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Erziehungswissenschaft

«Die Schule reproduziert Ungleichheit»

Von der Schule wird viel erwartet. Was muss sie leisten, damit Kinder erfolgreich lernen und sich positiv entwickeln können? Ein Gespräch mit Erziehungswissenschaftlerin Katharina Maag Merki und Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach.
Interview Thomas Gull
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Die Anforderungen an die Schule sind gestiegen. Heute muss sie etwa auch Wissen zur Digitalisierung oder ökonomische Kompetenzen vermitteln. Gleichzeitig verfügt ein Teil der Schüler:innen nach elf Schuljahren in Mathematik und Sprache nicht einmal über basale Kompetenzen. (Bild UZH)

Frau Maag Merki, Herr Reichenbach, was sollte die Schule Kindern beibringen?

Roland Reichenbach: Es gibt den Lehrplan. Doch was man lernt, geht weit über das Curriculum hinaus. In der Schule lernt man Gemeinsinn. Dieser ist unabdingbar für eine demokratische Gesellschaft, genauso wie ein zivilisierter Umgang mit anderen Menschen. Das sind Leistungen, die häufig gar nicht der Schule zugesprochen werden. Aber hier leistet sie sehr viel. Die moderne Gesellschaft ohne die Schule hätte ein echtes Problem – nicht unbedingt wegen der Inhalte, sondern weil man dort lernt, was es bedeutet, Teil einer Gesellschaft zu sein.

Die Schule vermittelt Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Tut sie das heute noch erfolgreich?

Katharina Maag Merki: Die Anforderungen sind gestiegen. Heute muss die Schule auch Wissen etwa zur Digitalisierung vermitteln, oder ökonomische Kompetenzen. Gleichzeitig verfügen in Mathematik etwa 20 Prozent der Schüler:innen und in der Muttersprache 25 Prozent nach elf Schuljahren nicht einmal über basale Kompetenzen.

Reichenbach: Insbesondere die mangelhaften Sprachkompetenzen sind besorgniserregend. Wer sich nicht ausdrücken kann, wer nicht verstehen kann, wer schriftliche Dokumente nicht richtig nachvollziehen kann, der hat im Leben viele Hindernisse. Wenn ein bedeutender Teil der Gesellschaft sich nicht richtig entfalten kann, ist das für uns alle ein Problem. Deshalb glaube ich, dass es zumindest für einen Teil der Schüler:innen heissen müsste: weniger Lernstoff, dafür mehr Zeit für die Grundkompetenzen.

Liegt das am überfrachteten Lehrplan? Viele Schüler:innen kommen damit ja gut zurecht und eignen sich wertvolles Wissen an. Diesen würde eine Ausdünnung des Lehrplans eher schaden als nützen.

Maag Merki: Wir müssen den Fokus stark auf die Sprache legen, das unterstütze ich sehr. Doch was passiert, wenn man das andere weglässt? Und wird damit nicht die Ungleichheit verstärkt? Werden damit nicht die Möglichkeiten eingeschränkt, neue, anregende Dinge kennenzulernen?

Reichenbach: Sobald der Anspruch besteht, dass alle Kinder und Jugendlichen ein bestimmtes Niveau erreichen müssen, stellt uns das vor die Wahl: Entweder das Niveau wird runtergeschraubt, das will man natürlich nicht, oder ein Teil der Schüler:innen genügt den Anforderungen nicht. Die Schule kann dieses Problem in Wirklichkeit gar nicht lösen, aber sie muss so tun, als ob sie es könnte. Es gibt gut gemeinte Ideen wie etwa die Inklusion. Dann stellt sich heraus, dass sie nicht funktionieren. Worauf es dann oft heisst: Wir brauchen mehr Ressourcen, mehr Humankapital, mehr finanzielle Mittel. Aber die Ideen werden nicht hinterfragt oder revidiert.

Roland Reichenbach

Glück und Zufriedenheit im Leben sind nicht nur von Bildungsabschlüssen abhängig.

Roland Reichenbach
Erziehungswissenschaftler

Frau Maag Merki, Sie kritisieren, die Schule selektioniere zu früh. Weshalb ist die Selektion aus Ihrer Sicht ein Problem?

