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Osteuropa-Forschung

«Russland hat seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden»

Russlands Aussenpolitik entfaltet eine gefährliche Dynamik, sagt UZH-Professor Jeronim Perović im Interview. Er ist Direktor des Zentrums für Osteuropa-Forschung an der UZH, das kommende Woche mit einer Diskussionsveranstaltung zum Thema «Russland und der Westen» eröffnet wird.
Interview: David Werner
Der Kreml in Moskau. «Eigentlich schien die Zeit für eine Annäherung an den Westen reif», sagt Jeronim Perović, Direktor des Zentrums für Osteuropa-Forschung an der UZH. (Bild: Parshina Olga / iStock)

 

Herr Perović, es gibt die These, Putins aggressive Politik sei das Symptom eines tiefsitzenden russischen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber dem Westen. Was ist dran an dieser Vermutung?

Jeronim Perović: Die These vermag Russlands Verhalten nicht hinreichend zu erklären. Aus russischer Sicht bedeutet die Rückkehr auf die globale Bühne nur die Wiederherstellung eines «normalen» Zustandes und eines ausgewogeneren Mächteverhältnisses. Im Selbstverständnis vieler Russen, und nicht nur der Elite, ist Russland dazu bestimmt, Grossmacht zu sein. Als Grossmacht reklamiert Russland eine Vorrangstellung und besondere Interessen, insbesondere was den postsowjetischen Raum angeht. Mit seinem aggressiven aussenpolitischen Verhalten macht es deutlich, dass es gewillt ist, diese Interessen auch zu verteidigen. Moskaus Militäreinsatz in Syrien dient nicht nur der Stabilisierung des Assad-Regimes, sondern soll dem Westen auch signalisieren: wir sind gewillt, Militärmacht einzusetzen, und deshalb tut ihr gut daran, mit uns zu sprechen.

Wie stark ist das Gefühl in Russland, vom Westen bedroht zu sein?

In Russland herrscht das Gefühl vor, vom Westen nach dem Ende des Kalten Krieges «verraten» worden zu sein. Anstatt Russland in eine neue Sicherheitsarchitektur einzubeziehen, habe die Nato die Schwäche Russlands ausgenutzt und sich auf Kosten Russlands ausgeweitet. Dieses Narrativ stösst auf breite Zustimmung und russische Politiker bespielen es geschickt nach Innen und in der Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Dagegen lässt der russische politische Diskurs Empathie gegenüber möglichen Sicherheitsbedenken seiner Nachbarn weitgehend vermissen. Kaum jemand stellt sich die Frage, weshalb sich denn zahlreiche osteuropäische Staaten unter den Schutz der Nato gestellt haben oder die Ukraine Richtung Westen strebt.

Gibt es in Russland auch positive Gefühle dem Westen gegenüber?

Russland gehört zu Europa. Auch wenn immer wieder die Besonderheit Russlands als «eurasische» Grossmacht betont wird, so fühlen sich die Menschen in Russland doch eindeutig dem europäischen Kulturkreis zugehörig. Einen Graben gibt es hier also nicht wirklich. Leider hat sich aufgrund der internationalen Spannungen ein grosses Misstrauen gegenüber dem Westen herausgebildet. Die Politik hat Narben verursacht und es wird Zeit brauchen, diese wieder zu heilen.

Die Mittel-Osteuropäischen Länder unterscheiden sich stark in ihren Sympathien zu Putins Russland. Während in Polen und dem Baltikum die Angst vor Russland dominiert, suchen Länder wie Tschechien oder Ungarn in letzter Zeit die Nähe zu Putin. Wie kommt das?

Die baltischen Staaten und Polen waren lange Zeit Teil des Russischen Reiches und danach der Sowjetunion beziehungsweise des sozialistischen «Ostblocks». Die Beziehungen waren wiederholt auch von gewaltsamen Ereignissen geprägt, in der kollektiven Erinnerung überwiegen die negativen Momente. Dies ist im Fall von Ungarn oder Tschechien nicht so stark ausgeprägt, diese beiden Staaten kamen erst nach 1945 in den Einflussbereich der Sowjetunion. Es gibt zwar auch hier traumatische Erfahrungen – man denke an die Niederwerfung des Aufstands in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968 – aber insgesamt sind die Beziehungen historisch gesehen weniger belastet.

Die Beziehung von Ost und West steht heute nicht mehr im Zeichen des Gegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus, dafür aber von Liberalismus und Autoritarismus. Trügt der Anschein, oder fällt die Beziehung zwischen Russland und dem Westen wieder in alte konfrontative Muster zurück?

Autoritarismus ist keine Ideologie, sondern eine Staatsform. Kapitalismus ist in Russland durchaus auch vorhanden, allerdings mit einer starken Präsenz des Staates in der Wirtschaft. Es besteht somit keine unüberwindliche ideologische oder systemische Kluft zwischen dem Westen und Russland. Die Spannungen resultieren vor allem aus Interessenkonflikten, es geht um Fragen von Macht und Einflusssphären.

Wie sieht Russland die protektionistischen Tendenzen, die von der US-amerikanischen Regierung ausgehen? Als Gefahr oder als Chance?

