China verstehen
Er ist ehemaliger Spitzensportler, Journalist, Diplomat, ein heute noch international tätiger Geschäftsmann, Schlossbesitzer, Berater der wichtigsten zeitgenössischen Kunstmuseen und vor allem: einer der besten Kenner der chinesischen Gesellschaft und der wichtigste Sammler chinesischer Gegenwartskunst. Sein Lebensweg sei nicht das Produkt einer langfristigen Planung, sagt Uli Sigg auf die Frage, was hinter seinem ungewöhnlichen Werdegang steht: «Es waren vielmehr Gelegenheiten, die sich ergeben haben und die ich ergriffen habe.»
Ein wichtiger Antrieb war seine Lust, sich immer wieder Neuem auszusetzen: «Damit ich lerne und nicht bequem werde», sagt er. Die Gelegenheit, die sein Leben wohl am stärksten geprägt hat, ergab sich in den 1970er-Jahren. Damals hatte ihn der Medienkonzern Ringier wegen seiner Beziehungen im Nahen Osten als Wirtschaftsjournalisten angeworben – ohne dass er journalistische Erfahrung hatte.
Der Aufzugshersteller Schindler aus dem luzernischen Ebikon interessierte sich für ihn, weil das Unternehmen nach der Ölkrise sein Geschäft im Nahen Osten ausbauen wollte. «Niemand kannte sich damals in der Region gut aus», sagt Sigg, «deshalb waren meine Kenntnisse gefragt.»
«Wirtschaftliche Verrücktheit»
Sigg sagte bei Schindler zu und als Ende 1978 eine chinesische Delegation mit der Anfrage für ein Joint Venture bei Schindler anklopfte, war Sigg bereit, sich auf das nächste Abenteuer einzulassen. «Damals war das eigentlich eine Verrücktheit», erinnert er sich. «Kaum ein Unternehmen wagte es, Geld und moderne Technologie nach China zu bringen.»
In den Verhandlungen sah sich Sigg chinesischen Regierungsvertretern und Beamten gegenüber, denen Unternehmertum und Marktwirtschaft fremd waren. «Es gab kein Gesetz, das festlegte, was eigentlich ein Unternehmen ist, wie die Governance aussieht und wie die finanziellen Aspekte eines Joint Venture geregelt sind», so Sigg. «Ich musste das alles in komplexen Verhandlungen definieren.»
Dabei kamen ihm Eigenschaften zugute, die er in jungen Jahren als Ruderer gelernt hatte: Ausdauer und ein klarer Blick für das Ziel: «Mir war klar, dass der Erste, der ein solches Joint Venture abschliesst, Erfolg haben würde, denn das Modell durfte nicht scheitern.» Zu wichtig war es für China, sich wirtschaftlich zu öffnen und einen Zugang zu westlichen Unternehmen zu finden.
Kunst als Schlüssel zur Gesellschaft
China war für Sigg damals völliges Neuland: «Eigentlich wusste ich absolut nichts über China.» In den Verhandlungen lernte er, dass die Chinesen grundsätzlich anders an Probleme herangehen, als er es gewohnt war. «In den ersten Verhandlungen versicherten mir meine westlichen Kollegen oft, ich hätte blendend argumentiert», erzählt Sigg. «Doch ich merkte: Die Chinesen folgen mir nicht.» Für sie war eine andere Perspektive relevant. «Sie haben sich eher die Personen angeschaut, die involviert waren, und welche Beziehungen sie zum Problem haben.»
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Egal, wie man zu China steht, diese Kunst hat Gewicht.
Um über die Verhandlungen hinaus die chinesische Gesellschaft besser zu verstehen, hoffte Uli Sigg auf die zeitgenössische Kunst, die er als Student an der UZH kennen und lieben gelernt hatte. Sie interessierte ihn, weil sich Kunst grundsätzlich mit der aktuellen Gesellschaft auseinandersetzt. «Ich habe Wege gesucht, mehr über China zu lernen, und hatte mir erhofft, dass mir der Kontakt mit chinesischen Künstlern dabei hilft», erzählt er.
Doch diese Hoffnung wurde zunächst enttäuscht. «Ich musste feststellen, dass es das, was ich als Gegenwartskunst kannte, in China gar nicht gab.» Die chinesische Öffnungspolitik hatte gerade erst begonnen. Für die Künstler war es schwierig, autonom zu arbeiten und Zugang zu aktueller westlicher Kunst zu erhalten.
Auch wäre es für Sigg zu jener Zeit absolut unmöglich gewesen, sich unter vier Augen mit Künstlern zu treffen. «Ich stand unter ständiger Beobachtung und wurde immer von Mitgliedern der Partei begleitet.» Als Geschäftsmann war er dabei, das für beide Seiten enorm wichtige erste Joint Venture zwischen einem chinesischen und einem westlichen Unternehmen auszuhandeln. Kontakte mit Künstlern hätten den Abschluss der Verhandlungen gefährdet.
