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200 Jahre Gottfried Keller

«Sein Glanz ist nie verblasst»

Eine öffentliche Ringvorlesung an der UZH beleuchtet die vielen Facetten des Dichters, Erzählers, Politikers und Malers Gottfried Keller, der vor 200 Jahren geboren wurde. Warum sein Werk noch heute lebendig ist und was ihn mit dem gleichaltrigen «Eisenbahnkönig» und «Bundesbaron» Alfred Escher verbindet, erklärt die Keller-Expertin Ursula Amrein im Interview.
Interview: David Werner
«Keller war ein grosser Pragmatiker, zugleich aber auch ein begabter Träumer», sagt die Literaturwissenschaftlerin Ursula Amrein.

 

Vor 200 Jahren wurde Gottfried Keller geboren, mit ihm wird dieses Jahr auch der Politiker und Unternehmer Alfred Escher gefeiert. Was haben die beiden bekanntesten Zürcher des 19. Jahrhunderts ausser ihrem Geburtsjahr gemeinsam?

Ursula Amrein: Die beiden verband eine wechselvolle Beziehung. Beide hatten ein brennendes Interesse an der Politik und verstanden sich als Kämpfer für den gesellschaftlichen Fortschritt. Ihr Leben war untrennbar verknüpft mit der Gründung des Schweizer Bundesstaates, der ersten demokratischen Republik modernen Zuschnitts in Europa.

Waren sich die beiden sympathisch?

Von Escher direkt weiss man wenig über Keller. Als kluger Repräsentant der Macht gab er sich enigmatisch. Tatsache aber ist, dass er Keller vielfach unterstützte. Ob er in ihm eher das literarische Talent oder einen Mitstreiter in eigener Sache sah, ist kaum auszumachen.

Und wie war es umgekehrt? Was hielt Keller von Escher?

Es gibt einen Tagebucheintrag aus dem Jahr 1847, in dem Keller Escher als Beispiel antiker Tugend in modernem Gewand darstellt. Keller hatte grosse Achtung vor den liberalen Gründerfiguren der modernen Schweiz, zu denen er auch Escher zählte. Doch die Richtung, in die sich Escher entwickelte, nachdem er in Zürich und in Bern an die Hebel der Macht gelangt war, behagte ihm nicht. Als Nationalrat und Zürcher Regierungsrat, als Eisenbahnpionier, als Gründer der ETH und als Finanzmagnat verquickte Escher staatspolitische Ziele mit privaten unternehmerischen Interessen. Er häufte Ämter und Mandate und schuf um sich herum ein System von Abhängigkeiten. So erlangte er eine kaum mehr zu kontrollierende Machtfülle. Escher wurde zum Inbegriff eines einseitig profitorientierten, ausser Rand und Band geratenden Wirtschaftsliberalismus. Keller sah darin eine Gefahr für die junge Republik und schrieb heftig dagegen an. 1860 schloss er sich der von Winterthur ausgehendenden demokratischen Bewegung an, die sich den Kampf gegen das Escher-System auf die Fahnen geschrieben hatte.

Wie lange hielt Keller das durch?

Nicht besonders lange. Bereits ein Jahr später wurde er selbst Teil des Escher-Systems, indem er das Amt des Zürcher Staatsschreibers annahm. Es war das bestbezahlte Amt, das der Kanton zu bieten hatte. Zuvor hatte Keller mehrfach Möglichkeiten einer Festanstellung ausgeschlagen, zum Beispiel eine Professur an der ETH.  Nun griff er zu.

Warum?

Für Keller war das Amt die Rettung aus materiell höchst prekären Lebensumständen. Er war als Schriftsteller bestenfalls regional bekannt und konnte von der Literatur nicht leben.

Hat sich Keller von Escher kaufen lassen?

Viele sahen das damals so, und die Kritik verstärkte sich später noch. Die Demokraten etwa hatten die Wahl anfänglich begrüsst, sahen sich später aber in der Hoffnung enttäuscht, mit Keller einen Interessevertreter in der Regierung zu besitzen.

Zu Recht?

Es ist klar, dass die neue Aufgabe Keller veränderte. Als Staatsschreiber durfte er nicht mehr öffentlich polemisieren, und seine Arbeitslast liess auch grössere literarische Projekte nicht mehr zu. Dennoch waren seine 15 Jahre als Staatsschreiber keine verlorenen Jahre. Keller machte eine für die damalige Zeit sehr seltene Erfahrung: Dass ein liberaler, politisch engagierter Schriftsteller selbst im Zentrum republikanischer Macht stand und Verantwortung trug, war im damaligen Europa nur in der Schweiz denkbar. Nur hier war die 1848er-Revolution, die viele Länder ergriffen hatte, erfolgreich gewesen. Dem Erbe dieser Revolution fühlte sich Keller verpflichtet.

