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Covid-19-Forschungsprojekte

«Hört mich hier jemand?»

Wie gelingt es UZH-Professorinnen und -Professoren Geistervorlesungen abzuhalten? Wie sind die Kirchen durch die Krise gekommen? Die besonderen Umstände der Corona-Pandemie veranlassten neue Forschungsfragen. Wir stellen zwei aktuelle Projekte vor.
Nathalie Huber
Soziologieprofessor Jörg Rössel hält eine Vorlesung im leeren Hörsaal.
Geistervorlesung an der UZH: Soziologieprofessor Jörg Rössel spricht vor leeren Rängen.


Das Coronavirus in all seinen Facetten verstehen und innovative Lösungen zu seiner Bekämpfung zu finden – dazu tragen an der UZH zahlreiche medizinische und naturwissenschaftliche Projekte bei. Die Pandemie hat auch die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung animiert. Sie liefert den UZH-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern viel Stoff für neue Forschungsprojekte oder veränderte Forschungsdesigns. Wir stellen an dieser Stelle exemplarisch zwei Projekte vor. 

Geschlossene Räume

Der Sprachwissenschaftler Heiko Hausendorf plante auf Anfang April ein vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Projekt, das untersucht, wie Kommunikation mit bestimmten Räumen zusammenhängt – zum Beispiel das Gespräch am Ticketschalter, der Gottesdienst in der Kirche oder die Vorlesung im Hörsaal. Aufgrund des Lockdowns waren aber diese Räume nicht mehr zugänglich – dem Professor für Deutsche Sprachwissenschaft fehlte praktisch von einem Tag auf den anderen sein zentraler Forschungsgegenstand. Zumindest beinahe.

«Wir sind dann glücklicherweise auf das interessante Phänomen der Geistervorlesungen gestossen», sagt Hausendorf. Gleich wie bei Fussballspielen in leeren Stadien nahmen UZH-Professorinnen und -Professoren ihre Vorlesungen in leeren Hörsälen auf – um ihre Studierenden mittels Videoaufzeichnungen zu unterrichten. «Wir wollten diese für die UZH einmalige Situation unbedingt dokumentieren», sagt Hausendorf. «Und wir wollten herausfinden, ob und wie sich die Praxis des Vorlesens dadurch verändert, dass sie zwar im gleichen Raum stattfindet, aber keine Interaktion mehr möglich ist.» Letztlich geht es Hausendorf um die Frage, inwieweit der Hörsaal für eine Vorlesung notwendig ist.   

Gemeinsam mit seinen Doktorandinnen Johanna Jud und Alexandra Zoller sowie dem Postdoktoranden Kenan Hochuli zeichnete er eine Reihe dieser Geistervorlesungen an der UZH auf. «Wir filmten die Dozierenden mit unserer Kamera, in der Situation, in der sie vor eigener Kamera dozieren», erklärt Hausendorf.

Den Raum einnehmen

Das Team wertet nun die Aufnahmen von den Dozierenden anhand der Methoden der Interaktionslinguistik aus. Die Wissenschaftler analysieren dabei das gesprochene Wort, aber auch die Gestik, Mimik, den Blickkontakt oder das sogenannte Embodiment: Wie Professorinnen und Professoren den Raum betreten, ihn einnehmen und damit beispielsweise verkörpern, dass sie Dozierende sind. Die Forschenden werden auch die Situation der Studierenden untersuchen, wenn sie von zu Hause aus die Vorlesungen rezipieren. Letztlich wollen sie ihre Analysen mit einer normalen Vorlesungssituation vergleichen.

Viele Irritationen

Erste Auswertungen der Auftritte der Dozierenden zeigen, dass die Situation der Geistervorlesung eine Reihe interessanter Phänomene hervorbringt. Die Dozierenden haben laut Hausendorf beispielsweise Mühe, eine passende Ansprache zu finden. Sie äussern häufig selbstreflexive Kommentare, wie «hört mich überhaupt jemand?», oder «ich sehe hier niemanden», und sie treten auch mal aus dem Bild heraus. «Diese Reaktion zeigt zum Beispiel, dass der Hörsaal nicht als Aufnahmestudio funktioniert», so Hausendorf.

