Eine «Lebensvorsorge» für alle?
«Unser Sozialsystem ähnelt einem Stalagmiten», begann UZH-Rechtsprofessor Thomas Gächter sein Inputreferat letzten Donnerstag und beamte dazu ein Foto eines mächtigen und etwas unförmigen Tropfsteins auf die Leinwand in der Aula. Wie bei Stalagmiten sei ein Sozialgesetz auf das nächste «getröpfelt», und so habe sich während 125 Jahren unser umfangreiches Sozialsystem mit AHV, IV, Sozialhilfe, Kranken- und Unfallversicherung, Erwerbsersatz, Familienzulagen, Ergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen, Mutterschaftsurlaub, 13. AHV etc. gebildet.
Dieses historisch gewachsene Sozialsystem der Schweiz lasse sich nicht so einfach entschlacken, führte der UZH-Rechtsprofessor aus. Zwar werde immer mal wieder in einem Bereich abgebaut. Doch sobald der Bundesrat umfassendere Reformen vorschlage, um beispielsweise die Finanzierung der AHV an die demografischen Veränderungen anzupassen, «hat das Stimmvolk die Vorlage dann an der Urne verworfen».
Fürs Leben vorsorgen, nicht fürs Alter
Nun hat die «Lebensvorsorge Schweiz» eine neue Idee lanciert, die an Stelle des heutigen Sozialsystems treten soll. Der bestehende «Gesetzes-Dschungel» passe nicht mehr zur heutigen Arbeitswelt, die durch Digitalisierung, KI, Automatisierung und die alternde Gesellschaft tiefgreifend verändert und herausgefordert werde, betonte am Podium die Mathematikerin, Verwaltungsrätin und Unternehmerin Marina Meister, die zusammen mit Betriebsökonom, Psychologe und Unternehmer Daniel Straub die «Lebensvorsorge Schweiz» angestossen hat. «Wir müssen unser Sozialsystem vereinfachen und zukunftstauglich machen.»
Doch auch das Konzept der «Lebensvorsorge Schweiz» ist nicht ganz einfach zu verstehen. Deshalb liess Gesprächsleiter Florian Inhauser vor der Podiumsdiskussion ein Erklärvideo abspielen.
Lebensvorsorge Schweiz
Würden die Gelder der bestehenden Sozialversicherungen AHV, IV, Erwerbsersatz, Familienzulagen, Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen zusammengelegt, stünde laut den Initiant:innen der «Lebensvorsorge Schweiz» eine Gesamtsumme von rund 70 Milliarden Franken zur Verfügung, die zur Absicherung der Menschen eingesetzt würde – vom Kind bis zum Rentner.
Zur Finanzierung der Lebensvorsorge Schweiz müssten alle Erwerbstätigen eine Abgabe von 40 Prozent ihres Bruttolohns leisten, maximal 2000 Franken. Im Gegenzug erhielten alle, die in der Schweiz wohnen, arbeiten und seit längerem Steuern bezahlen und nicht zu viel verdienen, einen Grundbetrag von 2000 Franken. Ab einem Einkommen von 5000 Franken wären die Abgaben gleich hoch wie das Grundeinkommen, nämlich 2000 Franken. Kinder würden 700 Franken pro Monat erhalten; Erwachsene mit niedrigem Einkommen ab 18 Jahren 1000 Franken, die jährlich um 50 Franken aufgestockt würden, bis die Person mit 74 Jahren ein Maximum von 2450 Franken erhielte. Wer genügend verdient, würde kein zusätzliches Geld erhalten.
Geringverdiener, Working Poor und Invalide erhielten mit den 2000 Franken monatlich laut den Initiant:innen der «Lebensvorsorge Schweiz» netto mehr Geld als beim derzeitigen System. Sozialhilfeempfänger:innen hätten einen grösseren Anreiz als heute, Erwerbsarbeit anzunehmen, da der Grundbetrag von 2000 Franken auch bei Lohn weiter ausbezahlt würde. Junge hätten einen Anreiz, eine Ausbildung abzuschliessen und einen Job anzunehmen, in dem sie mehr verdienen. Zugewanderte würden das Grundeinkommen erst nach einigen Jahren erhalten, nachdem sie in der Schweiz Steuern und Abgaben geleistet haben.
Bestehen bleiben würden die heutige Kranken- und die Arbeitslosenversicherung, die Pensionskasse und die Säule 3a. Pensionskassenrenten wären von der Abgabe für die Lebensvorsorge befreit. Hingegen müssten wohlhabende Rentner:innen, die ein Zusatzeinkommen erzielen (z. B. durch die Vermietung ihres Hauses), die Abgabe leisten.
Wer kein Anrecht auf die Lebensvorsorge hat, wie zum Beispiel Zugewanderte oder Asylsuchende, würde Sozialhilfe erhalten. Die IV würde weiterhin Hilfsmittel bei einer Behinderung finanzieren. Die Krankenkasse, die Unfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung sowie die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge würden bestehen bleiben.
