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Europas Zukunft

«Kolonialherr in Schwierigkeiten»

Europa ist für Indien ein wichtiger Handelspartner. Aber man glaubt dort nicht, dass die Zukunft im alten Kontinent liegt, sagt der Indologe Nicolas Martin. Besonders empfindlich reagiert das Land auf Kritik aus dem Westen.
Interview: Roger Nickl
Indisches Parlament in Neu-Dehli
«Indien verfolgt schon lange eine blockfreie Politik und wird sich auch in Zukunft weder mit Europa noch mit den USA vermählen», sagt Indologe Nicolas Martin. (Im Bild: Indisches Parlament in Neu-Delhi/Shutterstock)

Nicolas Martin, wofür steht Europa heute in Indien?

Nicolas Martin: Europa steht für gut entwickelte Volkswirtschaften. Es wird als wichtiger Handelspartner mit grosser Kaufkraft gesehen. Hier möchte man seine Produkte verkaufen, und man ist an europäischen Investitionen in Indien interessiert. Mein Eindruck ist aber auch, dass man in Indien nicht daran glaubt, dass die Zukunft in Europa liegt. Das gilt übrigens auch für andere asiatische Länder. Die Menschen dort haben den grossen Wunsch, dass die Dinge besser werden. In Europa entwickeln sie sich aus indischer Perspektive eher zum Schlechteren. Eine grosse Anziehungskraft haben dagegen die USA. Viele gut ausgebildete IT-Leute wandern dorthin aus. Indien hat mit 35 Millionen Menschen übrigens die grösste Diaspora weltweit.

Aus indischer Perspektive liegt die Zukunft nicht in Europa, sagen Sie. Weshalb entsteht dieser Eindruck?

Martin: Zentral dafür ist, wie Grossbritannien wahrgenommen wird. Man sieht, dass der ehemalige Kolonialherr heute in grossen Schwierigkeiten steckt. Natürlich werden die Probleme in Grossbritannien nicht einfach mit Europa gleichgesetzt. Aber aus indischer Perspektiven ist Europa schon der alte Kontinent.

Welche Rolle spielt die koloniale Vergangenheit in den Beziehungen zwischen Indien und Europa?

Martin: Ich denke, sie wird als Werkzeug genutzt, um jegliche europäische Kritik etwa zu Indiens Umgang mit Muslimen und anderen Minoritäten oder zur Kooperation Indiens mit Russland abzuwehren. Indien reagiert sehr empfindlich, wenn es sich von Europa belehrt fühlt. Man stellt sich auf den Standpunkt, dass der europäische Kolonialismus in der Vergangenheit weltweit Kriege angezettelt, Länder erobert und Menschen ausgebeutet und versklavt hat. Deshalb fehlt aus indischer Sicht Europa heute jegliche Legitimation, moralisch über andere zu urteilen. 

Eine neuere Studie des European Council on Foreign Relations zeigt, dass Indien – ganz im Gegensatz zu Europa – Russland als Verbündeten betrachtet und der Präsidentschaft von Donald Trump optimistisch gegenübersteht. Wie ist das zu interpretieren?

Martin: Indien verfolgt schon lange eine blockfreie Politik und wird sich auch in Zukunft weder mit Europa noch mit den USA vermählen. Schon als das Land 1947 von den Briten unabhängig wurde, sagte der damalige Ministerpräsident Nehru, wir sind nicht mit der Sowjetunion und wir sind nicht mit dem kapitalistischen Amerika. Wir sind auf einem dritten Weg. Das sieht man heute auch in Bezug auf Russland. Indien kauft dort Rohöl, raffiniert es und verkauft es an uns weiter. Auch in diesem Zusammenhang reagiert Indien empfindlich, wenn dieses Verhalten aus Europa kritisiert wird. Es heisst dann: «Lasst die Belehrungen doch einfach sein, ihr kauft unser raffiniertes Öl ja sowieso.»

Wie kommt das in Europa an?