Die Wirtschaftssanktionen der USA und der Europäer sind für Russland sehr unangenehm, sie verhindern vor allem dringend benötigte Investitionen in die russische Wirtschaft. Zum Teil konnten die negativen Effekte aufgefangen werden, indem etwa die Landwirtschaftsproduktion in Russland angekurbelt wurde oder man sich verstärkt Richtung Asien orientiert hat. Aber diejenigen in Russland, die meinen, Russlands Wirtschaft könne «autark» funktionieren, irren sich gewaltig. Noch nie war das Land stärker in die globalwirtschaftlichen Prozesse eingebunden als heute. Das Land braucht den Zugang zu westlichen Märkten, Technologien und Krediten. Und China ist kein Ersatz für Europa.

Steht ein neuer kalter Krieg bevor – oder befinden wir uns schon in einem solchen?

Die Rhetorik erinnert schon sehr stark an den Kalten Krieg. Allerdings halte ich solche Analogien für gefährlich, weil sie dazu verleiten, heutige Entwicklungen in den Kategorien der Vergangenheit begreifen zu wollen. Russland ist nicht die Sowjetunion und die internationale Politik ist nicht in erster Linie durch den Antagonismus zwischen dem Westen und Russland geprägt. Das macht die heutige Situation aber nicht weniger gefährlich.

Warum ist diese Situation so gefährlich?

Weil Russland seinen Platz in der sich herausbildenden neuen Weltordnung noch nicht gefunden hat und derzeit mit einer leider zum Teil sehr destruktiven Politik um Ansehen und Respekt kämpft. Ein Beispiel ist die Verhinderungspolitik Russlands im UNO-Sicherheitsrat. Russland beklagt die Eindämmungspolitik des Westens, doch es hat sich durch sein Verhalten weitgehend selbst in diese Situation hinein manövriert.

Wird es Russland jemals zulassen, dass die Ukraine sich nach Westen hin orientiert?

Tatsächlich hat Russland die Ukraine, abgesehen von einem Teil des Donbass und der Krim, wohl auf absehbare Zeit verloren. Moskau hält seine Hand schützend über die von Kiew abgefallenen Gebiete im Osten der Ukraine und hat damit in künftigen Verhandlungen ein Faustpfand. Doch der Krieg mit Russland hat die Ukrainer auch zusammengeschweisst und Kiew ist mehr denn je bestrebt, den Kurs Richtung Westen fortzusetzen.

Putins Strategie scheint zu sein, westliche Länder zu verunsichern und die EU zu spalten. Wie erfolgreich ist er dabei?

Moskau war von der Geschlossenheit der EU überrascht. Man hatte darauf gehofft, dass einzelne Länder ausscheren und das Sanktionsregime aufgeweicht würde. Die Sanktionen bestehen nun aber bereits seit über vier Jahren. Russland gibt sich trotzig, aber es ist klar, dass Moskau eine Normalisierung der Beziehungen mit Europa, seinem wichtigsten Handelspartner, braucht und wünscht.

Warum dieser Trotz? Weshalb sucht Russland nicht eine engere Kooperation mit den europäischen Ländern?

Es sucht diese durchaus, doch weder wird Moskau die Krim zurückgeben, noch wird es die Separatisten in der Ukraine fallen lassen oder die Unterstützung des Assad-Regimes aufgeben. Ich denke aber, dass es dennoch Handlungsspielraum gibt und Moskau zu bestimmten Kompromissen bereit wäre, wenn die Sanktionen aufgehoben würden. Aber Moskau muss aus all dem unbedingt als «Sieger» hervorgehen können, es muss sein Gesicht wahren können.

Würde Russland wie zu Jelzins Zeiten ins Chaos abdriften, wenn es sich in der heutigen Verfassung stärker dem Westen zuwenden und die autoritativen Zügel lockern würde?

In den 1990er Jahren lief vieles schief, keine Frage. Das Land stand am Rand des Bürgerkriegs, Millionen Menschen versanken in Armut, einige wenige bereicherten sich schamlos. Aber es gab auch eine positive Entwicklung, wichtige Reformen wurden eingeleitet. Dennoch operiert Putin seit seinem Amtsantritt vor 18 Jahren sehr erfolgreich mit dem Gespenst der 1990er Jahre und rechtfertigt so seinen autoritären Kurs. Und das funktioniert noch immer, das haben die Präsidentschaftswahlen gezeigt. Die Menschen setzen lieber auf Bewährtes und wollen keine neuen Abenteuer. Liberale Politiker haben in Russland keine Chance. Ich meine aber, etwas mehr Freiheit, Rechtssicherheit und weniger Repression würde Russland nicht schaden, die Menschen können durchaus damit umgehen und würden diese Freiräume nutzen, das Land voranzubringen. Aber der Staat scheint sich vor der eigenen Gesellschaft zu fürchten.

Sehen Sie eine Chance, dass in absehbarer Zeit ein Wandel in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen eintritt?

Eigentlich schien die Zeit für eine Annäherung reif, doch dann sind es immer wieder neue Ereignisse, die Skripal-Affäre oder vermeintliche russische Hackerangriffe auf westliche Infrastruktur, welche die Beziehungen belasten und wortwörtlich «vergiften». Wir beobachten eine ungute, gefährliche Dynamik und es braucht endlich wieder Gespräche auf höchster Ebene, damit wir aus dieser Abwärtsspirale herausfinden.

Welches sind Ihre Ziele für das neu gegründete Zentrum für Osteuropa-Forschung?

Unser Anliegen ist es, gegenwartsbezogene Forschung und Lehre zu Osteuropa zu stärken, Kompetenzen in diesem Bereich langfristig aufzubauen und Expertise auch für eine interessierte Öffentlichkeit bereitzustellen. Eine Universität muss sich den drängenden Herausforderungen dieser Welt stellen.

 

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