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Viele Eltern kennen die Szene nur zu gut: Der Teenager kommt nach Hause, verschwindet mit einem knappen «Hoi» im Zimmer und schliesst die Tür. Wenn der Vater zum Essen ruft, liegt der Nachwuchs auf dem Bett, die Augen auf das Handy fixiert, und knurrt, er komme gleich. Was er nicht tut. Seit den 2010er-Jahren spielen Social Media im Alltag von Jugendlichen eine bedeutende Rolle. Tiktok, Instagram, Whatsapp, Youtube, Pinterest und Snapchat nehmen oft so viel Lebenszeit ein, dass es den Eltern bange wird. Sie fragen sich: Kann ein junger Mensch mit so viel Social Media überhaupt glücklich und zufrieden gross werden?
Wie berechtigt sind die Sorgen derjenigen, die oft noch «offline» aufgewachsen sind und für die Plattformen wie Snapchat und Tiktok fremd und schwer zugänglich wirken? Oder positiv gefragt: Wie können Social Media dazu beitragen, dass aus Jugendlichen glückliche junge Erwachsene werden? Antworten darauf liefern die Medienwissenschaftlerin Sandra Cortesi und der Medienpsychologe Daniel Süss. Sie forschen seit vielen Jahren zur Social-Media-Nutzung von Jugendlichen und binden die jungen Menschen aktiv in Studien und Workshops ein.
Sandra Cortesi, Jahrgang 1983, hat Technologie von klein auf Spass gemacht. «Ich hatte das grosse Privileg, als eine der Ersten einen Internetzugang zu haben, mit dem ich aus der Ostschweiz in die Welt hinaus kommunizierte.» Sie ist eine weltweit vernetzte Forscherin, Faculty Associate am Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard University und Oberassistentin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der UZH. Dort untersucht sie unter anderem den Mediengebrauch von 12- bis 18-Jährigen – in der Schweiz, den USA, Südamerika, Afrika und Asien.
In der Schweiz seien Social Media unter jungen Menschen auch deshalb so präsent, weil der Alltag stark digitalisiert ist, sagt Cortesi. Rund 95 Prozent der Schweizer Jugendlichen haben Zugang zum Internet und besitzen ein Smartphone. Trotz dieser allgegenwärtigen Digitalisierung sollten Eltern jedoch nicht den Eindruck gewinnen, dass ihr Einfluss schwindet. «Wenn Eltern möchten, dass ihr Kind beispielsweise freundlich, rücksichtsvoll und zuverlässig ist, sollen sie diese Werte auch weiterhin vermitteln», sagt Cortesi. Werte sind nicht nur im analogen Zusammenleben, sondern auch digital wichtige Leitplanken.
Cortesi ist überzeugt, dass auch Jugendliche, die viele Stunden online verbringen, glücklich sein können. Ein gutes Lebensgefühl hängt für die Forscherin nicht primär von der Bildschirmzeit ab, sondern ist vielmehr das Resultat einer aktiven und bewussten Lebensgestaltung. «Sowohl in der Offline-Welt als auch in den Social Media ist es wichtig, sich aktiv einzubringen, etwa indem man Posts kommentiert, kreativ ist, neue Dinge lernt oder sich in einer Community engagiert.»
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Ein gutes Lebensgefühl hängt von einer aktiven Lebensgestaltung ab, nicht von der Bildschirmzeit.
Wenn der Social-Media-Konsum ihrer Kinder überhandzunehmen droht, können Eltern entgegenwirken, indem sie das Thema offen ansprechen, so Cortesi. Sie können beispielsweise ihre Kinder dazu ermutigen, Social Media als Plattform für kreative Projekte zu nutzen, statt nur passiv Inhalte zu konsumieren. Viele Jugendliche interessieren sich für spezifische Themen oder möchten an gesellschaftlichen Debatten teilhaben. Eltern können Jugendliche dazu anregen, Social Media gezielt als Lern- und Diskussionsplattform zu brauchen. Sie können aber auch kritische Punkte einbringen und mit ihren Kindern über die Geschäftsmodelle und die von Meta, Alphabet und Co. entwickelten Algorithmen sprechen. Wenn Jugendliche verstehen, dass Plattformen wie Tiktok, Instagram, Youtube darauf ausgelegt sind, ihre Aufmerksamkeit möglichst lange zu binden, entwickeln sie eher Strategien, um sich davon abzugrenzen. Selbst als Vorbild zu agieren, sich mit Social Media auseinanderzusetzen und die Themen offen zu diskutieren – das ist laut Cortesi der beste Weg, um Jugendliche langfristig zu befähigen, ihre Social-Media-Nutzung eigenverantwortlich zu gestalten.
