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Glücklich gross werden

In die frühen Jahre investieren

Die Schule sollte allen Kindern die gleichen Chancen bieten. Allerdings gelingt das oft nicht. Bildungsforscher Kaspar Burger untersucht, woran es liegt und was für mehr Chancengleichheit getan werden könnte.
Thomas Gull
Wenn Kindertagesstätten kostenfrei sind, sind sie auch für Kinder aus einkommensschwachen Familien zugänglich. (Bild: iStock / FatCamera)

Zuerst die schlechte Nachricht: «Das Bildungssystem hat die beste Möglichkeit, Chancengleichheit umzusetzen. Tatsächlich reproduziert es aber soziale Unterschiede», sagt Bildungsforscher Kaspar Burger. Er leitet am Jacobs Center for Productive Youth Development das SNF-Forschungsprojekt «Understanding social gradients in education», das sich mit dem sozialen Gefälle im Bildungswesen beschäftigt. Die Paradoxie, dass die Schule eigentlich für mehr Chancengleichheit sorgen könnte, ihr dies aber oft nicht gelingt, sei nur schwer aufzulösen, erklärt Burger. «Das liegt auch daran, dass das Bildungssystem Kompetenzen honoriert, die ausserhalb erworben werden.» Und es belohnt jene Fähigkeiten, die dem System am ähnlichsten sind.

Familienzulagen und Elternurlaube

Der Knackpunkt für die Schule ist: Sie fängt an, die Kinder zu bilden, wenn diese bereits sehr unterschiedliche Fähigkeiten erworben haben. Denn was Kinder können, wenn sie in die Schule kommen, hängt stark von ihrer Herkunft ab. Viele der sozialen und kognitiven Kompetenzen werden in den ersten Lebensjahren erworben, fernab der Schule, vor allem in der Familie. «Die Schule schafft es dann, die Unterschiede stabil zu halten», sagt Burger. Mehr nicht. Was kann getan werden, um mehr Chancengleichheit zu schaffen? Kaspar Burgers Antwort: Es muss mehr in die qualitativ hochwertige frühe Bildung und Betreuung investiert werden. Und diese muss allen Kindern zugänglich sein, unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten.

Das bedeutet: Kinderkrippen müssten kostenlos sein. Wenn der Zugang zu solchen Angeboten (zu) teuer ist, passiert das, was meist geschieht: Sie werden von jenen Familien genutzt, die sie sich leisten können. Das sind oft aber gar nicht jene, die sie am nötigsten hätten. Diese Investition in die ersten Lebensjahre würde sich lohnen, wie Studien zeigen. Neben der besseren kindlichen Entwicklung gehören dazu positive Auswirkungen wie eine höhere Erwerbsquote der Frauen, Einsparungen bei den Sozialleistungen, bessere Schul- und Studienabschlüsse der Eltern oder eine bessere Lebensqualität.

Neben der öffentlich finanzierten frühkindlichen Bildung und Betreuung hat Kaspar Burger weitere Mechanismen untersucht, von denen man sich mehr Chancengleichheit verspricht, wie höhere staatliche Unterstützungsbeiträge für Familien und längerer bezahlter Elternurlaub. In der Studie wurden die Effekte von Familienzulagen und Elternurlaub auf die sozialen Ungleichheiten in den schulischen Leistungen von Kindern im Alter von zehn Jahren untersucht. Die Ergebnisse sind gemischt: So führen höhere Familienzulagen dazu, dass sich die Leistungsschere zwischen mehr und weniger privilegierten Kindern etwas schliesst. Das ist aus der Perspektive der Chancengleichheit positiv.

Längere Elternurlaube hingegen verstärken die Unterschiede zwischen den Leistungen der zehnjährigen Schüler:innen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Das lässt sich damit erklären, dass der längere Urlaub den Eltern mehr Gelegenheit gibt, sich um ihre Kinder zu kümmern und mit ihnen zu interagieren. Das wirkt sich positiv auf ihre Leistungen aus, verstärkt allerdings wiederum die Unterschiede.

Grosse Differenzen bei den Gymnasialquoten

Bildungsforscher Burger hat sich mit zwei weiteren Aspekten der sozialen Ungleichheit beschäftigt, die die Bildungskarrieren beeinflussen: die soziale Segregation und wie Zukunftserwartungen den Bildungserfolg beeinflussen. Zur sozialen Segregation gibt es in der Schweiz nur wenige Untersuchungen, die Daten stammen vor allem aus den USA. Das Problem sei in der Schweiz weniger akut, betont Burger, weil hier mehr in Bildung investiert wird und die Schulen weniger stark gekoppelt sind an die finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Gemeinden. Trotzdem ist die Bildungssegregation in der Schweiz sehr ausgeprägt, das belegen etwa die grossen Unterschiede in den Gymnasialquoten sowohl zwischen den Gemeinden wie auch zwischen den Kantonen.

Interessant ist, wie sich die Erwartungen auf den Bildungserfolg auswirken.
Grundsätzlich sind hoch gesteckte Ziele gut, weil sie tatsächlich zu mehr Erfolg führen. «Wenn man erwartet, dass man etwas erreichen kann, dann bleibt man hartnäckig und gibt auch bei Rückschlägen nicht gleich auf», erklärt Burger. Das zahlt sich oft aus. In diesem Sinne sind hohe Ambitionen gut, unabhängig von der Ausgangslage. Burger formuliert jedoch ein Aber: Das Bildungssystem muss auch die Möglichkeit bieten, diese Ziele zu erreichen. Das ist nicht immer der Fall. «Oft wird die Wirkung von positiven Zukunftserwartungen untergraben, weil das System Schleusen hat.» Konkret, indem etwa Kindern aufgrund ihres sozialen Hintergrunds empfohlen wird, eine Berufslehre zu machen statt zu studieren, obwohl sie die Fähigkeiten dazu mitbringen würden.

Mehr Chancengleichheit gibts nicht umsonst

Das Schweizer Bildungssystem ist zwar grundsätzlich durchlässig, allerdings wechseln nur wenige später noch einmal die Spur, weil das oft mir sehr grossem Aufwand verbunden ist. Und auch bei den Bildungsambitionen gilt: Diese werden massgeblich von den Eltern geprägt und oft auch vorgelebt.

Wie die Bildungsforschung zeigt, gibt es durchaus Strategien, um für mehr Chancengleichheit unter den Kindern zu sorgen. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass die Schule allein das kaum stemmen kann, weil externe Faktoren wie das soziale Umfeld der Kinder sehr einflussreich sind. Und mehr Chancengleichheit gibts nicht umsonst. Um beispielsweise eine umfassende frühe Bildung und Betreuung für alle Kinder anbieten zu können, bräuchte es eine «massive Transformation» des Bildungssystems, so Burger.

Dieser Artikel ist im UZH Magazin 4/2024 erschienen.