Dort haben wir zum ersten Mal live, direkt im All, diese Reaktion mitverfolgen können. Wir stellten fest, dass die Zelle innerhalb von Sekunden auf die Schwerelosigkeit reagierte. Innerhalb einer Minute konnte sie sich aber an die neue Situation anpassen. Der Mechanismus war viel schneller, als wir erwartet hatten. In weiteren Experimenten konnten wir die Reaktion auf die Schwerelosigkeit bei mehreren zehntausend Genen beobachten und untersuchen. Und wir konnten die Gene eruieren, die verändert wurden. Diese sind nicht zufällig über das Genom verteilt, sondern bilden Cluster. Die Schwerkraft ist in der räumlichen Struktur unserer Gene kodiert. Genauso, wie es einen genetischen Code gibt, gibt es einen räumlichen Code für die Reaktion auf Schwerkraft und auf die Schwerelosigkeit.

Weshalb ist diese Erkenntnis wichtig?

Ullrich: Zum einen können wir damit den fundamentalen Aufbau von Zellen verstehen. Ich bin auch Anatom. Die Anatomie weiss seit Jahrhunderten, dass der menschliche Körper an die Schwerkraft angepasst ist. Das hat unseren Bewegungsapparat, aber auch alle unsere Organe geprägt und wirkt eben auch auf Zellebene. Dies zu begreifen, ist fundamental für das Verständnis von Leben auf der Erde.

Kann man daraus auch einen praktischen Nutzen ableiten?

Ullrich: Wenn wir wissen, dass die Schwerelosigkeit einen entscheidenden Effekt auf das Verhalten und das Funktionieren von Zellen hat, können wir sie unter anderem als Werkzeug einsetzen. Das haben wir kürzlich getan. In zwei Weltraummissionen auf der Internationalen Raumstation ISS haben wir dreidimensionale, organähnliche Gewebe aus menschlichen Stammzellen herstellen können. Solche Ge­webe wachsen nur in der Schwerelosigkeit dreidimensional, auf der Erde und im Labor tun sie es nicht ohne hochkompli­zierte Hilfsmittel. Unter anderem durch unsere Forschung gibt es nun ein neues Instrument, mit dem man im Weltraum neue Dinge erschaffen kann, die vorher nicht möglich gewesen sind.

Was können Sie damit konkret machen?

Ullrich: Wir haben die Möglichkeit, aus Stammzellen von Erwachsenen unter Schwerelosigkeit funktionstüchtige, dreidimensionale Gewebe zu produzieren – aktuell funktioniert das mit Leber, Knochen und Knorpel. Besonders menschliches Lebergewebe ist wertvoll für die Medikamentenentwicklung. Viele Medikamente scheitern in klinischen Studien, weil sie für die Leber toxisch sind. Wenn man diese toxische Wirkung in einer frühen Phase der Medikamentenentwicklung bereits feststellen kann, kann man sich unzählige Tierversuche und damit auch viel Zeit und Geld sparen. Mit den dreidimensionalen menschlichen Geweben, die wir im All produzieren können, ist das möglich.

Künftig wachsen dann Transplantationslebern und -knochen im All?

Ullrich: Das ist der heilige Gral – der Ersatz von Geweben, die man ausserhalb des Körpers züchtet. Die Technologie dazu ist superkompliziert, aber im Prinzip ist das machbar. Wir könnten künftig die kleinen im All hergestellten Gewebestückchen liefern, aus denen nachher ein dreidimensionales Organ mit Hilfe eines Bio-Printers hergestellt werden kann – auf der Erde oder vielleicht sogar im All.

Wie realistisch ist das?

Ullrich: Vom Ansatz her ist es vielversprechend. Wie der Erfolg in der Klinik aussieht, kann man natürlich nie vorhersagen. Aber das ist immer so: Die Forschung geht mit vielen Ideen an den Start, nur ganz, ganz wenige schaffen es bis zum Ziel. Ich sehe da aber ein grosses Potenzial. Auch deshalb, weil die Transportkosten ins Weltall dramatisch sinken. Zudem wird es in Zukunft im erdnahen Weltraum noch mehr Trägerplattformen geben, auf denen Experimente und Produktion durchgeführt werden können. Das ist nicht mehr weit weg in der Zukunft. In den USA wird bereits an diesen Plattformen gebaut. Die Nutzung des Weltraums hat heute eine praktische Bedeutung für den Menschen: Er kann eine Werkstatt dafür sein, Dinge zu tun, die auf der Erde nicht möglich sind.

Die Nutzung des Weltraums hat massiv zugenommen, neben staatlichen Raumfahrt­programmen realisieren heute auch Private wie der US-Milliardär Elon Musk Projekte im All. Welche Bedeutung hat der Weltraum heute – wissenschaftlich und kommerziell?