Nicht zuletzt aus eigener Erfahrung ist er überzeugt: «Für Dozierende hat ein voller Hörsaal eine ganz eigene Sogkraft.» Obwohl eine normale Vorlesung im Hörsaal hauptsächlich eine monologische Situation darstelle, sei sie höchst interaktiv. Dies belegten gerade die vielen Irritationen, gegen die Dozierende bei ihren Geistervorlesungen ankämpften. Ihre Schwierigkeiten seien auf die abwesenden Studierenden und damit auf den leeren Raum zurückzuführen. Für Heiko Hausendorf ist klar, dass es den Hörsaal für Vorlesungen weiterhin brauchen wird. «Die Zukunft der Vorlesung sollte im Hörsaal stattfinden, nicht im Podcast», findet er.

 

In der Coronakrise haben einige Kirchen neue Medien entdeckt und beispielsweise ihre Gottesdienste im Internet übertragen.

Kirchen und Corona

Auch die Kirchen sind durch die Pandemie gefordert. Gottesdienste, Trauungen, Beichten, Sterbebegleitungen oder Abdankungen – viele religiöse Praktiken bedingen den direkten persönlichen Kontakt. Doch gerade dieser durfte während der Covid-19-Pandemie nicht mehr stattfinden. In den zurückliegenden Wochen haben deshalb Pfarrpersonen und Kirchgemeinden nach Lösungswegen gesucht, wie sie dennoch mit ihren Gemeindemitgliedern in Verbindung bleiben konnten. «Auffallend war dabei, dass viele religiöse Online-Praktiken entstanden sind: Es wurden Gottesdienste oder Konfirmationsfeiern gestreamt, Seelsorge fand auf WhatsApp statt, das Kirchenpersonal nutzte neu Twitter, Instagram oder Podcasts», sagt Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der UZH.

Was ist gelungen, was misslungen

Wie Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie Pfarrer mit der ausserordentlichen Situation umgegangen sind, will Thomas Schlag nun wissenschaftlich erheben. Er hat dazu die CONTOC-Studie, Churches Online in Times of Corona, initiiert. Das Forschungsprojekt fokussiert folgende Fragen: Welche Rolle spielt der Einsatz digitaler Medien seitens der Kirche, um das religiöse Leben aufrecht zu erhalten – und wie gut ist dies bisher gelungen? Wie könnten in Zukunft digitale Formate eingesetzt werden, und wie müsste sich die angestammte religiöse Praxis verändern, um mehr Gläubige zu erreichen? Denn laut Schlag war die Anzahl Klicks bei Online-Gottesdiensten zuweilen grösser als die Zahl der sonntäglichen Kirchgängerinnen und -gänger vor der Pandemie. 

Ausserdem untersucht die Studie, ob sich die Kirchgemeinden während des Lockdowns mit bestimmten anderen Akteuren in ihrem Sozialraum – beispielsweise Vereinen ­– zusammengetan haben und dadurch neue Netzwerke aufbauen konnten. «Wir sind natürlich gespannt, ob die Kirchen gestärkt aus dieser Krise hervorgehen», sagt Thomas Schlag.

Interessierte Landeskirchen  

Auch die verschiedenen Landeskirchen der Schweiz sind an den Studienergebnissen interessiert. «Mit unserer Studie können wir die Kirchen darüber orientieren, welche Arbeitshilfen sich während der Krise bewährt haben und wie kompetent ihr Personal mit digitalen Medien umgeht», erklärt Schlag. Gleichzeitig würden die Erkenntnisse in die universitäre theologische Lehre einfliessen, denn die Digitalisierung werde die kirchliche Realität auch in der Post-Coronavirus-Zeit prägen.

Bis Ende Juni soll das gesamte Pfarrpersonal in der Schweiz, Österreich und Deutschland befragt werden. Aber nicht nur dort: Durch ein von Zürich aus aufgebautes internationales Forschungsnetzwerk wird die Studie parallel in weiteren 21 Ländern auf fünf Kontinenten durchgeführt. Thomas Schlag leitet die CONTOC-Studie gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der evangelischen und katholischen Theologie aus der Schweiz und Deutschland.

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