War Keller ein Patriot?

Ja, im besten Sinn. Nationaler Dünkel war ihm fremd und verhasst, aber er identifizierte sich stark mit dem neuen Bundesstaat. Das 19. Jahrhundert steht ganz im Zeichen der Nationenbildung. In diesem Kontext war die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates ein einzigartiges Experiment. Keller sah dessen Entstehungsgeschichte in Analogie zu seinem eigenen Lebensweg: Parallel zur Konsolidierung des aus der Revolution hervorgegangenen Bundesstaates entwickelte sich Keller vom ungestümen Aufrührer zum besonnenen und in den letzten Jahren auch sehr besorgten Bürger.

Wie übte Keller sein Amt als Staatsschreiber aus?

Bestimmt sehr verantwortungsbewusst. Es gab nur einmal einen Skandal.

Was für einen Skandal?

Keller kam zu spät zur Amtseinführung, weil er sich am Vorabend mit dem Sozialistenführer Ferdinand Lasalle und dessen Entourage gestritten hatte und so alkoholisiert war, dass er den Amtsantritt verschlief.

Wie war Kellers Verhältnis zu seinen einstigen demokratischen Gesinnungsgenossen, nachdem er Staatsschreiber geworden war?

Er entfremdete sich von ihnen. Wie stark, das lässt die Novelle Das verlorene Lachen erkennen, die voller satirischer Anspielungen auf den Politik-Stil der Demokraten ist. Dieser Stil, den man heute vielleicht als populistisch bezeichnen würde, missfiel ihm. Auch die Forderung nach direkter Demokratie ging ihm zu weit.  Als 1866 der Winterthurer Landbote Escher mit einer Serie von kampagnenartig lancierten Enthüllungen und Anfeindungen zu erledigen versuchte, gab Keller mit in einem aufwendig recherchierten, sehr sachlich gehalten Artikel in der NZZ Gegensteuer. Allerdings vergeblich. Die Demokraten fegten kurze Zeit später das System Escher hinweg.

Nur Keller blieb, er behielt sein Amt als Staatsschreiber. Wie kam das?

Keller hatte sich so viel Respekt und Sachwissen erworben, dass man ihn nicht einfach davonjagen konnte, obwohl er das insgeheim befürchtet hatte. Er blieb noch sieben Jahre unter der demokratisch dominierten Regierung. In den Jahren davor war ihm als Schriftsteller der internationale Durchbruch gelungen. Keller konnte nun erstmals von seiner literarischen Produktion leben.

Das Escher-Denkmal vor dem Zürcher Hauptbahnhof geht auf Gottfried Kellers Initiative zurück.

 

Wie gestaltete sich der weitere Kontakt zu Escher?

Freundschaftlich. Keller war ein gern gesehener Gast in Eschers Villa Belvoir. Als Vertrauter von Eschers Tochter Lydia Escher-Welti verkehrte er dort auch noch nach Eschers Tod. Das monumentale Escher-Denkmal vor dem Zürcher Hauptbahnhof geht entscheidend auf die Initiative von Keller zurück. Er empfahl dafür den Bildhauer Richard Kissling. Kellers letzte Publikation überhaupt ist ein Artikel in der NZZ zur Denkmalweihe 1889 und wird zur postumen Würdigung des einstigen Kontrahenten und Mitstreiters.

Blenden wir nochmals zurück: Wie kam Keller überhaupt zur Politik?

Keller verkehrte nach dem Scheitern seiner Malerlaufbahn in den Kreisen deutscher Emigranten in Zürich, darunter Verleger, Publizisten und Schriftsteller. Sie erkannten Kellers Talent und förderten ihn. Keller selbst stellte im Rückblick seine Auseinandersetzung mit den Dichtern des Vormärz als Erweckungserlebnis dar. Über den Beginn seiner literarischen Produktion schreibt er: «Eines Morgens, da ich im Bette lag, schlug ich den ersten Band der Gedichte Herweghs auf und las. Der neue Klang ergriff mich wie ein Trompetenstoss.»

Keller gilt als Schweizer Nationalschriftsteller schlechthin. Sah er sich selbst auch so?

Nein, im Gegenteil, er wehrte sich gegen das Etikett des Nationalschriftstellers, das ihm schon zu Lebzeiten anhaftete. Als Politiker bezog er sich immer nur auf sein unmittelbares Umfeld, auf Zürich und die Schweiz.