Für viele Jugendliche sind Social Media und andere digitale Technologien so attraktiv und wichtig, weil sie eine ideale Spielwiese sind, um Ideen einfach mal auszuprobieren. Auch komplexe Konzepte wie divergentes Denken können sie hier unbeschwert erkunden – etwa indem sie mithilfe von ChatGPT zwei Begriffe kombinieren lassen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben, wie beispielsweise Ordnung und Chaos. Das kann Spass machen und überrascht mit neuen Impulsen, sagt Sandra Cortesi.
Auf Online-Plattformen können junge Menschen das tun, was sie am liebsten tun, sagt auch der Medienpsychologe Daniel Süss: mit Freund:innen kommunizieren, sich vernetzen, Informationen zu ihren Fragen finden, gamen, mit Fotos und Videos kreativ sein und Musik hören. Social Media eröffnen Jugendlichen unzählige alternative Welten zu ihrem Daheim – «das macht es für die Eltern anstrengender, ihren Kindern die eigenen Werthaltungen näherzubringen», so Süss. Doch resignieren müssen sie deswegen nicht. In der Schweizer Langzeitstudie «JAMES», die Süss an der ZHAW mitleitet, haben die Jugendlichen angegeben, dass ihnen ihr direktes Umfeld – Freund:innen, die Familie, die Gemeinde – nach wie vor sehr wichtig ist. Auch verbinden sich Jugendliche in ihren sozialen Netzwerken vorwiegend mit Menschen, die sie auch im Alltag treffen.
Daniel Süss ist wie Sandra Cortesi von Haus aus Psychologe; als UZH-Professor hat er sich auf Mediensozialisation und Medienkompetenz spezialisiert. Wie beantwortet er die Frage, welche Social-Media-Nutzung Jugendliche dabei unterstützt, zufriedene und glückliche junge Erwachsene zu werden? «Jugendliche müssen sich von den Eltern lösen und eine eigene Identität und eine selbstgewählte Community ausserhalb der Familie finden – das sind wichtige Entwicklungsaufgaben», sagt Süss. Social Media haben da viel zu bieten.
Weil sich in der Pubertät der Körper der Mädchen und Jungen stark verändert, sind das Körperselbstbild und verschiedene Rollenbilder zentrale Themen für Jugendliche, sagt Süss. Dabei werden die Jugendlichen mit vielen Herausforderungen konfrontiert, die sie nicht mehr mit den Eltern besprechen wollen. Hier springen Social Media ein. Unzählige Posts behandeln zentrale Fragen der Jugend: Wer bin ich, welche Merkmale möchte ich betonen, was machen die anderen, was finde ich doof, wo gehöre ich dazu, welche Geschlechterrolle möchte ich wahrnehmen, was für eine intime Beziehung eingehen?
Social Media bieten auch viele Möglichkeiten für «das soziale Vergleichen und das Lernen am Modell», sagt Süss. Oft ahmen Jugendliche erfolgreiche Influencer:innen nach, meist vermitteln diese westliche, amerikanische Vorstellungen von Attraktivität. Junge Mädchen zeigen sich in der Folge sexy und lasziv, Jungs möglichst muskulös und sportlich, eventuell mit Statussymbolen wie einem Motorrad oder in Challenges, um mutig zu wirken. Für ein positives Selbstbild findet es Süss wichtig, dass Jugendliche lernen, die verschiedenen Posts auf Social Media kritisch zu hinterfragen.