Die Idee einer «Lebensvorsorge Schweiz» erinnerte die Podiumsteilnehmer:innen an das bedingungslose Grundeinkommen, das die Schweizer Stimmbevölkerung bereits zweimal an der Urne abgelehnt hat. Diesen Einwand liess Marina Meister nicht gelten. Wenn man unbedingt eine Parallele ziehen wolle, dann am ehesten zum Konzept einer «AHV für jede Generation» oder einer Negativsteuer. Negativsteuern sind Gutschriften, die Arbeitnehmer:innen zustehen, die so wenig verdienen, dass sie keine Lohnsteuer zahlen.
Auch die «Lebensvorsorge» sehe für Wenigverdiener:innen gleich welchen Alters eine automatische Überweisung vor, die höher ist als der Beitrag, den sie einzahlen müssten – und der demütigende Gang zum Sozialamt bliebe ihnen erspart.
In den Grundzügen geht es darum, die vorhandenen Gelder des Sozialstaats Schweiz in einem grossen Topf zusammenzulegen und je nach Bedarf unkompliziert an die Bürger:innen auszuzahlen. 40 Prozent des Bruttoeinkommens würden «Normalverdienende» monatlich in den Topf einzahlen, im Maximum 2000 Franken; im Gegenzug erhielten alle, die nicht zu viel verdienen, monatlich 2000 Franken. Niedriglohnempfänger:innen und Working Poor würden vom Systemwechsel profitieren, da sie mehr erhalten als sie einzahlen würden. Ab 5100 Franken Monatslohn würde man mehr einzahlen als erhalten.
Die humorvolle Gesprächsleitung von Moderator Florian Inhauser sorgte dafür, dass die Podiumsteilnehmer:innen das gleichermassen trockene wie emotionale Thema der sozialen Absicherung nicht nur fundiert, sondern auch lebendig und teils gar mit Schalk diskutierten. Der Grundtenor der Gäste zur Idee einer «Vorsorge Schweiz» liesse sich mit «interessant, aber …» umschreiben.
Argumente dafür und dagegen
Die UZH-Politologin Silja Häusermann etwa fand die entstigmatisierte Unterstützung von Wenig- oder Nichtverdienenden positiv; sie teilte die Einschätzung jedoch nicht, dass die «Lebensvorsorge» die bessere Antwort auf den Strukturwandel in der Erwerbstätigkeit sei als die bereits bestehenden Bemühungen zur Wiedereingliederung von Nichterwerbstätigen in den Arbeitsmarkt.
SP-Co-Präsident Cédric Wermuth ortete das vorherrschende Problem der heutigen und zukünftigen Arbeitswelt in der gesteigerten Produktivität. Diese setze Jung und Alt zu und führe zunehmend zu Erschöpfung. Statt in ein neues, individualisiertes Sozialversicherungssystem wie die «Lebensvorsorge» zu investieren, würde besser in die kollektive Verbesserung der Arbeitssituation investiert, etwa durch Arbeitszeitreduktion. Auch reichten die von der «Lebensvorsorge» vorgesehenen Beträge von monatlich 2000 Franken pro Person nicht, um beispielsweise bei einer Umschulung den Lebensunterhalt zu sichern.
Marc Rüdisüli war mit 27 Jahren der jüngste Podiumsteilnehmer. Entsprechend war das Publikum gespannt auf seine Einschätzung. Pragmatisch meinte der Junge-Mitte-Politiker des Thurgauer Kantonsrats: Wenn ein Wechsel des Sozialsystems beim Volk durchkäme, würden er und seine Generation sich wohl darauf einstellen. Ob allerdings die Generation, die kurz vor der Pensionierung stehe, damit glücklich wäre, bezweifle er, müssten die Leute doch zehn Jahre länger als bisher auf eine volle AHV-Rente warten.
Generell schätzt Rüdisüli den Fortbestand der bestehenden Altersvorsorge nicht so pessimistisch ein wie andere. Er könne sich nicht vorstellen, dass irgendein Bundesrat dereinst ans Rednerpult treten und das Ende der AHV verkünden werde; diesen politischen Selbstmord würde wohl niemand begehen. Die Sicherung der AHV für künftige Generationen sollte von der Politik aber etwas kreativer angegangen werden als mit der reflexartig vorgetragenen Forderung nach einer Erhöhung von Mehrwertsteuer und Lohnabzügen.
Die UZH als Raum für kritisches Denken
Das öffentliche Podiumsgespräch war vom Rektor der UZH, Michael Schaepman, initiiert worden. In seinem Grusswort zu Beginn der Veranstaltung äusserte er denn auch seine Überzeugung, dass eine öffentliche Universität zu gesellschaftlich relevanten Fragen wie dem Sozialversicherungssystem nicht nur forschen müsse, sondern auch einen Raum bieten sollte, um neue, innovative Ideen mutig zu denken und kritisch zu diskutieren.
«Als Forscher und als Rektor habe ich schon öfter die Erfahrung gemacht, dass kontroverse Positionen einer Diskussion guttun.» Es zwinge alle Beteiligten, ihre Argumente gründlich zu prüfen. «Oft wird so sichtbar, wo die Grenzen einer Idee oder eines Systems liegen.»