Vielsprachige Schweiz
Die Jungs drängen sich im Tram am Mittag, der Hunger will gestillt werden. Schmunzelnd schaue ich zum Fenster hinaus, während ich der Jugendsprache lausche: «Gömmer Migros Poulet?» Der sogenannte Balkan-Slang, bei dem Präpositionen, Artikel und Pronomen weggelassen werden und der das lässige Staccato der jungen Leute rhythmisiert, ist schon seit einiger Zeit Mode. Einst von den Migrationssprachen aus Ex-Jugoslawien inspiriert, ist er längst als Idiom in die Jugendsprache eingegangen. Doch spitze ich die Ohren noch etwas länger, höre ich eine ganze vielsprachige Stimmensinfonie: Zwei junge Girls reden englisch, zwei Damen hochdeutsch, Businessleute unterhalten sich spanisch, andere sprechen serbokroatisch, eine Mutter plaudert mit ihrem Kindergartenkind ukrainisch, hinter mir erklärt jemand in breitem Berndeutsch das bevorstehende Mittagsmenü und eine weibliche Stimme kontert in schnoddrigem Zürichdeutsch.
Ob bei der Arbeit oder in der Freizeit – es ist unüberhörbar: Die Schweiz hat sich vom Vier- zum Vielsprachenland gewandelt. Einst war «Die Viersprachige Schweiz» von 1982 das Standardwerk zur Mehrsprachigkeit des Landes. Jetzt gibt es ein umfangreiches Update: das Buch «Sprachenräume der Schweiz», herausgegeben von der Germanistin Elvira Glaser, dem Romanisten Johannes Kabatek und der Slavistin Barbara Sonnenhauser. Der gut 500 Seiten starke Wälzer, der sich beim genaueren Hinsehen als kurzweiliges Nachschlagewerk entpuppt, versammelt Artikel zu den vier Landessprachen und zu den am häufigsten gesprochenen Migrationssprachen Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Albanisch und der Sprache der Nachfolgestaaten Jugoslawiens: Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch (BKMS), wie sie im Buch differenziert genannt wird.
![]()
Sprachen sind dynamische, sich ständig den Kommunikationsbedürfnissen anpassende Phänomene.
Darüber hinaus werden auch einige Besonderheiten erörtert. Beispielsweise weshalb in Samnaun auch Südbairischer und Tiroler Dialekt gesprochen wird; wie das nur noch selten gesprochene Jiddisch nach Zürich-Wollishofen kam oder welche Sprachen die Schweizer Täufer in Nordamerika gesprochen haben. Und es gibt einen Beitrag über die Unterschiede der drei verschiedenen Gebärdensprachen in der Schweiz. Weltweit sind gar 159 dokumentiert.
Gelebte Mehrsprachigkeit
Die Schweiz ist ein sprachenfreudiges Land. Tatsächlich spricht die grosse Mehrheit der Bevölkerung laut dem Bundesamt für Statistik (BFS 2021) mindestens zwei Sprachen. Zudem sprechen viele Menschen neben den vier Landessprachen regelmässig weitere Sprachen. Allen voran Englisch, danach folgen Spanisch, Portugiesisch, Albanisch und BKMS. Allerdings können Statistiken einen vereinfachenden Eindruck vermitteln. «Es spricht nicht das Land, sondern es sprechen die Menschen», sagt der Romanist Johannes Kabatek.
Die Sprache ist ein vielfältiges Phänomen. Menschen sprechen zuhause zuweilen eine andere Sprache als in der Öffentlichkeit. Kann sein, dass man den Dialekt wechselt, wenn man das Daheim verlässt. Wenn die Eltern zum Beispiel aus dem Bernbiet kommen, ist Berner Dialekt vielleicht die Familiensprache, selbst wenn man in Zürich lebt. Oder stammen die Eltern aus dem Kosovo, sprechen die erwachsenen Kinder vielleicht zuhause albanisch, bei der Arbeit aber perfektes Zürichdeutsch. Die Herkunftssprache, die über Generationen weitergegeben wird, entspricht nicht zwingend der Hauptsprache, die man im Alltag meistens spricht.
Doch wie wird diese Mehrsprachigkeit konkret gelebt? «Sprachen sind nicht statische, sondern dynamische, sich ständig den Kommunikationsbedürfnissen anpassende Phänomene», heisst es im Buch. Entsprechend wandelbar und flexibel ist der Umgang im Alltag. Zuweilen mischen sich die Sprachvarianten auf wundersame Weise. Etwa als ich neulich abends im Café mit Freunden war: Während der Kellner uns auf Englisch begrüsste und die Bestellung entgegennahm, blieben alle bei ihren angestammten Sprachen. Jemand redete Hochdeutsch, jemand Basler Dialekt, jemand Zürcher Dialekt gespickt mit italienischen Vokabeln. Natürlich brachte der Kellner die richtigen Getränke.
Pluralität und Eigenständigkeit
Tatsächlich hat die Schweiz als viersprachige Nation eine gewisse Übung. «Im Gegensatz zu den umliegenden Ländern ist man sich zumindest in der Deutschschweiz die asymmetrische Kommunikation gewohnt», erklärt der Linguist Kabatek. Jede und jeder spricht in seiner/ihrer Sprache. «So bleiben etwa Zürcher und Berner ganz selbstverständlich beim eigenen Dialekt, wenn sie miteinander sprechen.» In Deutschland hingegen, so Kabatek, wird der eigene Dialekt nur im privaten, zumindest sehr lokalen Kontext gesprochen, in der Öffentlichkeit spricht man Hochdeutsch. Die Schweiz könne gerade angesichts der Präsenz neuer Sprachen immer noch als Modell für die Verbindung von Pluralität und Eigenständigkeit dienen, schreiben die Autoren in der Einleitung.