Maag Merki: Die frühe Selektion führt dazu, dass Kinder mit vergleichbaren Fähigkeiten und der gleichen Motivation systematisch unterschiedlichen Leistungsniveaus zugeteilt werden, basierend auf ihrem familiären Hintergrund. Den einen wird empfohlen, ans Gymnasium zu gehen, den anderen, eine Berufslehre zu machen. Dasselbe passiert bei der Entscheidung, ob Kinder in die Sekundarschule A oder B eingeteilt werden. Das bedeutet: Die Türen für weiterführende Bildungsgänge sind für Kinder und Jugendliche aus Familien, die weniger bildungsnah sind, teilsweise geschlossen, obwohl sie leistungsfähig und motiviert wären. Die Schule reproduziert damit bestehende Ungleichheiten und verstärkt sie teilweise noch. In der Schweiz wird damit das meritokratische Prinzip stärker verletzt als in anderen Ländern.

Reichenbach: In der Schweiz ist diese Ungerechtigkeit nicht so dramatisch, weil die Kluft bei den Berufsaussichten nicht so gross ist. Die grosse Mehrheit der Jugendlichen macht eine Lehre. Wir haben deshalb gute Leute in den Berufen. Das heisst, unsere Wirtschaft profitiert von der im internationalen Vergleich tiefen Maturitätsquote. Deshalb kann man nicht sagen, dass das ungerechte Bildungssystem in der Schweiz zu einem wirtschaftlichen Problem führt. Man muss eher erklären, weshalb die Leute mit dem, was sie haben, zufrieden sind. Ob man jetzt ins Gymnasium geht oder nicht, für einen Teil der Bevölkerung ist das offenbar nicht entscheidend. Glück und Zufriedenheit im Leben sind nicht nur von der Bildung oder von formalen Bildungsabschlüssen abhängig. Und die Jugendarbeitslosigkeit ist tiefer als in vielen anderen Ländern.

Maag Merki: Wir haben ein System, bei dem nur ein geringer Teil der Jugendlichen tatsächlich durch die Maschen fällt. Gleichzeitig ist die soziale Mobilität in der Schweiz nicht sehr hoch – es braucht fünf Generationen, um von einer sozialen Schicht in die nächste aufzusteigen. In Dänemark beispielsweise dauert das nur zwei.

Katharina Maag Merki

Selektioniert werden sollte erst am Ende der Sekundarschule. Wenn später selektioniert wird, stehen die verschiedenen Bildungswege für alle länger offen.

Katharina Maag Merki
Erziehungswissenschaftlerin

Frau Maag Merki, für Sie ist die zu frühe Selektion Teil eines Systems, das Jugendliche mit bildungsfernem familiärem Hintergrund benachteiligt. Wäre es gerechter, wenn später selektioniert würde?

Maag Merki: Später zu selektionieren, wäre ein wesentlicher Teil der Lösung. In Ländern mit geringerer sozialer Benachteiligung wie beispielsweise Kanada oder Finnland werden die neun Jahre der regulären Schulzeit genutzt, um die Kinder individuell zu fördern. Deshalb braucht es bei uns eine Strukturreform. Selektioniert werden sollte erst am Ende der Sekundarschule. Wenn später selektioniert wird, stehen die verschiedenen Bildungswege für alle länger offen. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Kinder in den einzelnen Fächern sehr unterschiedliche Kompetenzniveaus haben. So sind 25 Prozent der Schüler:innen der Sekundarstufe C in gewissen Fächern besser als die schlechtesten im Gymnasium. Wenn man sich jetzt vergegenwärtigt, welche Wege einem offenstehen, wenn man eine Matura hat, dann sind es Welten gegenüber einem Abschluss auf Sekundarstufe C. Und dies trotz allenfalls vergleichbarer Fähigkeiten.

Herr Reichenbach, sind Sie einverstanden mit dieser Analyse?

Reichenbach: Ja, die Selektion ist einfach zu früh.

Ein weiteres Problem, das Ihnen unter den Nägeln brennt, sind die Noten. Weshalb?

Maag Merki: Ich finde es viel sinnvoller, Feedback zu gegeben, als Noten zu verteilen, weil Kinder, die fundierte Rückmeldungen erhalten zu ihren Leistungen, ihre Lernziele besser erreichen. Gleichzeitig können Noten sehr frustrierend und demotivierend sein. Wenn ich permanent eine 2 oder 3 bekomme, dann habe ich keine Lust mehr zu lernen. Auch deshalb haben wir am Schluss Schüler:innen, die die Ziele nicht erreichen.

