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Politikwissenschaft

Die Gewalt entwurzeln

In manchen Weltregionen dominiert die Gewalt, während es anderswo vergleichsweise ruhig zu und her geht. Der Politologe Enzo Nussio erforscht, weshalb das so ist, und sucht in Lateinamerika nach Strategien, die Staaten friedlicher machen.
Andres Eberhard
Weniger Gewalt: In Kolumbiens Hauptstadt Bogotá werden heute sechsmal weniger Morde begangen als Anfang der 1990er-Jahre. (Bild: Polizeistreife in Bogotá, Keystone)

«Plata o plomo» – Silber oder Blei. Das sagt der ehemalige kolumbianische Drogenboss Pablo Escobar in einer Szene der Netflix-Serie «Narcos». Soll heissen: Wer nicht kooperiert (und dafür mit Geld bedacht wird), wird umgebracht. So sterben Escobars Widersacher im Minutentakt. Und zwar nicht nur am Bildschirm: Angeblich soll der wirkliche Escobar in den 1970er- und 1980er-Jahren noch viel gewalttätiger gewesen sein als die Figur aus der Netflix-Serie.

Noch heute gehören Städte in Lateinamerika zu den gewalttätigsten der Welt – und dies, obwohl Escobar längst tot und die Zeit der übermächtigen Drogenbosse vorbei ist. Warum das so ist, darüber weiss man überraschend wenig. Es gibt mittlerweile einige Indizien dafür, dass nicht der Drogenhandel die Hauptursache der überbordenden Gewalt ist. «In den letzten Jahren nahm in Kolumbien der Drogenhandel zu, die Gewalt jedoch war rückläufig», sagt Enzo Nussio, der seit vielen Jahren erforscht, was die Gewaltspirale in Lateinamerika in Gang setzt. Zudem sei Kolumbien bereits vor Aufkommen des Drogenhandels vor etwa vier Jahrzehnten von Gewalt geprägt gewesen. «Und die Beispiele von Bolivien und Peru zeigen, dass es auch einen weitgehend gewaltfreien Drogenhandel gibt.»

Warum dominiert in manchen Weltgegenden die Gewalt, während es anderswo vergleichsweise friedlich zu und her geht? Antworten auf diese Frage will Nussio in den nächsten fünf Jahren zusammen mit drei bis vier Mitarbeitenden finden. Für sein Projekt zum Thema «Gewaltreduktion» hat er einen SNF Consolidator Grant erhalten und ist SNF-Förderprofessor an der UZH.

Sich die Köpfe einschlagen

Die mittlerweile zahlreichen Dokus und Serien im TV und auf Netflix machen zumindest implizit das personalisierte Böse für die Gewalt verantwortlich: Sie zeigen beispielsweise, wie Pablo Escobar seinen Kontrahenten mit furchteinflössender Miene droht oder kaltblütig das Okay zum Mord an einstigen Verbündeten gibt. Doch Gewalt, da ist sich Nussio sicher, hat strukturelle Ursachen. In Kolumbien hat der 44-Jährige für seine Forschung Dutzende ehemalige Kämpfer aus dem Bürgerkrieg interviewt. «Wenn man sie davon überzeugt, die Waffen niederzulegen, dann stehen Tausende andere bereit.» Dasselbe dürfte für die Drogenbosse gelten: Hätte nicht Escobar die Macht an sich gerissen, hätte es ein anderer getan. Anders gesagt: Nicht einzelne Menschen, sondern gewisse Umstände führen zu Gewalt. Nur, welche Umstände?

Enzo Nussio

Menschen vor Gewalt zu schützen, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Staaten.

Enzo Nussio
Politologe

Vor seinem Büro hat Nussio ein Poster im A3-Format aufgehängt. «Urban violence reduction: Bogotá as success and future test case» steht darauf. Und die Frage: Warum nimmt Gewalt in bestimmten Städten Lateinamerikas wie eben Bogotá ab? In der Hauptstadt Kolumbiens geschehen heute sechsmal weniger Morde als noch Anfang der 1990er-Jahre. Die zentrale Frage, die Nussio seit jeher umtreibt, formuliert er so: «Geschieht eine solche Entwicklung spontan oder kann man sie lenken?»

Die bisherigen Versuche der Wissenschaft, diese Frage zu beantworten, hält er für unzureichend. Einerseits gebe es eine ganze Menge an Erklärungsansätzen, wonach Gewalt durch bestimmte Entwicklungen auf der Makroebene minimiert wird. Auf diese Weise argumentieren beispielsweise Historiker:innen, wenn sie erklären, warum wir uns heute in der Schweiz nicht mehr gegenseitig die Köpfe einschlagen wie noch im Mittelalter: Staatsbildung, Modernisierung, Demokratisierung oder Reduktion der Ungleichheit sind einige Stichworte dazu.

