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Literaturwissenschaft

Prügeln und vergöttern

Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau sah im 18. Jahrhundert die Kindheit mit neuen Augen. Seine Ideen inspirierten das Denken und Schreiben von Generationen von Autorinnen und Autoren. Das kindliche Glück ist in der Literatur allerdings kaum zu finden.
Roger Nickl
Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau sah als Erster die Kindheit als eigenständige Lebensphase, die auch geschützt werden sollte. (Porträt von Maurice Quentin de la Tour, 1753 (Ausschnitt))

Vor gut 250 Jahren wurde die Kindheit neu erfunden. Verantwortlich dafür war Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).) Der schweizerisch-französische Philosoph und Schriftsteller veröffentlichte 1762 ein Buch, das damals Furore machte und dessen Gedanken bis heute nachhallen. Rousseau richtete im 18. Jahrhundert einen völlig neuen Blick auf die erste Lebensphase eines Menschen. In «Emile oder über die Erziehung» – halb Roman, halb Sachbuch – beschreibt der Denker und Autor das Leben eines Jungen, der ohne gesellschaftliche Zwänge auf dem Land aufwächst. Er kann sich frei entfalten und lernt spielerisch ganz ohne Bevormundung und Bestrafung.

Das Bild, das Rousseau zeichnete, stand in scharfem Kontrast zu den überlieferten Vorstellungen über Kinder und Erziehung. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es die Kindheit als Idee lange Zeit schlicht nicht gab. Im Mittelalter und bis in die Frühe Neuzeit galten Kinder als kleine Erwachsene, die schon früh hart arbeiten mussten. Mit der aufkommenden Aufklärung änderte sich dieses Bild allmählich: Für die Aufklärer waren Kinder zwar keine kleinen Erwachsenen mehr, sie betrachteten sie aber als unvernünftige Menschen, die durch strenge Erziehung und Belehrung zur Vernunft gebracht werden mussten – wenn nötig mit Prügel.

Kleine Genies

Rousseau sah dies anders. Er war der Erste, der die Kindheit als eigenständige Lebensphase betrachtete, die auch geschützt werden sollte, damit sich Kinder entfalten und positiv entwickeln können. Seine Ideen beflügelten fortan das Denken von Pädogoginnen und Pädagogen. Aber nicht nur das: Sie inspirierten auch viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller. «Nach Rousseau entstand im späten 18. und 19. Jahrhundert eine ganze Flut von literarischen Texten, die sich mit der Kindheit und mit Fragen von Erziehung und Pädagogik auseinandersetzten», sagt Davide Giuriato, der sich in seiner Forschung intensiv mit dem Thema «Kindheit in der Literatur» beschäftigt hat. Noch bevor die moderne Wissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts die Kindheit für sich entdeckt, wird die Literatur zu einer Art «Leitmedium», wo Fragen rund um das Kind gestellt und ganz unterschiedliche Ideen und Vorstellungen von Kindheit reflektiert und entwickelt werden.

Diese literarische Ideenvielfalt zu beleuchten und zu analysieren, fasziniert den Wissenschaftler. «Kindheit ist eine grosse Projektionsfläche», sagt Giuriato, «wenn wir über sie sprechen, sprechen wir gleichzeitig auch über uns als Gesellschaft – das Kind ist eigentlich ein Medium der sozialen und kulturellen Selbstreflexion.» Welche Fähigkeiten brauchen wir, um ein gutes und erfolgreiches Leben zu führen? Welche Werte sind uns wichtig? Wie sollten wir die Schule einrichten? Und wie die Kinder erziehen? Das sind Fragen, die die Gesellschaft – denkt man an die allgegenwärtigen, kontroversen Diskussionen rund um Frühförderung und Schulreformen – heute noch beschäftigen. Sie widerspiegeln sich seit dem späten 18. Jahrhundert in immer neuen Facetten auch in der Literatur.

Giuriato

Eine Geschichte, die von kindlichem Glück erzählt, käme heute wohl ziemlich anachronistisch daher.

Davide Giuriato
Literaturwissenschaftler

Besonders dankbar aufgenommen wurden Rousseaus Ideen im 18. und 19. Jahrhundert von Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Romantik, etwa Novalis oder E.T.A. Hoffmann. Sie vergötterten das Kind. Für sie waren Kinder kleine Genies und der Inbegriff für spielerische Kreativität. Somit waren sie wohl auch ein Ideal für ihr eigenes schriftstellerisches Schaffen. Erziehung, nahmen die Romantiker mit Rousseau an, steht dieser natürlichen kreativen Begabung nur im Weg und verstellt sie. Nicht die Kinder sollten sich die Erwachsenen als Vorbild nehmen, sondern umgekehrt die Erwachsenen die Kinder. Dieses Denken führte in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Kindheitskult.

Es inspirierte auch alternative Erziehungsprojekte wie die Reformpädagogik, die aus der romantischen Idee des selbsttätigen Kindes entsteht. Waldschulen und Erlebnispädagogik von heute haben dort ihre Wurzeln. «Schaut man sich die Literaturgeschichte an, stellt man fest, dass viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller Sympathien für reformpädagogische Ideen hegen», sagt Davide Giuriato. Dies zeigt sich beispielsweise Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen berühmten Schulromanen wie Hermann Hesses «Unterm Rad» oder Robert Musils «Die Verwirrungen des Zöglings Törless». Sie thematisierten die damaligen Gymnasien als autoritäre, unheilvolle und geisttötende Disziplinierungsanstalten und kritisierten sie scharf.