Allerdings kommt es auch hierzulande vor, dass man ins Stottern gerät, wenn die Bedienung an der Theke in charmantem Englisch mit spanischem Akzent nach unserem Kaffeewunsch fragt, während wir rätseln, in welcher Sprache wir nun antworten sollen. Englisch? Deutsch? «Wir kommunizieren auf zwei Ebenen», so Johannes Kabatek. Zum einen haben wir ein klares Ziel, wir wollen einfach unseren Kaffee. Andererseits setzen wir uns gleichzeitig mit den Sprachen auseinander, wenn wir überlegen, welches in dieser Situation die angemessene Sprache ist.
Wandert man entlang des Röstigrabens, blitzt die Sprachenvielfalt immer wieder auf, wenn die Wandersleute zwischen Bonjour und Grüessech und Guetetag schwanken. Diesem mal locker-heiteren, mal griesgrämig-rivalisierenden Umgang geht der Beitrag mit dem Titel «Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz» unter anderem nach.
«Sprache ist immer Ausdruck von vielfältigen Geschichten, Kulturen und Identitätsvorstellungen», sagt Kabatek. Auch die Verbreitung der vier Landessprachen sind das Ergebnis historischer Entwicklungen, wie das Beispiel der Walser Mundart zeigt, die aufgrund von Migrationsbewegungen im Spätmittelalter nach Graubünden und ins Tessiner Bosco Gurin gelangte.
Unterschiedlich beliebt
Auch hinter den jüngeren Migrationssprachen lassen sich historische Zäsuren und Entwicklungen ablesen, wie man etwa in den Beiträgen über Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und BKMS nachlesen kann. So folgte im Zuge des Jugoslawien-Kriegs in den 1990er-Jahren eine grössere Migrationswelle aus den Nachfolgestaaten Bosnien, Kroatien, Montenegro und Serbien, deren Sprachen heute in der Schweiz zu den am stärksten vertretenen Migrationssprachen zählen.
In den 1950er-Jahren wanderten aus wirtschaftlichen Gründen italienische Gastarbeiter ein, in den 1960er-Jahren kamen solche aus Spanien dazu, in den 1970ern, nach der Salazar-Diktatur, fanden viele Portugies:innen Arbeit in die Schweiz. Die spanischen Gastarbeiter zogen in die Industrien von Zürich, Genf und Basel, die Portugiesen und Portugiesinnen fanden Arbeit in der Hotellerie der Westschweiz und den Tourismusorten in den Bergen. So stammt heute ein grosser Teil der Wohnbevölkerung in der Umgebung Zermatts ursprünglich aus Portugal.
Unter den Nichtlandessprachen haben nicht alle das gleich hohe Ansehen. So scheinen osteuropäische Migrationssprachen etwas weniger beliebt zu sein. Im Beitrag über «Albanisch» ist zu lesen, dass diese Sprache wenig bekannt ist und in der Öffentlichkeit auch seltener gesprochen wird – trotz einiger prominenter Persönlichkeiten wie etwa des Zürcher Nationalrats Islam Alijaj. Albanisch gehört allerdings, nach Englisch und Portugiesisch, zu den dritthäufigsten zuhause gesprochenen Nichtlandessprachen (BFS 2024).
Der neuen Sprachenvielfalt sind allerdings längst nicht alle zugetan. Manche bangen um die eigene Sprache und nerven sich über den global palavernden Barista, wenn sie doch einfach nur einen Café Crème bestellen möchten. Könnte es denn sein, dass die Schweizer Dialekte eines Tages von den Weltsprachen Englisch oder Spanisch verdrängt werden? Kabatek wägt ab. Englisch ist schon sehr gebräuchlich als Arbeitssprache, zunehmend auch als Schulsprache, auch Spanisch ist im Vormarsch. Zugleich wird die Mundart auch von Migrantinnen und Migranten gelernt und ist äusserst stabil. Letztlich lassen sich kaum Prognosen stellen. Die Realitäten sind dann doch zu individuell, wie das Buch aufzeigt.
Sprachlustige Fussballer
Mit den Beiträgen im Buch «Sprachenräume der Schweiz» ist es den Herausgeber:innen gelungen, die lebendige Sprachenvielfalt im Land detailreich und differenziert zu beleuchten. Die sprachlich einst viergeteilte Schweizer Landkarte weicht vor unserem inneren Auge einem bunten Flickenteppich mit viel Überraschungspotenzial im Detail.
Johannes Kabatek erwähnt die Schweizer Fussballnationalmannschaft. Auf dem Foto schauen die jungen Männer gebannt in die Kamera, darunter sind einige, deren Eltern oder Grosseltern immigrierten, unter anderem aus Spanien, Portugal, Albanien, Nordmazedonien, aus dem Kosovo, der Türkei, Nigeria, Kamerun, dem Senegal. Fangen die Fussballer an zu schwatzen mit all ihrem Sprachenvermögen, spiegeln sie perfekt die sprachlustige Schweiz.