«Die Erkenntnisse solcher Forschung sind aber meist deprimierend», sagt Nussio. «Schliesslich bedeuten sie, dass wir nicht viel tun können und dass es vielleicht noch Hunderte von Jahren dauert, bis die Gewalt zurückgeht.» Und Nussio ist auch skeptisch, ob sie zutreffen. Schliesslich seien die Staaten Lateinamerikas demokratischer und wirtschaftlich weiter entwickelt als viele andere auf der Welt.

Organisierte Zwiebelbauern

Auf einer ganz anderen Ebene beschäftigt sich die kriminologische Forschung mit dem Thema Gewalt. Sie fragt etwa danach, was die Polizei tun muss, damit die Gewalt in der Stadt abnimmt. Nussio hat dazu Untersuchungen angestellt. Mit Erfolg: So konnte eine von ihm begleitete Kampagne der Polizei die Gewalt in Bogotá reduzieren. Die Polizei hatte in den 150 gefährlichsten Strassenzügen der Stadt Poster aufgehängt. Darauf zu lesen war, wie viele Kriminelle am jeweiligen Ort schon verhaftet wurden. Dass die Kampagne funktionierte, ist aus Sicht der lokalen Behörden ein Erfolg. Denn sie zeigt, dass es für die Polizei einfachere und günstigere Wege gibt, um die Gewalt zu reduzieren, als an jeder Ecke zu patrouilleren.

Dennoch sei er hinterher frustriert gewesen, erzählt Nussio. Denn was man auch beobachten konnte: Die Gewalt kam zurück, sobald die Poster nicht mehr hingen. Ihm wurde klar: Um nicht nur die Symptome, sondern den Kern des riesigen Gewaltproblems  zu bekämpfen, genügen Poster nicht. Nun verfolgt Enzo Nussio eine neue Strategie. Er will die Struktur des Gemeinwesens in den Kommunen genauer unter die Lupe nehmen. «Die Beziehung zwischen lokalen und staatlichen Organisationen ist ein entscheidender Faktor», vermutet er. Was er damit meint, erläutert er am Beispiel der «Juntas de Acción Comunal» (JAC), von denen es in Kolumbien Tausende gibt. Dabei handelt es sich um organisierte zivile Gruppen auf kommunaler Ebene. Diese haben in gewissen Regionen Kolumbiens sehr viel Einfluss. Manche davon taten sich aus wirtschaftlichen Gründen zusammen. So traf Nussio in einem Dorf, das er zufällig bereist hat, auf Einwohner, die sich zu einer Vereinigung von Zwiebelbauern zusammengeschlossen hatten. Wer dieser Vereinigung vorsteht, hat vielleicht sogar mehr Macht als der lokale Bürgermeister, da praktisch alle Dorfbewohner arm und vom Zwiebelgeschäft abhängig sind.

Solche lokalen Organisationen arbeiten mal mehr, mal weniger mit den staatlichen Behörden zusammen. In manchen Gegenden sind zivile und staatliche Organisationen richtiggehend verfeindet. «Dort wünschen sich die Menschen nicht mehr, sondern weniger Staat», sagt Nussio. Es gebe aber auch Kommunen, in denen der Präsident der lokalen JAC mit dem Bürgermeister bespricht, wie es mit der löchrigen Strasse weitergehen soll. Diese funktionierende Zusammenarbeit zwischen zivilen und staatlichen Organisationen könnte ein entscheidender Faktor sein, um die Gewalt langfristig zu reduzieren, glaubt Nussio.

Zeitungstexte durchforsten

Um diese These zu prüfen, braucht der Forscher zuallererst Daten zur Gewalt in Kolumbien. Und zwar sehr viele: Schliesslich möchte er das Auf und Ab von Gewalt zuerst lokal und über die letzten hundert Jahre hinweg dokumentieren. Manche Zahlen erhält er von den Behörden, mit Hilfe von Machine Learning will er zudem digitalisierte Zeitungstexte durchforsten. Auch sogenannte Oral History, also die Befragung von Zeitzeugen, soll mit einfliessen.

Liegen die Daten vor, können Vergleiche angestellt werden. Interessant sind dabei insbesondere jene Gegenden, in denen die Gewalt in einem bestimmten Zeitraum abgenommen hat. Dort kann Nussio mit weiteren Fragen ansetzen: Was waren die Gründe für den Rückgang? Gab es politische Entscheide oder herrschten bestimmte Strukturen vor? Bestenfalls lassen sich Strategien finden, mit denen Gewalt in der Vergangenheit erfolgreich reduziert werden konnte. Ob diese auch heute noch wirken, würde anschliessend in einem Feldexperiment getestet, sagt Nussio.

Aber selbst dann: Werden die politischen und zivilen Akteure vor Ort so handeln, wie es seine Forschung empfiehlt? Nussio zuckt mit den Schultern. «Menschen vor Gewalt zu schützen», sagt er, «ist eine der wichtigsten Aufgaben von Staaten. Erfüllen sie diese nicht, führt das zu grossen Enttäuschungen.» Bis 2030 nimmt sich Nussio nun Zeit, um die Gewaltspirale zu analysieren. «Aber», sagt er, «eigentlich ist das mein Lebensprojekt.»