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Bilder aus rumänischen Kinderheimen erschütterten 1989 die Welt. Sie zeigen Kinder in Gitterbetten, manche angebunden, offensichtlich vernachlässigt und mit apathischen Blicken. Die Heimkinder waren ein Spiegelbild der rumänischen Gesellschaft am Ende des kommunistischen Ceausescu-Regimes, das das Land ruiniert hatte. Sie landeten in staatlichen Heimen, weil ihre Familien sie nicht ernähren konnten. Die Heime waren schlecht ausgerüstet und hatten zu wenig Personal. «Diese Kinder sind ein Beispiel für extreme Vernachlässigung», sagt die Neuropsychologin Nora Raschle, «ihnen fehlte die Nähe, die Beziehung zu anderen Menschen und die Fürsorge, die so wichtig sind für kleine Kinder.» Wegen der extremen Bedingungen wurden die rumänischen Kinderheime zu einem interessanten Feld für die Forschung.
Ab dem Jahr 2000 begleitete eine Gruppe von US-Wissenschaftler:innen im Rahmen des Bucharest Early Intervention Project (BEIP) 136 dieser Kleinkinder aus sechs Heimen in Bukarest. Zuerst wurden die Kinder untersucht und dann Pflegefamilien zugewiesen. Später wurde ihre Entwicklung verglichen mit Kindern, die nicht in Pflegefamilien gekommen waren, und mit Kindern, die nie in einem Heim gewesen waren. «Die Bukarester Heimkinder zeigten Auffälligkeiten in ihren kognitiven und sozialen Fähigkeiten und ihrer psychischen Gesundheit», resümiert Raschle, «das belegte beispielhaft, wie sich extreme frühkindliche Vernachlässigung auf die Entwicklung auswirkt.» Nora Raschle ist Neurowissenschaftlerin am Jacobs Center for Productive Youth Development der Universität Zürich. Die Assistenzprofessorin erforscht die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie tut dies, indem sie untersucht, wie sich das Gehirn entwickelt. Dieses ist erst im Alter zwischen 22 und 25 Jahren ausgereift. «Das ist eine sehr lange Zeit, in der die Umwelt und unsere Erfahrungen dazu beitragen, das Gehirn zu formen», sagt Raschle. Diese Einflüsse können positiv sein, auf dem weiten Weg kann aber auch einiges schieflaufen. Raschle interessiert sich für beide Seiten, typische Entwicklungsverläufe und solche, die mit entwicklungsbezogenen und psychiatrischen Störungen zusammenhängen. Sie betont allerdings: «Unser heutiges Wissen über eine positive Entwicklung basiert stark auf Studien, die extrem negative Umstände untersucht haben.» Wie etwa jene zu den Bukarester Heimkindern.
Eine wichtige Rolle spielt die frühe Entwicklung des Gehirns, weil da die Bausteine für die spätere Ausdifferenzierung und das Verhalten gelegt werden. Raschle vergleicht diese frühe Phase mit dem Fundament eines Turms. Wenn dieses nicht stabil ist, fällt der Turm später möglicherweise in sich zusammen. Doch was brauchen Kleinkinder, damit sich ihr Gehirn gut und gesund entwickelt? Zuwendung und Anregung, lautet die Antwort der Forschung. Und Kinder brauchen Orientierung und Strukturen, an die sie sich halten können. Wobei es sich dabei um ein Geben und Nehmen zwischen dem Kind und den Personen handelt, die es betreuen. Dafür wurde der Begriff «Serve and Return» geprägt. Er stammt aus dem Tennisvokabular und kann mit «Aufschlag und Rückgabe» übersetzt werden. So initiieren Kleinkinder den Austausch durch Lallen, Mimik, Gesten und Worte, Erwachsene reagieren darauf ebenfalls mit Mimik und Worten. Mit diesem Hin und Her entwickeln und verifizieren die Kinder ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten.
