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Präklinische Forschung

«Wenn das Geschlecht miteinbezogen wird, ist die Forschung besser»

Das biologische Geschlecht soll auch in der präklinischen Forschung beachtet werden: Dafür will die Neuroendokrinologin Ivana Jaric mit einem europäischen Netzwerk sorgen.
Interview: Carole Scheidegger
Mit einem COST-Action-Grant wird Ivana Jaric ein Netzwerk aufbauen, um die Initiative «Sex as a Biological Variable» in Europa voranzutreiben. (Bild: iStock.com/RLT_Images)

Ivana Jaric, was genau ist die Initiative «Geschlecht als biologische Variable» – und warum ist sie wichtig?

Ivana Jaric: Das biologische Geschlecht kann einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie der Körper funktioniert, wie Krankheiten entstehen und wie Behandlungen wirken. In der Vergangenheit wurden jedoch in vielen Studien, insbesondere in der biomedizinischen Forschung, nur männliche Tiere untersucht oder die Daten nicht nach Geschlecht analysiert. Deswegen wurden viele potenziell wichtige Unterschiede zwischen Männern und Frauen übersehen. Vor etwa zehn Jahren haben die US-amerikanischen National Institutes of Health die Initiative (SABV) ins Leben gerufen, um Forschende zu ermuntern, das biologische Geschlecht als wichtige Variable in ihren Studien zu berücksichtigen.

Wurde das Geschlecht auch bei der In-vitro-Forschung, zum Beispiel bei Zellkulturen oder Organoiden, zu wenig beachtet?

Jaric: Ja. Das Geschlecht der in Zellkulturexperimenten verwendeten Zellen wurde traditionell ignoriert, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass es wichtige zelluläre Verhaltensweisen beeinflussen kann. So gaben beispielsweise nur 25 Prozent der Studien, die in führenden kardiovaskulären Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, das Geschlecht der Zellen an – und die meisten davon verwendeten männliche Zellen.

Sex oder Gender?

Das biologische Geschlecht bezieht sich auf biologische Unterschiede wie Chromosomen, Hormone und Fortpflanzungsorgane, während das soziale Geschlecht soziale und kulturelle Identitäten, Rollen und Erwartungen umfasst. In der Forschung mit Tieren, insbesondere bei Nagetieren wie Mäusen und Ratten, konzentriert sich die Forschung auf das biologische Geschlecht.

Beeinflusst SABV die wissenschaftliche Genauigkeit und Reproduzierbarkeit?

Jaric: Nehmen wir an, Sie entwickeln ein neues Antidepressivum und testen es nur an männlichen Tieren. In vorklinischen Tests mag es vielversprechend aussehen, aber dann in Studien am Menschen versagen – wo Frauen oft überrepräsentiert sind, weil sie häufiger an Depressionen leiden. Das geht darauf zurück, dass das biologische Geschlecht die Struktur und Funktion des Gehirns, die Aufnahme von Medikamenten, den Stoffwechsel und die richtige Dosierung beeinflusst. Werden diese Unterschiede ignoriert, steigt das Risiko, dass die Behandlung bei der Hälfte der Bevölkerung nicht wie erwartet wirkt. Und das kann zu fehlgeschlagenen Studien, verschwendeten Finanzierungsmitteln und Verzögerungen bei der Bereitstellung wirksamer Behandlungen für die Patient:innen führen.

Forschung ist also besser, wenn das Geschlecht als biologische Variable miteinbezogen wird. So können wir geschlechtsspezifische Effekte erkennen, die sonst möglicherweise übersehen würden, was zu genaueren Schlussfolgerungen und einer besseren Reproduzierbarkeit führt. Dadurch wird die Wissenschaft relevanter, effizienter und spiegelt die reale Bevölkerung besser wider.

Jetzt bauen Sie ein europäisches SABV-Netzwerk auf – und haben sogar einen EU-COST-Action-Grant zur Unterstützung dieses Vorhabens erhalten.

Jaric: Ich möchte dazu beitragen, eine starke, vernetzte und interdisziplinäre Gemeinschaft in Europa aufzubauen, die Forschende unterstützt, Best Practices austauscht und letztlich die Qualität und Wirkung der Forschung verbessert.

