Mehr Nachhaltigkeit, weniger Moral
Wie stellen Sie sich ein gutes im Leben im Jahr 2040 vor? Dies wollte das deutsche Sinus-Institut für Markt- und Sozialforschung in einer Umfrage wissen. Herausgekommen ist dabei ein überraschend einheitliches Bild. Quer durch alle Gesellschaftsschichten wünschen sich die Menschen für die Zukunft grüne Landschaften, eine hohe Artenvielfalt und soziale Sicherheit. «Das sind alles Themen, die sich mit den von der UNO festgelegten globalen Nachhaltigkeitszielen decken», sagt Kai Niebert. Doch diesem Wunsch- und Leitbild der Menschen werde in der Politik zu wenig Rechnung getragen. Ein Grund dafür ist, dass die politische Landschaft in Nachhaltigkeitsfragen in vielen europäischen Ländern tief gespalten ist.
Das sollte sich ändern, sagt Niebert. «Wir müssen es schaffen, die international vereinbarten und gesellschaftlich gewollten Zukunftswünsche stärker Politik werden zu lassen, damit Europa nachhaltig wird.» Denn obwohl viele von grünen Landschaften träumen, geht es mit der Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft in Europa zwar stetig, aber zu langsam voran.
Die Weichen dafür sind eigentlich gestellt: Die UNO hat 17 Nachhaltigkeitsziele definiert, die alle Mitgliedstaaten bis 2030 erreichen sollten, die Schweiz hat das «Zielbild klimaneutrale Schweiz 2050» definiert und die EU den Green Deal lanciert, der Europa in den nächsten 25 Jahren zum weltweit ersten klimaneutralen Kontinent machen will. Doch von den gesetzten Zielen sind wir noch weit entfernt und die Zeit läuft uns allmählich davon. Auch wenn es immer ambitionierter wird, müssten wir alles dafür tun, um die gesetzten Zeitvorgaben zu erreichen, sagt Niebert.
Politischer Kulturkampf
Kai Niebert hat mehrere Hüte auf. Er forscht und lehrt an der UZH, wo er Professor für Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit ist. Gleichzeitig ist er als wissenschaftlicher Berater Teil verschiedener Gremien der deutschen Bundesregierung, die sich mit Nachhaltigkeitsthemen beschäftigen. Und er ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings, des Dachverbands der deutschen Umweltorganisationen.
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Konservative und christliche Kreise haben es verpasst, Nachhaltigkeit als eines ihrer eigenen Themen zu begreifen, obwohl es dies durchaus sein sollte.
Eine Ursache dafür, dass Europa bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen zu zögerlich vorankommt, sieht Niebert in einem politischen Kulturkampf. «Klimawandel und Nachhaltigkeit werden von Teilen der Gesellschaft und der Politik als links-grüne Projekte definiert, von denen sie sich abgrenzen wollen», sagt er. Konservative und christliche Kreise hätten es verpasst, Nachhaltigkeit als eines ihrer eigenen Themen zu begreifen, obwohl es dies durchaus sein sollte. Denn es geht darum, Dinge zu erhalten und Natur und Schöpfung zu bewahren, sagt der Nachhaltigkeitsforscher. Doch ideologische Gräben erschweren die Suche nach einem gemeinsamen Weg in die Klimaneutralität.
Diese Gräben durchziehen nicht nur die Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt. Eine Rolle spielt dabei, dass Nachhaltigkeitsthemen in der gesellschaftlichen Diskussion, aber auch in der Bildung häufig individualisiert werden. «Wir konnten in einer Studie nachweisen, dass Bildungsangebote Menschen eher dazu anleiten, das Licht auszumachen und darauf zu achten, was auf ihrem Teller liegt, anstatt die grossen und wichtigen Fragen zu stellen, wie wir als Gesellschaft Strukturen schaffen können, die nachhaltiges Verhalten ermöglichen und fördern», sagt Kai Niebert.