Martin: Für Europa ist das natürlich eine knifflige Angelegenheit. Denn es gibt von europäischer Seite den starken Wunsch, einen Freund in Asien zu haben, und es besteht die Hoffnung, dass Indien dieser Freund sein könnte. Gleichzeitig ist dies auch sehr schwierig, weil es seitens Europas eben viel Kritik am hindu-nationalistischen Kurs von Präsident Narendra Modi gibt. Ich kann mir vorstellen, dass Politikerinnen und Politiker in Europa aus strategischen Gründen zunehmend auf Kritik verzichten werden.

Nicolas Martin, Indologe an der UZH

Aus indischer Sicht fehlt Europa jegliche Legitimation, moralisch über andere zu urteilen.

Nicolas Martin
Indologe

Wie sehen Sie das künftige Verhältnis Indiens zu Europa?

Martin: Ich denke, Indien ist auch künftig stark auf Europa und die USA angewiesen. Ein Grund dafür ist, dass das Land von feindlichen Nachbarn umgeben ist. Zum einen ist dies der historische Feind Pakistan, zu dem Indien eine der am stärksten militarisierten Grenzen weltweit unterhält. Pakistan blockiert damit aber auch Handelsrouten, etwa in den Iran. Das Verhältnis zu Bangladesch hat sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert. China ist nach wie vor ein wichtiger Handelspartner für Indien, aber auch hier sind die Beziehungen alles andere als entspannt. Man muss schon sehen: Indien hat grosse Ambitionen. Es hat 2022 ökonomisch gesehen Grossbritannien überholt und wird bald eine der drei grössten Volkswirtschaften der Welt sein. Dafür braucht es aber auch gute Handelspartner. Aus diesem Grund werden Europa und die USA wichtig bleiben.

Wo sehen Sie die Potenziale der europäischen Beziehungen zu Indien und umgekehrt?

Martin: Ich denke, die Beziehungen werden sich auf jeden Fall vertiefen, unabhängig davon, was passiert. Europa braucht zum Beispiel gut ausgebildete indische Ingenieur:innen und IT-Fachleute. Da wird der Austausch definitiv zunehmen. Seitens Indiens gibt es die Hoffnung, dass das Land künftig auch vom Outsourcing europäischer Firmen profitieren kann, wie dies in den 1990er-Jahren in China geschehen ist. Indien wird wirtschaftlich immer wichtiger werden und das Potenzial für eine erfolgreiche Kooperation ist grundsätzlich gross. Man muss aber auch wissen, dass Indien seine Wirtschaft nie vollständig öffnen wird. Zum Beispiel können europäische oder amerikanische Unternehmen, die in Indien investieren, niemals eine Aktienmehrheit haben. Da wird es also immer gewisse Grenzen geben. Ein anderes potenzielles Hindernis für die Zusammenarbeit ist wie schon erwähnt eine zu grosse Kritik an der indischen Innen- und Aussenpolitik.

Wo sehen Sie die Chancen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Europa und Indien?

Martin: Die wissenschaftliche Kooperation mit Indien ist wichtig und wird weiter zunehmen, vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften und der Medizin. Es gibt das Indian Institute of Technology, das die angesehenen Ingenieur:innen hervorbringt, die dann zur NASA oder zu Google & Co. gehen. Früher wurde das Abwandern dieser hochqualifizierten Arbeitskräfte in Indien negativ als Brain Drain, als Verlust, wahrgenommen. Diese Einstellung hat sich mittlerweile geändert: Heute versteht sich Indien als Brain Bank. Man ist zum Schluss gekommen, dass das Land vom internationalen Netzwerk, das durch die ausgewanderten Fachkräfte entsteht, letztlich profitieren wird, weil so auch wieder Aufträge zurückkommen.

Wie sieht es punkto Kooperationen in den Geistes- und Sozialwissenschaften aus?

Martin: Dort ist es ein bisschen komplizierter, weil die Dinge schnell politisch werden. Die Regierung übt Druck auf Forschungsarbeiten aus, die dem hinduistischen Nationalismus und der Machtausübung der BJP kritisch gegenüberstehen. Dies betrifft aber alle Forschenden. Es gibt Anzeichen dafür, dass indische Wissenschaftler:innen um ihre Karriereaussichten fürchten und ausländische Wissenschaftler:innen befürchten, dass ihnen die Einreise in das Land verweigert werden könnte, um dort zu forschen.