Meine Motivation für die Einreichung des COST-Action-Antrags war simpel: Wenn Forschende heute aufgefordert werden, Tiere beider Geschlechter in präklinische Studien einzubeziehen, wissen sie oft nicht, wie sie das tun sollen. Es mangelt an klaren Instrumenten und Leitlinien – insbesondere über verschiedene wissenschaftliche Disziplinen hinweg.

Ich möchte eine interdisziplinäre Gemeinschaft in Europa aufbauen, die Forschende dabei unterstützt, das Geschlecht in ihre Forschung miteinzubeziehen.

Ivana Jaric
Neuroendokrinologin

Haben Sie Unterschiede in der Verwendung von männlichen und weiblichen Labortieren in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beobachtet?

Jaric: In den Neurowissenschaften, meinem Arbeitsgebiet, gab es beispielsweise früher eine starke männliche Dominanz: Auf sechs Studien mit männlichen Tieren kam nur eine mit weiblichen Tieren. In der Pharmakologie und Physiologie überwiegen männliche Tiere fast im Verhältnis vier zu eins. In der Immunologie und Krebsforschung ist es jedoch oft umgekehrt: Weibliche Tiere werden bevorzugt, weil sie weniger aggressiv sind und sich leichter in Gruppen halten lassen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Forschende das SABV-Konzept mit der Durchführung von Studien verwechseln, die speziell zur Untersuchung von Geschlechtsunterschieden konzipiert sind. SABV bedeutet jedoch lediglich, beide biologischen Geschlechter einzubeziehen – ohne sich notwendigerweise auf die Unterschiede zu konzentrieren.

Aber verdoppelt die Einbeziehung beider biologischer Geschlechter nicht die Anzahl der verwendeten Tiere?

Jaric: Die Einbeziehung beider Geschlechter bedeutet nicht, dass Sie Ihre Stichprobengrösse verdoppeln müssen. Anstatt acht Männchen pro Gruppe zu verwenden, können Sie vier Männchen und vier Weibchen verwenden. Insgesamt haben Sie immer noch die gleiche Anzahl an Tieren. Wenn wir jedoch nach einer Intervention oder Behandlung geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen wollen, muss die Gesamtzahl der Tiere in der Regel um etwa 30 Prozent erhöht werden. Dies lohnt sich jedoch, da es uns die Möglichkeit gibt, wirksamere und massgeschneiderte medizinische Interventionen zu entwickeln.

Dieser Ansatz verbessert die Verallgemeinerbarkeit der Resultate und entspricht insofern besser den 3R-Prinzipien (Replace, Reduce, Refine). Denn die Verwendung nur eines Geschlechts kann zu Ergebnissen führen, die nicht allgemein anwendbar sind. Und da in Labors und Tierzuchten von Natur aus beide Geschlechter geboren werden, ist es wissenschaftlich und ethisch sinnvoll, beide einzusetzen.

Was fehlt Ihrer Erfahrung nach in der aktuellen SABV-Ausbildung und -Weiterbildung?

Jaric: Ein grosses Hindernis ist der Mangel an Schulungs- und Ausbildungsressourcen. Viele Forschende, insbesondere in den Bereichen Grundlagenforschung und Präklinik, wurden nicht darin geschult, wie man das Geschlecht als biologische Variable richtig einbezieht. Das umfasst alles von der Gestaltung von Experimenten und der Analyse der Daten bis hin zur Interpretation und Darstellung der Ergebnisse. Ohne diese Grundlage besteht die Gefahr, dass Ergebnisse falsch interpretiert oder sogar unbeabsichtigt Fehlinformationen verbreitet werden. Wenn SABV uneinheitlich angewendet wird, kann dies sogar die Qualität und Reproduzierbarkeit der Forschung beeinträchtigen, anstatt sie zu verbessern.

Was sind EU-COST-Actions?