Der Fokus auf den individuellen Umgang mit Nachhaltigkeit führt eher zu einer Spaltung der Gesellschaft als zu einem konstruktiven Miteinander. Denn nachhaltiges Verhalten wird so zu einer moralischen Frage. Es geht darum, dass ich mich als besserer Mensch fühle, wenn ich vegan lebe und nicht mehr in ein Flugzeug steige, sagt Niebert. «Künftig sollten wir deshalb das, was uns verbindet, mehr betonen und nach vorne stellen, das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für Wissenschaft und Gesellschaft.»
Statt nachhaltiges Verhalten zu moralisieren, sollten wir Wege finden, wie dieses erleichtert wird. «Geht es um Nachhaltigkeit, stehen oft die Probleme im Vordergrund und nicht die Lösungen, die wir eigentlich brauchen», sagt Niebert, «mit Letzteren sollten wir uns mehr beschäftigen». Denn auf ein Auto können wir verzichten, wenn es dazu interessante Alternativen gibt. Dasselbe gilt für den Sonntagsbraten. Die Auswahl an nachhaltig produzierten Lebensmitteln bei Migros, Coop & Co. ist deutlich grösser und vor allem trendiger geworden, hat Kai Niebert festgestellt, das sei erfreulich. Denn nachhaltiges Verhalten über ein attraktives Angebot zu fördern, ist erfolgversprechender als das Predigen von Moral und Verzicht beim Essen.
«Value» und «Values»
Geht es um eine nachhaltige Zukunft, spielt die Wirtschaft eine Schlüsselrolle. Allerdings tut auch sie sich zunehmend schwer mit der Nachhaltigkeit. Dies hat der Ökonom Zacharias Sautner festgestellt, der sich in seiner Forschung an der UZH mit Sustainable Finance beschäftigt. «Die Investitionen in ESG-Finanzprodukte sind in Europa unter Druck geraten und zum Teil zurückgegangen», sagt er. ESG steht englisch für Environmental, Social, Governance und bezeichnet Kriterien für ein nachhaltiges Engagement in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Ein Grund für das abnehmende Interesse an nachhaltigen Geldanlagen ist, dass ESG-Finanzprodukte verstärkt politisch wahrgenommen werden – als Ausdruck eines woken Kapitalismus, der vor allem moralische Prinzipien umsetzen will, aber zu wenig auf Gewinn und Risiko schaut. Verbreitet ist dieses Denken vor allem in Teilen der USA, aber zunehmend auch in Europa.
«Die Annahme, dass es bei nachhaltigen Finanzprodukten vor allem um moralische Werte (values) geht, ist aber falsch», sagt Zacharias Sautner, «im Zentrum stehen ganz ökonomische Interessen und finanzielle Werte (value).» Denn die Forschung der letzten Jahre macht deutlich, dass finanzielle Risiken und klimabedingte Verluste für die Volkswirtschaft, aber auch für einzelne Unternehmen mit dem Klimawandel deutlich steigen. Die Wirtschaft sollte sich deshalb aus eigenem Interesse für mehr Klimaschutz engagieren und sich auf verschiedene Klimaszenarien vorbereiten. «Je länger wir warten, desto grösser werden die Schäden und die Verluste», sagt Sautner. Auch wenn der Trend aktuell in die Gegenrichtung geht, ist das Bewusstsein dafür bei den Investorinnen und Investoren gestiegen. Viele haben realisiert, dass das Thema Nachhaltigkeit fundamental ist, wenn Unternehmen langfristig erfolgreich sein wollen. Aber eben lange noch nicht alle.
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Je länger wir mit dem Klimaschutz zuwarten, desto grösser werden die Schäden und die Verluste.
