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Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler

Ein widerspenstiger Poet

Vor rund hundert Jahren starb der Schweizer Schriftsteller und Nobelpreisträger Carl Spitteler, dessen Weltruhm nicht verhindern konnte, dass er heute nur noch selten gelesen wird. Einer, der sich mit dem Werk Spittelers intensiv auseinandergesetzt hat, ist der Zürcher Germanist Philipp Theisohn.
Pascal Moser
Portrait des Schriftsteller Karl Spitteler
Carl Spitteler wurde am 24. April 1845 in Liestal geboren und starb am 29. Dezember 1924 in Luzern. Seine literarische Produktion passte oft nicht in die Zeit, in der er lebte. Trotzdem wurde er 1919 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. 1905 erhielt er die Ehrendoktorwürde der UZH. (Bild Keystone)

Als fünfzehnjähriger Schuljunge kritzelt er Szenen der griechischen Götterwelt in seine Hefte. Mit neunzehn stürmt und stolpert der damalige Jurastudent und inzwischen heimliche Dichter Carl Spitteler von Liebeskummer überwältigt durch die Innerschweiz. Für das, was er damals über mehrere Wochen durchmachte, findet er den passenden Namen: eine Dionysos-Wanderung. Sein literarisches Schaffen schliesslich durchmischt die Erzähltradition der griechischen Mythen mit persönlicher Welterfassung und gipfelt im Epos «Olympischer Frühling».

Er lebt ein poetisches Programm, durch und durch. Der angestrebten Juristentätigkeit entflieht er in ein Theologiestudium, die Aussicht einer Karriere als Pfarrer vertreibt den Atheisten gar bis nach St.Petersburg. Um zu dichten, so sagte es Spitteler einmal, brauche es nicht nur eine malerische Phantasie, sondern auch Mut und Charakter. Und es braucht die Hingabe, sein Leben ganz dem künstlerischen Ausdruck zu widmen.

Späte Anerkennung

Dass es Mut braucht, ist keine leere Floskel. Spitteler weiss nur zu gut, dass es auch schiefgehen kann. Sein Erstling «Prometheus und Epimetheus» verhallt in der Schweizer Literaturlandschaft fast klanglos. Und überhaupt: In seinem gesamten Werk sind nur wenige Erfolge beim Publikum zu verzeichnen. Neben einem Reisetext über den Gotthard ist dabei vor allem «Imago» zu nennen, sein vielleicht schönstes Buch, in dem ein junger Dichter über eine Liebeserfahrung schreibt, und das für die damalige Psychoanalyse von grosser Bedeutung war. Der Text ist darüber hinaus sein persönlichster. Spitteler selbst bezeichnet ihn als das wichtigste Dokument für seine Lebensgeschichte und als «Herzblut».

Und schliesslich bringt es Spitteler doch noch zur verdienten Anerkennung. Die Universität Zürich verleiht ihm die Ehrendoktorwürde, seine Wahlheimat Luzern macht ihn zum Ehrenbürger, Autor*innen wie Isabelle Kaiser zählen zu seinen grossen Bewunderern. Und für «Olympischer Frühling» gibt es sogar einen Nobelpreis. Wer also ist dieser Carl Spitteler und warum ist er heute trotzdem so gut wie vergessen?

Der schlummernde Stürmer

Still und zaghaft, dabei freundlich und liebenswürdig, aber der Arbeit nicht im Geringsten zugetan. So beschreibt seine Mutter Anna ihren Sohn Carl Spitteler, der 1845 in Liestal als ältester von drei Söhnen geboren wird. Dass aus ihm einmal ein grosser Dichter würde, hätte niemand gedacht. Und heute ist es, trotz einer Karriere als Feuilletonist bei der NZZ, trotz Ehrenprofessuren und -bürgerschaften, sogar trotz des Nobelpreises fast so, als wäre er keiner gewesen.

Man könnte von diesem dem Vergessen ausgesetzten Dichter, auch als vom grossen Heimatlosen sprechen. Dass seine literarischen Produktionen oft nicht in die Zeit, in der er lebt, passen, muss indes nicht als Mangel, sondern als ästhetische Haltung gewertet werden. Spitteler hat die formale Inkompatibilität seiner Zeit mit der Gattung des Epos bewusst angestrebt.

