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Rechtswissenschaft/Politologie

«Der Ruf nach Demokratie wird immer lauter»

Das Zentrum für Demokratie Aarau, zu dessen Trägerschaft auch die UZH gehört, beobachtet weltweit die Entwicklung der Demokratie. Die Wissenschaftler bleiben aber nicht bei der Analyse stehen, sondern beraten auch Länder, die mehr Demokratie wagen wollen. Ein Team um Rechtsprofessor Andreas Auer, Vorsitzender Direktor des Zentrums, hat die Übergangsverfassung des neuen Staates Südsudan kritisch begutachtet. Jetzt unterstützt das Zentrum die Mongolei dabei, demokratischer zu werden.
Adrian Ritter

Andreas Auer: «Eine Verfassung muss aus der Gesellschaft wachsen und schlussendlich von ihr getragen sein.»

UZH News: Professor Auer, das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) forscht nicht nur, sondern bietet auch Beratung in Fragen der Demokratie. Wie kommt es dazu?

Auer: Die Demokratieberatung ist in den letzten 20 Jahren weltweit zu einem regelrechten Geschäft geworden. Es bewegen sich in diesem Feld Akteure mit mehr oder weniger grosser Kompetenz. Entsprechend wichtig ist es, auch akademisch fundierte Beratung anbieten zu können. Die Schweiz hat grundsätzlich gute Karten in der Demokratieberatung – mit ihrer Neutralität und demokratischen Erfahrung.

Innerhalb der Schweiz, so wage ich zu behaupten, ist das ZDA das kompetenteste akademische Zentrum zu Fragen der Demokratie. Seine Dienste sind sehr gefragt. Das zeigt sich etwa darin, dass unser Budget zu 31 Prozent über Drittmittel finanziert ist.

Wie schätzen Sie weltweit gesehen den Zustand der Demokratie ein?

Der Ruf nach Demokratie wird in vielen Ländern immer lauter, und die Demokratie selber breitet sich immer weiter aus. Interessant ist etwa das Beispiel Afrika. Dort gab es nach der Entkolonialisierung viele Kräfte, welche die traditionellen Stammesstrukturen als überholt betrachteten und sie beiseiteschoben, um «moderne», sprich westliche Staatsstrukturen aufzubauen.

Dabei ging vergessen, dass Stammesführer in vielen Gegenden Afrikas die zentralen Autoritäten waren und es teilweise bis heute sind. Solche Strukturen müssen eingebunden werden ins politische System. Länder wie Uganda und Botswana haben es verstanden, diesbezüglich Lösungen zu finden. Die Demokratie muss auch in Afrika auf die Zivilgesellschaft abgestimmt werden.

Wie sieht es im Rest der Welt aus?

Lateinamerika hat in den letzten 15 Jahren einen grossen Sprung vorwärts gemacht bezüglich Demokratie. Dasselbe gilt für Osteuropa. Natürlich gibt es auch Rückschläge und Ausnahmen wie etwa die Länder im asiatischen Teil der Ex-Sowjetunion oder die Ukraine und Weissrussland. Aber insgesamt äussern die Menschen weltweit heute viel deutlicher als je zuvor den Anspruch mitzuentscheiden.

Stichwort «Arabischer Frühling». Wie schätzen sie die Chancen der Demokratie in diesen Ländern ein?

Ich bin sehr zuversichtlich. Klar ist allerdings, dass es lange dauern wird, bis sich die Demokratie etablieren kann. Erst muss sich eine entsprechende Zivilgesellschaft entwickeln. Es wäre für das ZDA natürlich sehr interessant, auch Länder wie Ägypten, Libyen oder Tunesien auf ihrem Weg begleiten zu können.

Beim jüngsten afrikanischen Staat, dem Südsudan, hat eine solche Begleitung stattgefunden. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten hatte dem ZDA den Auftrag erteilt, die Übergangsverfassung und den Prozess ihrer Entstehung kritisch zu evaluieren. Dies geschah auf Wunsch des südsudanesischen Präsidenten. Wie sind Sie bei dieser Aufgabe vorgegangen?

Wir sind mehrmals in den Südsudan gereist und konnten mit allen Beteiligten reden, von Regierungsvertretern, Parlamentsmitglieder und hohen Militärs bis zu den traditionellen, lokalen Stammesführern. Um den Prozess der Verfassungsgebung zu verstehen, muss man die Akteure und ihre Interessen kennen.

Eine Verfassung muss aus der Gesellschaft wachsen und schlussendlich von ihr getragen sein. Das ist kein rein juristischer Prozess. Deshalb arbeiten am Zentrum für Demokratie Aarau Rechtswissenschaftler und Politologen gemeinsam an solchen Projekten.

Im Südsudan entstand die Verfassung zu wenig aus der Gesellschaft heraus?

Ja, und darum ist die Verfassung in der Bevölkerung auch nicht beliebt. Es gab zwar eine Verfassungskommission, sie bestand aber mehrheitlich aus Mitgliedern der Regierungspartei. Der ganze Prozess war vom Präsidenten gesteuert, abweichende Meinungen wurden nicht toleriert. Es gab pro forma einige öffentliche Beratungen, die aber nicht in den Prozess einflossen.

Welche anderen kritischen Punkte haben Sie gefunden?

Einer der wichtigsten Punkte war die starke Machtkonzentration beim Präsidenten. Wir bemängelten etwa, dass der Präsident gewisse Richter ernennen kann und seine Amtszeit nicht begrenzt ist. Des Weiteren kritisierten wir, dass die Übergangsverfassung die Anzahl Parlamentarier nicht festlegt und die zehn Gliedstaaten des Südsudans nicht explizit nennt.