Sautners Forschung zeigt, dass zahlreiche Unternehmen im grossen Stil Anti-Klima-Lobbying betreiben. «Vor allem CO2-intensive Firmen unternehmen viel, um striktere Regulierungen und etwa eine angemessene Steuer auf Kohledioxid-Emissionen zu verhindern», sagt der Sustainable-Finance-Experte, «und sie tun das sehr erfolgreich.» Dies sei aber nicht nur aus moralischen, sondern vor allem auch aus ökonomischen Gründen für diese Unternehmen problematisch. Denn einerseits kann sich die Lobbyarbeit negativ auf ihre Reputation auswirken. Andererseits laufen die Unternehmen Gefahr, den Wandel zur Klimaneutralität zu verschlafen, da sie ihre Emissionen nicht schnell genug senken. Dies in der Hoffnung, dass ihr Lobbying erfolgreich ist. «Damit steigt auch das Risiko, dass sie künftig massiv an Wert verlieren», sagt Sautner.
Aus diesen Gründen sollten Investorinnen und Investoren sich stärker engagieren und von den Unternehmen einfordern, mehr für den Klimaschutz zu tun. «In der Schweiz besteht da beispielsweise bei finanzstarken Pensionskassen noch viel Potenzial», sagt Zacharias Sautner, «hier sind wir ja im Prinzip alle Investorinnen und Investoren und können aktiv einfordern, dass sie sich noch mehr für den Klimaschutz engagieren.» Das ist dann ein Engagement für nachhaltige Strukturen, das über das Alltagshandeln hinausgeht und auch aus Risiko- und Umweltgesichtspunkten eine gute Idee.
Weniger Details regulieren
Um der Wirtschaft neue Impulse in Richtung Nachhaltigkeit zu geben, braucht es auch eine neue Politik, ist Kai Niebert überzeugt. Im Green Deal der EU sei beispielsweise alles bis ins Detail geregelt. «Metaphorisch gesprochen: Während die USA sagen, wir spielen Fussball und schiessen ein Tor, heisst es in Europa, wir schiessen auch ein Tor, aber es muss ein Fallrückzieher in der 87. Minute ins rechte obere Lattenkreuz sein», sagt der Forscher, «das heisst, wir sollten von Detailregulierungen wegkommen und punkto Nachhaltigkeit mehr grosse Vorgaben machen.» Die Bürokratie müsse reduziert werden, ohne damit gleichzeitig Nachhaltigkeitsstandards abzubauen – dies sei eine grosse Herausforderung.
Ändern sollte sich auch die Entwicklungspolitik: Denn durch unseren Wohlstand lagern wir viele negative Effekte in den globalen Süden aus. Da müssten wir mehr Verantwortung übernehmen, sagt Kai Niebert. Der Norden habe im Süden gerade während der Corona-Pandemie viel an Glaubwürdigkeit verloren, weil er vor allem auf sich selbst geschaut und nach der Pandemie seine Wirtschaft mit massiven Investitionen abgefedert hat. Das habe global zu mehr Ungleichheit geführt.
Bei den Vereinten Nationen in New York, wo er einmal pro Jahr den Umsetzungsstand der Nachhaltigkeitsziele diskutiert, hat Niebert von Vertreter:innen afrikanischer Staaten den Vorwurf gehört: «Von China erhalten wir Geld und Infrastruktur, von Russland Waffen, und ihr Europäer kommt uns mit Menschenrechten.» Es sei Zeit, dass Europa seine Entwicklungspolitik neu ausrichte und wieder zu einem verlässlichen Kooperationspartner für den globalen Süden werde, sagt der Nachhaltigkeitsexperte, auch in Sachen Klimaschutz.
So oder so: Das 2015 im Pariser Klimaabkommen festgelegte Ziel einer Erderwärmung von höchstens 1,5 Grad wird auf allen diesen Wegen nicht mehr erreicht werden können. «Diese Marke haben wir bereits 2022 global gerissen», sagt der UZH-Professor, «wir sollten alles dafür tun, damit wir möglichst unter 2 Grad bleiben, uns aber auf 2 Grad einstellen.» Das halte er für verantwortungsvolle Politik. Zu erreichen ist dieses Ziel nur, wenn moralische Hürden und ideologische Gräben überwunden werden und möglichst viele Akteure am gleichen Strick ziehen.