Der Zürcher Germanistik-Professor Philipp Theisohn hat über Spitteler das Buch «Totalität des Mangels» geschrieben und sieht gerade in dessen Individualität eine seiner grossen Stärken. «Was mich fasziniert hat, ist diese Zwischenstellung Spittelers, den man am besten im Lichte der Transformation des Historismus in die Moderne liest. Im Umbruch zwischen der alten Generation und dem sich langsam anbahnenden zwanzigsten Jahrhundert hat sich Spitteler dagegen entschieden, Teil einer Avantgarde zu sein und stattdessen ein eigenes poetisches Programm zu entwerfen versucht, um abseits Überkommenen zu bestehen.»

Wenn es um literarische Vorbilder geht, wird Spitteler in ein Nichts geworfen. Auch die Werte, veraltet und unbrauchbar, gehören dazu. Was bleibt, sind fragile Bilder und die Frage, wie man sich als Schriftsteller behaupten soll. Der Weg, den Spitteler geht, ist jener des trotzenden Solitärs. «Mein Herz heisst dennoch», ist der bezeichnende letzte Satz seines Hauptwerks «Olympischer Frühling».

Vergleiche zu Nietzsche

Von besonderer Faszination ist für Philipp Theisohn Spittelers 1881 erschienenes Erstlingswerk Prometheus und Epimetheus. An diesem werden auch erste Vergleiche zu Nietzsche möglich. «Man merkt zwischen den beiden eine gleiche Mentalität, die Spitteler in einer künstlerisch ernsthafteren Art ausdrückt als Nietzsche», sagt Theisohn. «Dass all das, der Prophet, die epische Form und so weiter, nur ironisierend funktioniert, ist Nietzsche völlig klar. Spitteler aber scheint das weniger bewusst. Wenn es eine philosophische Verwandtschaft gibt, lohnt es sich deshalb auch mehr, bei Schopenhauer zu suchen.»

Schopenhauers Postulat nämlich, die Kunst könne uns eine Möglichkeit zeigen, einen Ausweg aus dem grundsätzlichen Leid, das ja in seiner pessimistischen Lebensanschauung überall steckt, wird für Spitteler zum poetischen Prinzip. «In dem Moment, wo es die Kunst gibt, gibt es diesen intensiven Moment der Freiheit. Und wenn man aus dem Kunstwerk wieder rausgeht, dreht sich das Rad weiter. Alles ist ausserhalb der Kunst irgendwie angefressen. Aber die Stillstellung, die Literatur als Möglichkeit, alles stillzustellen, die bleibt. Das ist das Entscheidende.»

Politischer Mahner

Dass Spitteler sich im Rennen um den Nobelpreis gegen prominentere Anwärter, etwa Hugo von Hofmannsthal durchzusetzen vermag, verdankt er seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt», die er im Winter 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und nach langem Zögern hält.

Zur Rede, für die Spitteler heute bekannter ist als für seine Dichtung, sagt Philipp Theisohn: «Natürlich bekommt man für eine Rede alleine noch keinen Nobelpreis. Aber er hätte ihn wohl kaum ohne sie bekommen. Immerhin hat er das Kunststück vollbracht, die Neutralität hier aus der kulturellen Identität der Schweiz zu begründen und verzichtete auf strategische Überlegungen.»

In «Unser Schweizer Standpunkt» hat Spitteler den Mut, seine eigene Meinung zu äussern, bewiesen. Im Kriegsland Deutschland allerdings hat sie viele Leser vergrämt.  Auch das macht Spitteler aus. Er, der Kritik und eigenes Denken nicht scheut, der weder einer Erzähltradition folgt, noch eine neue begründet, muss seinen Platz in der Literaturgeschichte als Solitär suchen. Das mag der Grund sein, weshalb nur wenige Literaturwissenschaftler*innen etwas mit ihm anzufangen wissen. Ein grosses Vermächtnis hat er trotzdem – eines, das sich zu entdecken lohnt.