Vor allem aber empfahl unsere Studie, bei der definitiven Verfassung, die noch ausgearbeitet werden muss, die Bevölkerung stärker einzubeziehen. Und die definitive Verfassung sollte unbedingt einem Referendum unterstellt werden. Nur so wird der verfassungsgebende Prozess zuvor auch demokratischer ablaufen. Reise mit offenem Ausgang: Der im Juli 2011 gegründete Staat Südsudan gibt sich eine neue Verfassung.

Reise mit offenem Ausgang: Der 2011 gegründete Staat Südsudan gibt sich derzeit eine neue Verfassung. Im Bild: Zugfahrt nach Wau/Südsudan.

Im Moment ist der Südsudan wohl mehr mit kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden als mit der neuen Verfassung beschäftigt?

Traurig, aber wahr. Unsere Studie erhält aufgrund der aktuellen Umstände vermutlich derzeit wenig Beachtung. Es ist zwar klar, dass der Südsudan noch eine definitive Verfassung braucht. Eine entsprechende Kommission wird derzeit bestimmt.

Aber ich mache mir keine Illusionen, dass unsere Vorschläge berücksichtigt werden. Unser Bericht ist beim südsudanesischen Präsidenten nicht auf Begeisterung gestossen, wie ich indirekt gehört habe. Der Präsident eines Landes, das sich auf dem Weg in eine Diktatur befindet, hört das nicht gerne. Wobei es klar unser Auftrag war, eine Studie zu verfassen, die auch kritische Punkte benennt. Sonst hätte ich den Auftrag gar nicht angenommen. Ich mache keine Gefälligkeitsgutachten.

Wenn Sie ein Land auf dem Weg zu mehr Demokratie beraten, gibt es da einen goldenen Weg zu einer Verfassung?

Nein, weder in der Schweiz noch anderswo. In den letzten 30 Jahren sind in der Schweiz die meisten Kantonsverfassungen revidiert worden. Auch dabei gab es Unterschiede – im einen Kanton übernahm das Parlament diese Aufgabe, im anderen ein Verfassungsrat. Wichtig ist sicher, dass eine neue Verfassung in der Gesellschaft breit diskutiert wird. Das ist eine Lektion, die ich in den 1970er Jahren in Madagaskar gelernt habe.

Was war damals in Madagaskar Ihre Aufgabe?

Ich war als Lehrbeauftragter dort tätig und kannte das Land relativ gut. Nach einem Präsidentenwechsel wurde ich angefragt, eine neue Verfassung für das Land auszuarbeiten. Ich habe zugesagt und sozusagen am Schreibtisch eine neue Verfassung entworfen. Ich versuchte etwa zu berücksichtigen, dass in Madagaskar ältere Menschen sehr angesehen sind und sah einen Ältestenrat vor. Aber mein Vorschlag landete in der Schublade. Da realisierte ich: Eine Verfassung muss von den betroffenen Menschen selber ausgearbeitet werden.

Deshalb habe ich später auch den Auftrag abgelehnt, für den Kanton Genf im Alleingang eine Verfassungsrevision auszuarbeiten. Ich habe stattdessen einen Verein gegründet, der die Totalrevision der Genfer Verfassung im Rahmen einer verfassungsgebenden Versammlung forderte. Mit einem Ja-Anteil von 70 Prozent wurde dieses Anliegen 2008 in einer Volksabstimmung gutgeheissen und daraufhin umgesetzt. Im Oktober 2012 kann jetzt die Volksabstimmung über die neue Genfer Verfassung stattfinden.

Sie hatten 2004 mit einer Gruppe von Akademikern einen ähnlichen Prozess im Falle von Zypern angestossen. Warum?

Die Idee war, dass die griechischen und türkischzypriotischen Bevölkerungsteile erstmals selbstständig und gemeinsam eine Verfassung für ein wiedervereinigtes Land ausarbeiten. Wir arbeiteten ein Konzept für eine verfassungsgebende Versammlung aus. Die Idee wurde auch von der Europäischen Union unterstützt. Die beiden Regierungen der geteilten Insel unterstützten den Prozess allerdings nicht, da sie keine Macht abgeben wollten.

Aber unser Vorschlag liegt vor. Wer weiss, vielleicht wird er eines Tages umgesetzt. Das können nur die Betroffenen selber tun. Wir müssen die Umstände in unserer Arbeit berücksichtigen, aber wir können sie nicht ändern. Ideen werden erst aufgegriffen, wenn die Zeit reif ist dazu. Deshalb sollte man nicht davor zurückschrecken, auch originelle Ideen aufzuwerfen.

Derzeit startet am ZDA das nächste Projekt. Ihr Team wird die Mongolei in Fragen der Demokratie beraten. Worum geht es?

In der Mongolei endete 1990 die sozialistische Periode. Seither hat sich das Land stetig in Richtung Demokratie entwickelt und wird diesbezüglich in der Region auch als Modell betrachtet. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten unterstützt die Mongolei auf dem Weg der Demokratisierung und Dezentralisierung.

Das ZDA ist Teil dieser Bestrebungen. Der mongolische Präsident Tsachiagiin Elbegdordsch hat unser Zentrum 2011 besucht. Wir haben jetzt die Aufgabe, beratend tätig zu sein, wenn es darum geht, auf lokaler Ebene mehr demokratische Elemente einzuführen. Wie dieser Prozess genau vonstatten gehen wird, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Ich werde im Herbst in die Mongolei reisen, um das Land besser kennenzulernen.

Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) ist ein Forschungszentrum an der Universität Zürich. Zu seiner Trägerschaft gehört neben der UZH die Stadt Aarau, der Kanton Aargau und die Fachhochschule Nordwestschweiz. Andreas Auer war bis 2008 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Genf. Seither hat er diese Funktion an der UZH inne und ist gleichzeitig Vorsitzender der Direktion des ZDA.