Doch auf Social Media finden sie auch eine Vielzahl von Gegenbewegungen, wie Body Positivity, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit als schön inszenieren. «Das sind zwar keine Mainstream-Influencer:innen, aber wenn Jugendliche dazu was suchen, finden sie auf Social Media einfacher als früher Alternativen», so Süss. Dass Eltern die freizügigen Posen im bauchfreien Top mit Ausschnitt nicht gut finden und sich darüber aufregen, ist Teil des Spiels: «Die Eltern erleichtern es dem Jugendlichen mit ihrem Widerstand, sich von ihnen abzugrenzen», sagt Süss. Eltern sollten diese Phase des Suchens und Ausprobierens einer eigenen Identität mit einer gewissen Gelassenheit und mit Wohlwollen begleiten und sich abwertende Kommentare verkneifen, empfiehlt er.
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Jugendliche finden oft selbst, dass sie zu viel Social Media konsumieren und etwas dagegen tun müssen.
Um für die Macht der Bilder zu sensibilisieren, haben Daniel Süss und sein Forschungsteam an der ZHAW ein Übungsset für Zehn- bis Zwölfjährige entwickelt. Anhand von Fotos beliebter Influencer:innen werden den Jungen und Mädchen die verschiedenen Manipulationsmöglichkeiten gezeigt, die ein durchschnittliches Sujet in ein eindrückliches Bild verwandeln.
Die Schulung im bewussten Umgang mit Bildern soll die Teenager befähigen, adäquate Bilder von sich oder ihren Freund:innen auf Social Media zu teilen. Gleichzeitig geht es darum, dass sie sich überlegen, welche Bilder ihnen guttun und wie sie sich von verstörenden Bildern und Inhalten abgrenzen können. Das Übungsset wird derzeit in Schulklassen in der Deutschschweiz und in Baden-Württemberg erprobt.
Im mittleren Jugendalter werden Teenager mit der Frage konfrontiert, ob sie eine Berufslehre oder eine weiterführende Schule machen sollen. In dieser Umbruchsphase suchen die Jugendlichen auf Social Media häufig auch nach Tipps, Unterstützung und Inspiration für die nächsten Schritte, sagt Süss. Doch egal, welche Themen gerade im Vordergrund stehen, es gilt für die Jugendlichen, einen positiven Umgang mit digitalen Medien zu finden, eine gute «Digital Life Balance».
Und das versuchen sie auch, wie die Interviews im Forschungsprojekt «Generation Smartphone» gezeigt haben. «Jugendliche finden oft selbst, dass sie zu viel Social Media konsumieren und sie etwas dagegen tun müssen», sagt Süss. Dass Jugendliche ihren Konsum selbst zu regulieren versuchen und zum Beispiel vor Prüfungen bestimmte Profile stummschalten, ist ideal, sagt Süss. Mit zunehmender Erfahrung, wie man nach gelegentlichen «Exzessen» wieder zu einer gesunden Social-Media-Dosis gelangt, eignen sich die Jugendlichen ein resilientes Konsumverhalten an. Sie finden heraus, wie sie persönlich den Alltag verändern können, um wieder mehr Selbstkontrolle zu erlangen. Und wenn es mal nicht funktioniert, trainieren sie Toleranz im Umgang mit Misserfolgen oder Fehlern. «Diese Fähigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, und zu wissen, es gibt Möglichkeiten und Schritte, wie man Krisen überwinden kann, ist eine sehr wichtige Ressource, um glücklich zu werden», sagt Süss.
Auch Sandra Cortesi findet, dass junge Leute von Social Media fürs Leben profitieren können. Kompetenzen in siebzehn Bereichen hat sie herausgearbeitet, die Jugendliche bei der Nutzung von Social Media entwickeln. Hinzu kommen kritisches Denken, Zusammenarbeit, Kommunikation und Kreativität – Fähigkeiten, die sowohl in der digitalen als auch in der analogen Arbeitswelt gefragt sind. Für die Medienwissenschaftlerin ist klar: Social Media wandeln sich, aber sie werden nicht so schnell verschwinden.
Deshalb sollten die Erwachsenen Jugendliche aktiv in die Entwicklung von Leitlinien zur Social-Media-Nutzung einbeziehen. «Wir müssen junge Menschen auf eine ehrliche, qualitativ hochwertige und ernstzunehmende Weise in unsere digitalisierte Gesellschaft einbinden», betont Cortesi.