Die Europäische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie (COST) ist eine Förderorganisation für die Schaffung von Forschungsnetzwerken, den sogenannten COST-Actions. Diese Netzwerke bieten einen offenen Raum für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler:innen in ganz Europa (und darüber hinaus) und geben damit Impulse für Forschungsfortschritte und Innovationen. COST-Actions bestehen in der Regel aus Forschenden aus Hochschulen, KMU, öffentlichen Einrichtungen und anderen relevanten Organisationen oder interessierten Parteien.

Wie wollen Sie das SABV-Netzwerk in Europa lancieren?

Jaric: Wir werden zunächst einmal zuhören. Geplant ist eine umfassende Umfrage unter Forschenden in Europa, damit wir erfahren, was ihrer Meinung nach fehlt. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden wir verschiedene Aktivitäten – Webinare, Summer Schools, Symposien und Workshops – mit theoretischen und praktischen Elementen konzipieren.

Die theoretischen Workshops könnten sich beispielsweise auf Statistik und Studiendesign konzentrieren, während die praktischen Workshops sich damit befassen könnten, wie man den Hormonspiegel bei männlichen und weiblichen Tieren überwacht, wie man die Menopause oder Andropause bei Nagetieren modelliert, wie man das Geschlecht in vitro bestimmt – oder sogar, wie man beide Geschlechter im Labor richtig behandelt und unterbringt. Das sind Details, die oft übersehen werden, aber für gute Forschung unerlässlich sind.

Ab Oktober 2025 haben wir vier Jahre Zeit, um evidenzbasierte Leitlinien zu entwickeln und Schulungen anzubieten, die Forschenden tatsächlich helfen.

Sie greifen auf Fachwissen aus Disziplinen wie Statistik, Bioinformatik und Veterinärmedizin zurück. Warum ist dieser interdisziplinäre Ansatz so wichtig?

Jaric: Um das Beste aus dieser Initiative herauszuholen, brauchen wir eine intensive Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen. Kein einzelnes Fachgebiet kann alle Herausforderungen alleine bewältigen.

Beispielsweise ist die Zusammenarbeit mit Statistiker:innen von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Konzeption von Studien, die männliche und weibliche Tiere umfassen. Tierärzt:innen und Tierschutzexpert:innen sind ebenfalls wichtige Ansprechpersonen. Die Anwendung des 3R-Prinzips bedeutet, Studien zu konzipieren, die sowohl ethisch einwandfrei als auch wissenschaftlich fundiert sind. Manchmal ist die Verwendung von Tieren beider Geschlechter in einem einzigen, gut strukturierten Experiment aussagekräftiger als die Wiederholung von Studien mit nur einem Geschlecht, die möglicherweise zu Ergebnissen führen, die nicht allgemein gültig sind.

Welche Rolle spielt die Bioinformatik?

Jaric: Die Zusammenarbeit mit Bioinformatiker:innen ist ebenso entscheidend, bringt jedoch analytische Herausforderungen mit sich. Einige Gene befinden sich auf den X- oder Y-Chromosomen, andere werden von Sexualhormonen wie Östrogen, Testosteron und Progesteron beeinflusst. Diese Hormone wirken sich nicht nur auf die Fortpflanzung aus, sondern auch auf das Verhalten und die Immunreaktionen. Daher benötigen wir Bioinformatik-Expert:innen, die uns bei der Interpretation dieser komplexen Daten helfen und klare Richtlinien dafür festlegen, wie das Geschlecht in solchen Studien berücksichtigt werden soll.

Wie werden Sie die SABV-Forschung mit der klinischen Praxis verbinden?

Jaric: Wir stehen in Kontakt mit Kliniker:innen, um sicherzustellen, dass die Aktualisierungen der präklinischen Leitlinien auch im klinischen Kontext Anwendung finden. Die EU-SABV-COST-Action konzentriert sich hauptsächlich auf Grundlagen- und präklinische Forschung. Aber es gibt auch wichtige klinische Initiativen – wie der Lehrstuhl für Gendermedizin an der Universität Zürich. Durch die Verknüpfung dieser Initiativen auf europäischer Ebene können wir einen einheitlichen Ansatz verfolgen und eine stärkere Brücke zwischen Labor und Klinik schlagen.