Ein Satellit vor der Erde.
Im Weltraum ist heutzutage viel los.

Ullrich: Mit der Kommerzialisierung des unteren Erdorbits sind Forschungsprojekte möglich geworden, die nicht mehr von den grossen Weltraumnationen USA und Russland – und aktuell auch China – abhängig sind. Den Anfang hatte die NASA vor gut zehn Jahren mit dem Vorstoss gemacht, die Internationale Raumstation ISS kommerziell zu nutzen. Parallel dazu hat sie die Transportwege zur Raumstation kommerzialisiert. Das war die Geburtsstunde von SpaceX, der Firma von US-Multimilliardär Elon Musk. In der Folge hat das ein richtiges Feuerwerk von technologischen Entwicklungen ermöglicht.

Ohne die Initiative der NASA wären wir heute nicht so weit. Die ISS ist der erste Aussenposten im All, der die Entwicklung von kommerziellen Anwendungen für die Erde ermöglicht. Und sie ist ein Ort, wo alle Nationen friedlich zusammenarbeiten. So etwas gibt es auf der Erde nicht. Die ISS ist ein gutes Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn alle grossen, technologisch führenden Nationen ein gemeinsames Ziel verfolgen. Wenn die Menschheit gemeinsam im Weltraum agiert, kann Grossartiges entstehen.

Was könnte diese Zusammenarbeit in Zukunft bringen?

Ullrich: Ein Ziel der NASA ist es, den Mars durch den Menschen zu erforschen und – auf dem Weg dorthin – eine permanent bemannte Raumstation auf dem Mond sowie eine Raumstation im Mondorbit – das Lunar Gateway – zu schaffen. Mit dem vorhandenen Budget halte ich diese Ziele für beinahe unerreichbar. Die Ressourcen, die es braucht, um die Technologie für interplanetarische Reisen zu entwickeln, können von einem einzelnen Land nicht aufgebracht werden. Wenn wir in Zukunft eine interplanetarische Spezies werden wollen, müsste es gelingen, dass verschiedene Nationen friedlich und erfolgreich zusammenarbeiten. Es braucht die kritische Masse der ganzen Menschheit.

Wenn das gelingt, könnten wir künftig den Mond oder den Mars besiedeln?

Ullrich: Besiedelt würden Mond und Mars nicht, aber es würden Forschungsstationen entstehen, Outposts. Das sind ja keine lebensfreundlichen Planeten. Man wird auf dem Mond oder auf dem Mars Dinge testen können, die dann wiederum für weitere interplanetarische Missionen relevant sind. Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang ist die Autonomie, also die Frage, ob und wie wir unabhängig von der Erde leben könnten. Wie können wir beispielsweise lernen, mit nur wenigen, immer wieder genutzten Ressourcen lange Zeit in einer lebensfeindlichen Umgebung zu überleben. Die Erforschung von Habitaten auf dem Mond und dem Mars könnten so auch sehr relevant sein für das Verstehen von Ökosystemen auf der Erde.

Was könnten wir denn dort für das Leben auf der Erde lernen?

Ullrich: Wir haben auf der Erde viele Ressourcen und der Planet ist wunderbar. Letztlich leben wir aber auf einer dünnen Erdkruste mit wenig Atmosphäre um uns herum. Unter uns ist das Leben unmöglich und über uns auch – und zwar bis in die unendlichen Weiten des Universums. Wir müssen also lernen, mit diesem ganz schmalen Streifen lebensspendender Oase auszukommen, die in der lebensfeindlichsten Umgebung unterwegs ist, die man sich vorstellen kann. Wir müssen verstehen lernen, wie die Menschheit mit begrenzten Ressourcen möglichst gut und erfolgreich leben kann. Dazu lässt sich im All viel lernen. Denn dort gibt es nichts oder zu wenig, womit ein Mensch existieren kann. Wenn man es geschafft hat, im Kleinen in einer solchen Umgebung zu überleben, hat man auch viel für das Leben im Grossen, auf der Erde, gelernt.

Was kann man im Weltraum sonst noch lernen?

Ullrich: Neben der Biotechnologie sind die Fortschritte in der Erdbeobachtung sehr interessant. Ihre Methoden werden immer präziser und die Daten immer höher aufgelöst. So wird man in Kürze die Gesundheit von Pflanzen aus dem All eruieren können. Hat etwa das Getreide auf einem Feld genug Wasser und Dünger? Wir können künftig aus dem erdnahen Orbit Daten erheben, die es uns ermöglichen, gezielt, ressourcenschonend und effizient Präzisionslandwirtschaft zu betreiben. Und wir können die Biodiversität unseres Planeten erkunden. Das ist auch ein Forschungsgebiet, auf dem die UZH international ganz vorne ist. Wissenschaftlich führend ist die UZH auch in der Astrophysik. Das dort zum Einsatz kommende Supercomputing bringt extrem interessante Innovationen hervor.