Ein-Mann-Markt
Erst in den 1990er-Jahren, nachdem er die «China Schindler Elevator Co.» zehn Jahre lang als Vizepräsident geleitet hatte, konnte er sich freier in China bewegen und suchte den Kontakt zu Kunstschaffenden. «Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, dass die chinesischen Künstler zu einer eigenen Sprache gefunden hatten und nicht mehr Kunst produzierten, die von westlichen Konzepten abgeleitet war.»
Sigg war einer der Ersten, die sich für diese Kunst interessierten, und er begann, Werke zu kaufen. Der einzige Weg dazu war der direkte Kontakt zu den Künstlern, denn es gab keine Galerien, es gab keine Museen, es gab keinen Kunstmarkt für zeitgenössische Kunst – ausser ihm selbst. «Eine Zeit lang war ich für diese Kunst der Markt», sagte Sigg 2016 der Zeitung «Der Bund». Anlass war eine Ausstellung seiner Sammlung im Kunstmuseum Bern.
Doch auch aus einem anderen Grund waren diese Begegnungen für ihn wichtig: «Die Künstler haben mir ihr Wissen über China vermittelt. Und dies in einem anderen Mass, als es ihre Werke allein tun konnten.» Denn nach wie vor war China Siggs eigentliches «Studienobjekt», wie er es nennt. Die Kunst war ein Mittel dazu, die chinesische Gesellschaft besser zu verstehen.
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Beim Rudern darfst du nicht aufgeben, auch wenn der Körper längst nicht mehr genug Sauerstoff hat.
Als Geschäftsmann und Diplomat lernte er vor allem das chinesische Establishment kennen. Die Künstler öffneten ihm einen gänzlich anderen Zugang zum Land: «Sie lebten in einfachsten Verhältnissen und gehörten zur untersten Schicht der Gesellschaft, denn die Kunst war eine brotlose Angelegenheit», so Sigg. Wie kaum ein anderer kennt sich Sigg deshalb in allen Schichten der chinesischen Gesellschaft aus.
Dies nicht nur als Beobachter, sondern als involvierter Akteur. Dadurch, so sagt er, habe er auch einen ganz anderen Zugang, um die chinesische Gegenwartskunst zu verstehen und zu beurteilen. Das unterscheidet ihn von anderen Sammlern, Kuratoren oder von Kunstwissenschaftlern. «Weil ich mich auch mit der Wirtschaftswelt und dem politischen System befasse, gibt mir das eine andere Perspektive auf die Kunst.»
Feines Gespür für neue Trends
Nun mit fast 80 Jahren nimmt Sigg nochmals eine neue Herausforderung an und wird Gastprofessor an der UZH. «Ich musste zuerst nachfragen, wie eine Vorlesung denn heutzutage überhaupt funktioniert», sagt Sigg. Er ist nicht nur ein grosser Sammler chinesischer Kunst, sondern es ist ihm auch ein Anliegen, dass sich der Westen damit auseinandersetzt. «Egal, wie man zu China steht, diese Kunst hat Gewicht.» Dass sich die UZH an einer Lehrveranstaltung damit auseinandersetzt, freut ihn.
Seine eigene Studienzeit ist schon lange her. «Es gab fleissigere Studenten als mich», erinnert Sigg sich. Damals stand für ihn die Ruderkarriere im Vordergrund, die ihn mit 23 Jahren zum Schweizermeistertitel im Achter führte. Dennoch promovierte Uli Sigg 1976 mit einer Dissertation über «Öffentlichrechtliche Probleme des Drahtfernsehens». Damit begab er sich einmal mehr auf Neuland. Denn die Schrift kam just zu einer Zeit, als in der Schweiz erste Piratensender das Monopol der SRG in Frage stellten. «Bevor Roger Schawinski mit Radio24 vom Pizzo Groppera aus auf Sendung ging, fragte er mich um ein rechtliches Gutachten dazu an», erinnert sich Sigg.
Uli Sigg scheint stets früher als andere ein gutes Gespür dafür zu haben, wo sich interessante Entwicklungen abzeichnen. Und er hat ein Flair dafür, Gelegenheiten zu ergreifen, die ihm Türen öffnen und ihn weiterbringen. Chancen zu packen, ist das eine. Daraus etwas zu machen, das andere. Was es dazu auch braucht, das habe er im Sport gelernt, sagt Uli Sigg: «Beim Rudern darfst du nicht aufgeben, auch wenn der Körper längst nicht mehr genug Sauerstoff hat.»