Als Künstler dagegen fühlte er sich dem ganzen deutschsprachigen Raum verbunden. Seine fünf Jahre in Berlin gehören zu seinen künstlerisch fruchtbarsten. Fast alles in seinem Werk hat in Berlin seinen Ursprung: Hier verfasste er sein Hauptwerk, den Roman Der grüne Heinrich, hier liess er eine erweiterte Auflage seiner Gedichte erscheinen und hier schrieb auch den ersten Band der Leute von Seld­wyla. Daneben fasste er in Berlin eine Fülle von weiteren Ideen und Plänen, aus denen später mit zum Teil grossem zeitlichen Abstand sein übriges Werk entstand. 

Wie hat man Keller in Deutschland gesehen?

Seine Freunde aus der Emigrantenszene suchten Keller zunächst als neuen Georg Herwegh in Deutschland aufzubauen, später setzte ihn Paul Heyse als «Shakespeare der Novelle» durch. Während er in der Schweiz zum National- und Heimatdichter stilisiert wurde, sahen ihn in Deutschland viele als Vertreter einer heilen Welt, die von den ungeliebten Erscheinungen des Industriezeitalters verschont geblieben war. Wie in der Schweiz auch tendierte die Rezeption in Deutschland dazu, Kellers Modernität zu unterschlagen. Es gab aber auch andere Stimmen. Für manche repräsentierte er ein nicht-imperialistisches Deutschland, zum Beispiel für Walter Benjamin: In dessen Sicht stand Keller für eine Form republikanischer Bürgerlichkeit, die in Deutschland mit der Reichsgründung 1871 an ihr Ende gekommen war.

In diesem Haus am Neumarkt in Zürich verlebte Gottfried Keller seine Jugend.

 

Warum sind Kellers Novellen und Romane eigentlich so lebendig geblieben?

Bei Keller ist immer alles auf vibrierende Weise konkret und anschaulich. Seine Texte frappieren in ihrer unberechenbaren und doch immer höchst präzisen Bildlogik. Die Genauigkeit der Beobachtungen und die Intensität der wechselnden Stimmungen, der Witz, die Ironie, aber auch die Sehnsucht und Melancholie sind getragen vom Bewusstsein, dass einem das Leben nur einmal gegeben ist, und dass deshalb jeder einzelne Augenblick zählt. Aus dieser Haltung heraus schuf Keller eine Literatur, die uns noch heute packt und deren Glanz nie verblichen ist.

Woher kommt Kellers Vorliebe für das Konkrete, Anschauliche?

Entscheidend für Kellers Welt- und Menschenbild war die Begegnung mit dem atheistischen Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach in Heidelberg. Feuerbach weckte bei Keller die Einsicht, dass der Mensch sich seine Welt selbst schafft. Was auch immer er tut – er formt damit sein Umfeld mit. Es kommt also auf jedes Detail an. Damit lässt sich Kellers anschauliche Art zu schreiben, aber auch sein Politikbegriff erklären. Keller schreibt einmal: «Heute ist alles Politik und hängt mit ihr zusammen, von dem Leder an unserer Schuhsole bis zum obersten Ziegel am Dache.» Diese weit gefasste Vorstellung einer den Alltag bis in die letzte Faser hinein durchdringenden Politik mutet überraschend modern an.

Politik war für Keller also eher eine Lebenshaltung, weniger eine Frage der Überzeugung?

Hochtrabende Ideologien stiessen Keller ab. Politisch zu denken und handeln hiess für ihn, die eigene, konkrete Umgebung wach und aufmerksam mitzugestalten.

Hatte der Atheismus auch einen Einfluss darauf, wie Keller schrieb?

Der Atheismus schärfte Kellers Wertschätzung der Alltagswelt. Nach seiner Begegnung mit Feuerbach trieb Keller die bange Frage um, ob das Leben nach der Abkehr vom Gottesglauben prosaischer und kälter werde. Er war dann erleichtert, feststellen zu können, dass das Gegenteil der Fall war. «Es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher», schrieb er. Das Erstaunliche dabei ist, dass die Verabschiedung der Gottesidee bei ihm nicht auf eine abstrakte, leere Welt hinausläuft, sondern auf eine erfüllte Welt. Keller gelingt das Unerhörte, die Diesseitsorientierung zum Äussersten zu treiben – und uns zugleich als Poet zu verzaubern. Er war ein grosser Pragmatiker, zugleich aber – und das macht seine Grösse aus – war er auch ein begabter Träumer und verfügte über eine kaum zu bändigende Phantasie. Die Ringvorlesung an der UZH lässt daher dem Poeten den Vortritt vor dem Politiker und beginnt mit einem Vortrag zum Thema «Keller und der Traum».

 

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