Weltraumforschung auch im Bereich Erdbeobachtung ist an der UZH am Space Hub gebündelt, den Sie leiten – wo sehen Sie Stärken dieses Forschungsverbunds?

Ullrich: Die UZH ist in der Weltraumforschung seit Jahren hervorragend unterwegs. Mit dem Space Hub sind wir nun in der Lage, diese Forschung und die Forschenden stärker zu vernetzen, nach innen und nach aussen. Die UZH ist auf denjenigen Gebieten der Weltraumforschung stark, die sich momentan am meisten entwickeln: Erdbeobachtung, Life Sciences, Astrophysik, Supercomputing und autonomes Navigieren. Wir sind jetzt daran, weitere Disziplinen näher zusammenzubringen. Das ist das Schöne an einer fachlich breit aufgestellten Universität wie der UZH: Die Diversität ist eine grosse Chance, um ganz neue Fragen zu stellen und innovative Projekte zu lancieren.

Hinzu kommt, dass der UZH Space Hub auch Forschung ermöglicht, indem er Infrastruktur bereitstellt – etwa im Rahmen des Forschungsflugprogramms des Swiss SkyLab, das in den letzten sechs Jahren in Dübendorf aufgebaut und etabliert wurde. Der Space Hub fördert zudem intensiv den Transfer, indem er Forschung mit Startups, KMUs und der Industrie vernetzt.

Porträt von Oliver Ullrich
Biochemiker und Raumfahrtmediziner Oliver Ullrich.

Sie beschäftigen sich auch aus theologischer Perspektive mit dem Weltraum. Vor kurzem haben Sie ein Studium der Theologie an der Päpstlichen Lateranuniversität zu Rom abgeschlossen. Weshalb interessieren Sie sich für Theologie?

Ullrich: Mich interessiert zum Beispiel die Frage, wie man den Menschen aus einer erweiterten Sicht der Dinge in den Kontext von Raumfahrt und Universum einordnen kann. Momentan ist Raumfahrt technologisch geprägt. Doch die Frage ist eigentlich, was der Mensch auf dem Mond oder Mars sucht. Muss er überhaupt dorthin? Braucht es Raumfahrt? Gibt es einen Sinn, den der Mensch im All hat? Ist er nur ein Erdling oder hat er eine universelle Bedeutung? Und gehört die Raumfahrt zu seinem natürlichen Wirkungsrahmen? Das sind Fragen, die weit über die Empirie der naturwissenschaftlichen Forschung hinausgehen. Sie lassen sich aber mit der Methodik der Philosophie und der Theologie erdenken. Nur sie stellen die Fragen nach dem Sein an sich und nach dem Sinn des Seins.

Macht es aus dieser Perspektive Sinn, auf den Mond oder den Mars zu fliegen?

Ullrich: Das müssen wir herausfinden. Das meine ich nicht ausweichend, sondern in vollem Ernst. Der Mensch war schon immer auf Wanderschaft – das ist auch ein zutiefst biblischer Gedanke. Wir waren immer schon eine mobile, neugierige Spezies. Die meisten neuen Erkenntnisse des Menschen ergaben sich auf Grund seiner Mobilität im Raum der Geschichte. Sie entstanden aus dem Unterwegssein und Explorieren. Der Mensch wird auch durch die Raumfahrt zu neuer Erkenntnis gelangen. Wir sollten eines Tages verstehen lernen, wo unser Ort im Universum ist.

Wie meinen Sie das?

Ullrich: Ich versuche das auf eine zentrale Frage zu schärfen: Wir leben hier im Einflussbereich eines mittelgrossen Sterns, unserer Sonne. Sie lebt etwa noch 5 bis 6 Milliarden Jahre. In der nächsten Milliarde Jahren wird das Leben auf der Erde und damit der Mensch nicht mehr sein, weil die Sonne expandiert. Die Erde ist gut 4,5 Milliarden Jahre alt und das erste Leben entstand bereits kurz danach – das heisst, wir haben vier Fünftel der Zeit für Leben auf der Erde hinter uns. Wir sind am Ende des Zeitstrahls. Es kann gut sein, dass das unser Schicksal sein wird und es keine Fortsetzung der Geschichte der Menschheit im All gibt. Es könnte aber auch sein, dass in ferner Zukunft der Mensch Fähigkeiten entwickelt, um die Erde zu verlassen und auf andere Planeten zu gehen. Genauso wie er einmal Afrika verlassen hat, um den ganzen Planeten zu besiedeln. Die Geschichte ist in der Zukunft offen.

 

Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin, Ausgabe Nr. 3, 2022.

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