Der Kosmos auf der Wandtafel

An der langen Wandtafel im sonst eher kargen Büro reihen sich Zahlen und Zeichen, Striche, Pfeile, Klammern aneinander – verwischt, überschrieben, korrigiert. Der ganze Schiefer ist voll mit Kreide geschriebener Formeln. Hier wird offenbar geknobelt. Gut vorstellbar, dass Marcelle Soares-Santos einen Moment an der Tafel verweilt und etwas ergänzt oder kommentiert, wenn sie ihr Büro betritt. Und damit die Superformel weiter gedeihen lässt, die dem Geheimnis des Kosmos näher rückt.
Marcelle Soares dos Santos ist Professorin für Astrophysik und beschäftigt sich mit der Dunklen Energie. «Richtiger wäre es, zu sagen: mit unsichtbarer Energie», sagt Soares-Santos. Genau das nämlich sei das Problem der Dunklen Energie: ihre Unsichtbarkeit.
«Dunkle Energie lässt sich nur indirekt nachweisen», sagt die Physikerin. «Kosmische Ereignisse wie etwa die Kollision von zwei Sternen, besser gesagt das Licht und die Wellen, die diese auslöst, geben Hinweise darauf.» Was diese mysteriöse Kraft aber ausmacht, nach welchen Gesetzen sie funktioniert, weiss man kaum.
Gefallen am Schnee gefunden
Die Astrophysikerin beschäftigt sich schon lange mit dem Geheimnis der Dunklen Energie, seit bald einem Jahr forscht sie nun an der Universität Zürich. Sie lächelt. Sie habe sich schnell eingelebt. Der Campus Irchel liegt am Waldrand und Soares-Santos mag die Natur. Auch am hiesigen Klima hat sie Gefallen gefunden.
Die Professorin schmunzelt. Eigentlich kommt sie aus einem Land, wo das ganze Jahr hindurch Sommer und Sonne sind, aus Brasilien. «Dort muss man nie auf den Wetterbericht schauen», lacht sie. Die vier Jahreszeiten hätten aber durchaus auch ihren Reiz. Als sie in die USA gekommen war, sei der Winter eine Herausforderung gewesen. Dort war Schnee für sie immer etwas Unangenehmes. Letzten Winter in der Schweiz hat sie dann das Skifahren entdeckt und dabei doch noch Gefallen am Schnee gefunden.
Ungelöstes Rätsel
Über dem Campus Irchel hängt ein blauer Bilderbuch-Herbsthimmel und kaschiert das unendliche Universum, das sich dahinter verbirgt. Der Kosmos ist nach wie vor ein grosses, ungelöstes Rätsel. Marcelle Soares-Santos nickt zustimmend. Tatsächlich bestehen nur gerade etwa 5 Prozent aus identifizierter Materie – Sterne, Galaxien, Planeten – aus nach Standardphysik bekannten Elementarteilchen, Elektronen und Kernteilchen, erklärt sie.
Ein gutes Drittel der Galaxienmasse ist nicht identifizierte Dunkle Materie. Ganze 70 Prozent sind Dunkle Energie. Und die verhält sich schwindelerregend unfassbar. Sie hält den Raum nicht etwa zusammen, wie es von Energie zu erwarten wäre, sondern im Gegenteil. Sie treibt ihn auseinander, und dies auch noch beschleunigt. Vor rund 14 Milliarden Jahren, beim Urknall, sind Raum und Zeit entstanden. Seither dehnt sich das Universum unaufhörlich aus.
Was für eine Kraft ist hier am Werk, die den Raum auseinandertreibt? Warum tut sie das und unter welchen Bedingungen? Darüber zerbricht sich Soares-Santos wie viele andere Astrophysikerinnen und Astrophysiker auf der ganzen Welt den Kopf. Einige Hypothesen gebe es, sagt die Professorin.
Heute rechnet man wieder mit der kosmologischen Konstante, die Albert Einstein zuerst als zusätzlichen Term seinen Gleichungen in der Allgemeinen Relativitätstheorie hinzugefügt und dann wieder verworfen hat. Einige Forschende berufen sich auf die Vakuumenergie des Raums. Oder vielleicht verhält sich die Dunkle Energie nach gänzlich fremden, uns unbekannten physikalischen Gesetzen. Schlussendlich bleibt es dabei: Die wunderliche Energie bleibt rätselhaft – weil noch immer zu wenig Daten vorhanden sind.