Das spiegelt sich im Gehirn, wo ständig Verbindungen zwischen den Hirnzellen neu geschaffen oder abgebaut werden. Wenn Kinder vernachlässigt werden, etwa indem sie keine Anregungen und keine Rückmeldungen von ihrer Umwelt erhalten, können sich diese Verbindungen weniger gut entwickeln. «Das kann zu psychischen Störungen und zu lebenslangen gesundheitlichen, kognitiven und emotionalen Problemen beitragen», sagt Raschle. So haben Erwachsene, die als Kinder stark vernachlässigt wurden, mit grösserer Wahrscheinlichkeit einen tieferen IQ oder können weniger gut Beziehungen aufbauen.
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Eltern sind als Vorbilder wichtig, etwa wie sie mit Stress umgehen oder wie sie positive Beziehungen pflegen.
Wenn das Bedürfnis des Kindes nach Aufmerksamkeit und Stimulation enttäuscht wird, kann das im Extremfall toxisch sein, weil es eine übermässige Stressreaktion auslöst. Diese führt zu einer erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Cortisol ist lebensnotwendig, weil es beispielsweise die Energie freisetzt, die wir brauchen, um einer Gefahr zu entfliehen. Am Morgen hilft uns die Ausschüttung von Cortisol, in die Gänge zu kommen.
Ganz anders sieht es aus, wenn wir unter Dauerstress stehen. «Wenn der Körper ständig in Alarmbereitschaft ist und das Gefühl hat, permanent ums Überleben kämpfen zu müssen, dann verändert das die Biologie», sagt Nora Raschle. So führt dieser toxische Stress dazu, dass im Gehirn neuronale Verbindungen nicht geknüpft oder bestehende gekappt werden. Und der Dauerstress bringt den Cortisolhaushalt durcheinander, was zu Angststörungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Problemen führen kann. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist: Je früher erkannt wird, dass Kinder vernachlässigt werden, desto grösser ist die Chance, dass schwere Langzeitfolgen vermieden werden können.
Wie die Bukarest-Studie gezeigt hat, konnten Heimkinder, die früh in Pflegefamilien untergebracht wurden, die Veränderungen in der Gehirnfunktion und Defizite in der emotionalen Bindung, bei Sprache und Kognition zumindest teilweise wieder wettmachen. Die Autoren der Studie schreiben dazu: «Je früher ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht wurde, desto besser erholte es sich.»
Bei den Kindern der Bukarest-Studie handelt es sich um ein extremes Beispiel von Vernachlässigung. «Den meisten Kindern bleibt das zum Glück erspart», sagt Nora Raschle, «dank solchen Studien wissen wir aber, wie wichtig Bezugspersonen sind.» Das gilt besonders für die Eltern. Das Jacobs Center erforscht in der Langzeitstudie SMILIES deshalb die Entwicklung des Gehirns im Kontext der Familie (siehe Kasten unten). Dabei geht es um Fragen wie: «Wie ähnlich sind sich Kinder und Eltern bei der sozio-emotionalen Verarbeitung?» oder «Wie entwickeln Kinder die Fähigkeit, Gefühle zu verarbeiten, zu regulieren und miteinander umzugehen?»
Die Eltern und andere nahe Bezugspersonen sind nicht nur zentral für die Entwicklung der kindlichen Gehirne, indem sie diese anregen. «Eltern sind auch als Vorbilder wichtig, etwa beim Umgang mit Stress oder wie man mit schwierigen Situationen fertig wird», erklärt Raschle, «und sie machen den Kindern vor, wie man positive Beziehungen lebt und Freundschaften pflegt.» So zeigen gute Vorbilder den Kindern, wie sie ihr Leben positiv gestalten können, und sie helfen ihnen, mit Widrigkeiten zurechtzukommen.
Und Eltern geben den Kindern, was sie vor allem brauchen: Liebe, Geborgenheit und Zuneigung. Das ist sehr wichtig für die sozio-emotionale Entwicklung. «Positive Erlebnisse während der frühen Kindheit stärken uns für die Zukunft. Sie fördern unsere Fähigkeit, Freundschaften zu knüpfen und Partnerschaften einzugehen», sagt Raschle. Solche positiven sozialen Beziehungen sind ein wichtiges Element eines glücklichen Lebens.