Reichenbach: Noten sind Teil des Selektionssystems der Schule. Irgendwie muss sie selektionieren. Das bedeutet auch, es werden ungleiche Zukunftschancen geschaffen. Nicht alle sollen am Ende der obligatorischen Schule die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu weiterführender Bildung haben, und das muss legitimiert werden. Gleichzeitig ist diese Selektion höchst problematisch, weil wir wissen, dass die Chancengleichheit nicht gegeben ist. Sie wird auch nie gegeben sein. Ergo kann man sagen, es ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, fair zu selektionieren, mit oder ohne Noten. Doch gibt es eine bessere Alternative? Ich würde sagen: Sie wurde bisher nicht gefunden.

Müsste der Unterricht noch stärker individualisiert werden?

Reichenbach: Das ist jetzt ein Punkt, in dem wir uns nicht einig sind. Denn eigentlich müssen die Leistungen der Schüler:innen verglichen werden, aber wenn alles individualisiert wird, geht das nicht. Das ist die Quadratur des Kreises und gehört zur Pädagogik der Privilegierten. Wenn man dem Kind individuell gerecht werden will, dann muss man bedenken, dass die Starken immer engagiert und leistungsorientiert arbeiten, während die Schwächeren oft Mühe haben, sich zu motivieren. Das ändert sich auch nicht, wenn der Unterricht noch individueller wird.

Maag Merki: Unter Individualisierung verstehe ich nicht, dass alle permanent für sich arbeiten. Meine Formel lautet: Ein Drittel wird gemeinsam gelernt und die Schüler:innen setzen sich in der Klasse mit bestimmten Inhalten auseinander. Ein Drittel wird in kleinen Gruppen gearbeitet, wo man gemeinsam etwas entwickelt und voneinander lernt. Im dritten Drittel wird ein Thema individuell vertieft, für das sich das Kind interessiert, wobei schwächere besondere Unterstützung brauchen. In einem Teil der Lernzeit sollten sich die Schüler:innen mit Dingen beschäftigen können, die sie intrinsisch interessieren.

Herr Reichenbach, Sie sind der Meinung, dass die Lehrpersonen einen Teil ihrer Autorität eingebüsst haben, dass diese aber wichtig ist, um erfolgreich eine Klasse zu führen und zu unterrichten. Plädieren Sie deshalb für eine «neue» Autorität?

Reichenbach: Ich plädiere überhaupt nicht für Autorität, auch nicht für eine neue Autorität. Der Begriff Autorität ist negativ konnotiert, doch ohne sie gibt es keine Erziehung und auch keine Bildung. Autorität, wie ich sie verstehe, bedeutet: Jemand steht vorne und erzählt etwas und was er oder sie sagt, wird geglaubt. Das heisst, es ist ein Anerkennungsverhältnis. Das kann eine sehr limitierte Autorität sein. Die Klavierlehrerin kann mir nicht sagen, ob ich rauchen soll oder nicht, aber sie kann mir zeigen, wie man Klavier spielt. Wenn man dieses Vertrauen, diese Anerkennung nicht erhält, hat man als Lehrperson ein Problem. Oft reagieren Lehrpersonen darauf, indem sie autoritär werden, was meist nicht funktioniert.

Frau Maag Merki: Braucht es eine neue Autoritätt im Klassenzimmer?

Maag Merki: Wichtig ist für mich die Unterscheidung zwischen autoritär und autoritativ im Sinne von wertschätzend Strukturen vorgeben, Vertrauen bilden und Verbindlichkeiten herstellen. Das ist sehr wichtig.

Wir haben darüber diskutiert, was es für eine gute Schule braucht. Können Sie bitte kurz die ideale Schule skizzieren?

Reichenbach: Was ich jetzt sage, klingt völlig altbacken. Aber ich glaube, alle Schülerinnen und Schüler können froh sein, wenn sie Lehrpersonen vor sich haben, die ihren Beruf lieben, die wollen, dass die Kinder etwas lernen und die sie dabei unterstützen. Mehr kann man nicht verlangen.

Maag Merki: Ich stimme zu, dass die Lehrperson eine zentrale Rolle spielt. Doch es braucht für mich die ganze Schule. Das heisst, für mich steht die Lehrperson nicht allein da, sondern sie ist Teil eines hoffentlich funktionierenden Gesamtsystems Schule. Die ideale Schule wäre deshalb für mich eine Schule, wo sich alle austauschen, zusammenarbeiten und gemeinsam mit den Kindern die gesteckten Ziele erreichen.