Die Seele erkunden

Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehen auch zahlreiche autobiografische Texte, die sich mit der Kindheit beschäftigen. Und es werden Bildungsromane wie Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre» oder «Anton Reiser» von Karl Philipp Moritz geschrieben, die vom Aufwachsen ihrer Hauptfiguren erzählen und diese auf dem kurvenreichen Weg ins mal mehr, mal weniger glückende Erwachsenenleben begleiten.

Karl Philipp Moritz war nicht nur Schriftsteller, sondern beschäftigte sich auch psychologisch mit der Kindheit. Genauer gesagt betrieb er «Erfahrungsseelenkunde», wie er es nannte, und gab dazu eigens eine Publikation heraus. Das «Magazin für Erfahrungsseelenkunde» war quasi die erste psychologische Zeitschrift Deutschlands – dies zu einer Zeit, als es die Psychologie als Fach noch gar nicht gab. Für das «Magazin» sammelte und dokumentierte Moritz Lebensgeschichten, darunter auch viele Geschichten von Kindern. «Die Erfahrungsseelenkunde interessierte sich fast schon wissenschaftlich für die Entwicklungsphase der Kindheit», sagt Davide Giuriato, «sie ging von der Vorstellung aus, dass Schwierigkeiten im Erwachsenenleben – psychische Probleme, Kriminalität, Gewalttätigkeit – dort ihren Ursprung haben.» Dieser Gedanke war damals neu. Rund 100 Jahre später wurde er von der um 1900 entstehenden Psychologie und Psychoanalyse aufgenommen, weiter erforscht und auf ein modernes wissenschaftliches Fundament gestellt.

Kindheit und Kulturkritik

Irrungen und Wirrungen, Probleme mit den Eltern und in der Schule: Glücklich sind die wenigsten der Kindheiten, von denen die Literatur seit nunmehr 200 Jahren erzählt. Tragödien und Unglück scheinen literarisch einfach mehr herzugeben, hat man den Eindruck. «Kindheitsvorstellungen in der Literatur sind oft verknüpft mit einer dezidierten Kulturkritik, die das moderne Leben als defizitär ansieht», sagt Davide Giuriato. Auch in den Texten der Romantiker, die die Kindheit feierten, finde man das kindliche Glück kaum. Dafür aber ein Glücksversprechen – nämlich das Versprechen, den Weg in einen vermeintlich glücklichen Naturzustand mit Hilfe von Kindern wiederzufinden.

Von diesem Glücksversprechen ist in Romanen und Erzählungen, die im 20. Jahrhundert geschrieben werden, kaum noch etwas übriggeblieben. «Die bürgerliche Vorstellung, die die Kindheit als Schutz- und Schonraum sieht, erodiert zusehends», sagt Literaturwissenschaftler Giuriato, «dominierend ist dagegen der Blick auf beschädigte oder gar zerstörte Kindheiten.» Ganz deutlich zeigt sich dies nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. So etwa im «Roman eines Schicksallosen» des ungarischen Schriftstellers und Literaturnobelpreis-Trägers Imre Kertesz. Kertesz beschreibt die Deportation und den Lageralltag in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald aus der Sicht eines 15-jährigen Jungen.

Der Roman etablierte ein Erzählmuster, das in den 1980er- und 1990er-Jahren von vielen Autorinnen und Autoren übernommen wurde, so Giuriato. Und auch in zeitgenössischen Texten wie etwa dem Roman «GRM. Brainfuck» der deutsch-schweizerischen Autorin Sibylle Berg ist die Kindheit von Gewalt und Sexualität geprägt. «Eine Geschichte, die von einer idyllischen Kindheit und von kindlichem Glück erzählt, käme heute wohl ziemlich anachronistisch daher», sagt Davide Giuriato.

Subversive Eigenlogik

Zu finden ist die kindliche Idylle vielleicht am ehesten noch in der Kinderliteratur – etwa in Astrid Lindgrens Geschichten von Pippi Langstrumpf. «In den Abenteuern der Titelheldin wird die Kindheit mit ihrer subversiven Eigenlogik grandios gefeiert und es gibt sicher auch Momente grossen Glücks», sagt Giuriato. Allerdings seien auch Astrid Lindgrens Texte nicht frei von einer gewissen Melancholie. So ist Pippi beispielsweise ständig davon bedroht, ins Heim gesteckt zu werden.

Und dann gibt es noch die berühmte Episode mit den Krummeluse-Pillen. Die fantastischen Zaubererbsen sollen verhindern, dass Pippi und ihre beiden Freunde Annika und Thomas gross werden. «Es sind nicht nur die bösen Erwachsenen und ihre schlimmen Institutionen, die die Kindheit bedrohen», sagt Giuriato, «es ist auch der Lauf der Zeit.» Denn früher oder später hört man auf, Kind zu sein. Dann beginnt man von der Kindheit zu träumen und über sie zu schreiben.

Literatur: Davide Giuriato: Grenzenlose Bestimmbarkeit, Kindheiten in der Literatur der Moderne; Verlag Diaphanes, 2020