Kosmische Ereignisse kartieren
Genau das will Soares-Santos ändern, und zwar mit der Formel, die auf der Wandtafel in ihrem Büro steht. Sie und ihr Team sind nämlich daran, eine ausgeklügelte Untersuchungsmethode zu entwickeln, die Forschenden helfen soll, mehr über kosmische Ereignisse zu erfahren. Dabei erarbeiten sie eine Art 3D-Karte, die die Distanzen, die Leuchtdichten, Helligkeitsgrade und Farben von kosmologischen Objekten und Phänomenen simuliert.
Dafür werden viele kleine Informationshappen – all die Vibrationen, Signale, Bilder und Wellen, die aus dem Universum empfangen werden wie Puzzleteile zusammengefügt, um daraus die besagte dreidimensionale Karte zu generieren. Soares-Santos wirft einen Blick auf die Wandtafel. «So ein Verfahren ist enorm aufwendig und braucht Zeit», sagt sie. Man muss rechnen, überarbeiten, dann testen, experimentieren, optimieren und verifizieren. «Erst wenn es im Kleinen funktioniert, kann man die Realisierung im Grossen überhaupt angehen», sagt die Astrophysikerin. Im Moment muss das Team noch an der Wandtafel knobeln.
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Dunkle Energie lässt sich nur indirekt nachweisen – kosmische Ereignisse wie etwa die Kollision von zwei Sternen geben Hinweise darauf.
Marcelle Soares-Santos reist mit ihren kühnen Berechnungen nicht nur durch die unendlichen Galaxien, sie reist auch durch die Kontinente. Sie ist im Südosten Brasiliens aufgewachsen, in Vitória, der Bundeshauptstadt von Espírito Santo, wo sie auch die Hochschule besuchte. Nachdem sie den PhD an der University of São Paulo gemacht hatte, ging die junge Akademikerin in die USA, ans Fermilab, unweit Chicago.
Es sei eine tolle Erfahrung gewesen, erzählt sie. Die Menschen seien aus der ganzen Welt gekommen. Geeint habe sie das Interesse an Physik, erzählt Soares-Santos mit strahlenden Augen. Dort hat sie auch ihren Mann, einen deutschen Astrophysiker, kennengelernt – mit dem sie unterdessen einen vierjährigen Sohn hat und der gleich im Büro nebenann am Physik-Institut zu Dunkler Materie forscht.
Schon am Fermilab war Soares-Santos klar gewesen: Wenn man Galaxien, Sternexplosionen und Sternhaufen untersuchen will, die Milliarden von Lichtjahren entfernt sind, muss man in die Entwicklung der Messinstrumente investieren. So war die Astrophysikerin im Rahmen der Dark Energy Survey Collaboration (DES) federführend bei der Entwicklung der Dark Energy Cam (DECam). Dabei handelt es sich um riesiges Teleskop, das kosmische Ereignisse und Objekte sichtbar macht und hilft, den Kosmos systematisch zu untersuchen. Das immense Fernrohr – allein die Kamera wiegt gut 1,7 Tonnen – steht in den chilenischen Anden und fängt dort Ereignisse im Universum ein.
Explosiver Anfang
Von draussen dringen die Sonnenstrahlen durch die Storen. Soares-Santos’ Schreibtisch leuchtet beinahe etwas galaktisch auf. Unterdessen sind wir mit den Gedanken weit draussen im All angekommen. Wenn wir die Reise zurückmachen, wie hat das alles angefangen? Tatsächlich erinnert sich die Astrophysikerin an ein Ereignis in ihrer Kindheit in Brasilien, das prägend war und sie vielleicht gar auf die Physik gebracht hat.
Damals hatte ihr Vater für ein Bergbauunternehmen gearbeitet. Eines Tages unternahm die Schule einen Ausflug zu dieser Mine. Zur Demonstration des Eisenerzabbaus wurde – in gebührendem Abstand zur Schulklasse – eine Explosion ausgelöst. «Ich habe die Explosion gesehen, aber zuerst nichts gehört, erst mit etwas Verzögerung ist der Schall bei meinen Ohren angekommen», erzählt Soares-Santos.
Das sei für sie als kleines Mädchen ein Überraschungsmoment gewesen. «Wow! Wie kann so etwas sein?» Der Lehrer habe ihr dann erklärt, dass sich Schall langsamer bewegt als Licht. Das habe sie unglaublich fasziniert – und ist vielleicht tatsächlich irgendwo hängen geblieben, erforscht sie doch auch heute Schall und Licht, wenn auch auf einem ganz anderen Gebiet.
Es klopft. Der Ehemann streckt den Kopf durch die Tür, ob sie auch zum Lunch komme. Die Astrophysikerin wirft einen kurzen Blick zur Wandtafel und schüttelt dann den Kopf. Sie hat noch viel zu tun.