Digitaler Assistent für die Krebstherapie

Am Universitätsspital Zürich (USZ) geht es geschäftig zu. Gerade ist es 14 Uhr als Andreas Wicki, Professor für Onkologie an der Universität Zürich, schnellen Schrittes auf das Besprechungszimmer zusteuert. Heute ist Donnerstag und wie jede Woche trifft sich hier das Tumorboard. Über 20 Tumorboards gibt es am USZ – eines für jedes Organ. Am Universitäts-Kinderspital Zürich finden diese Treffen ebenfalls wöchentlich statt.
«Tumorboards sind heute ein unverzichtbares Element der modernen Onkologie», erklärt Wicki. Dahinter steckt ein Treffen ausgesuchter Fachärztinnen und Fachärzte aus der Chirurgie, Radiologie, Onkologie, Pathologie und auch Pflegefachpersonen. Durch ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit entwickeln sie massgeschneiderte Behandlungsansätze, die gezielt auf die Bedürfnisse ihrer Krebspatientinnen und -patienten abgestimmt sind.
KI im klinischen Alltag
In Zukunft sollen die Diskussionsgrundlagen für diese Treffen – Patientendaten, medizinische Behandlungsleitlinien und Bildmaterial – vom AI-Tumorboard vorbereitet und zusammengestellt werden. «Das AI-Tumorboard etabliert die künstliche Intelligenz in der klinischen Praxis», sagt Professor Michael Krauthammer, Leiter des Departements für Quantitative Biomedizin an der Universität Zürich.
«AI» steht für «Artificial Intelligence», zu Deutsch «künstliche Intelligenz» (KI). Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt «AI-Tumorboard» ist ein Inkubator-Projekt des Forschungszentrums The LOOP Zurich und wird von der Promedica Stiftung unterstützt. Die Professoren Andreas Wicki und Michael Krauthammer sowie Jean-Pierre Bourquin vom Universitäts-Kinderspital Zürich arbeiten zusammen mit ihren Teams seit Herbst 2024 an der Umsetzung.
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Das AI-Tumorboard durchforstet Behandlungsleitlinien, genetische Profile, molekulare Daten, medizinische Bilder und historische Behandlungsergebnisse mit bisher unerreichter Geschwindigkeit.
Wenn Ärztinnen demnächst über die optimale Behandlung eines Krebspatienten beraten, verfügen sie mit dem AI-Tumorboard über einen mächtigen digitalen Verbündeten. «Er durchforstet Behandlungsleitlinien, genetische Profile, molekulare Daten, medizinische Bilder und historische Behandlungsergebnisse mit bisher unerreichter Geschwindigkeit», erklärt Wicki. Besonders wertvoll sei dabei die Fähigkeit des Systems, die spezifische, biologische Ausprägung der Krebszellen jeder einzelnen Patientin zu berücksichtigen.
Das AI-Tumorboard könnte auch verborgene Muster in klinischen Studien und Patientendaten entdecken. Es erkennt, welche Therapien bei bestimmten genetischen Profilen am erfolgversprechendsten sind. «Dies führt nicht nur zu schnelleren und genaueren Diagnosen, sondern auch zu individuelleren Therapieempfehlungen», betont Krauthammer.
Für Patienten bedeutet diese Entwicklung Hoffnung: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie genau die Behandlung erhalten, die für ihren spezifischen Tumor optimal wirkt – ein entscheidender Schritt in Richtung wirklich personalisierter Medizin, erklärt Krauthammer.
Grossen Datenschatz heben
Das neue AI-Tumorboard ist auf eine Vielzahl von Daten angewiesen – je mehr, desto besser. «Die grösste Herausforderung ist die Vernetzung unterschiedlicher Datenbanken aus Kliniken und wissenschaftlichen Studien», erklärt Krauthammer im Gespräch. Viele dieser Systeme kommunizieren nicht miteinander oder verfügen schlicht über keine geeigneten Schnittstellen.
Die Lösung, an der das Team hinter dem AI-Tumorboard arbeitet, ist ebenso elegant wie effektiv: «Wir setzen auf eine föderale Datenstruktur», erklärt Fabio Steffen, Postdoc am Universitäts-Kinderspital Zürich und Mitglied des Entwicklungsteams. Das bedeutet konkret: Die wertvollen medizinischen Informationen bleiben, wo sie sind – auf verschiedenen, unabhängigen Systemen. Trotzdem können sie miteinander verknüpft und genutzt werden, ohne den Datenschutz zu gefährden. Diese dezentrale Architektur ermöglicht es, die Datensilos aufzubrechen, ohne sie zu verlagern – ein entscheidender Vorteil in der sensiblen Welt der Patientendaten.
Mehr Zeit für die Patientenbetreuung
Was heute noch mühsame Recherchearbeit der Ärzte erfordert, soll in einigen Jahren das AI-Tumorboard erledigen. «So wird den Medizinforschenden viel Arbeit abgenommen, wodurch wertvolle Ressourcen gespart und mehr Zeit für die Patientenbetreuung frei wird», betont Wicki mit Blick auf die Zukunft.
Die Entscheidung über die Therapie werden weiterhin die menschlichen Expertinnen und Experten treffen – doch sie werden dies nach erfolgreicher Evaluationsphase auf Basis einer deutlich umfassenderen und systematischer aufbereiteten Informationsgrundlage tun können. Für Krebsbetroffene könnte dieser digitale Verbündete im Hintergrund in den kommenden Jahren zum entscheidenden Faktor werden.
Transparenz als Schlüsselfaktor
Doch eine Frage ist noch offen: Wie zuverlässig sind die Informationen, die das AI-Tumorboard liefern wird? Obwohl es sich noch in der Entwicklungsphase befindet, ist die Vision klar: Sobald das System einsatzbereit ist, soll es nicht nur relevante medizinische Daten zusammentragen, sondern auch transparent erläutern, wie es zu seinen Schlussfolgerungen gelangt.
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In absehbarer Zeit wird keine KI über Leben und Tod entscheiden. Der Mensch wird das letzte Wort haben.
«Ohne nachvollziehbare Entscheidungsprozesse ist selbst die leistungsfähigste KI wenig hilfreich. Die Ärztinnen und Ärzte müssen den Ergebnissen vertrauen können», erklärt Bourquin. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei, dass die Entscheidung letztlich immer vom Menschen getroffen wird – ein Punkt, den Bourquin als essenziell für die Patientensicherheit hervorhebt. «In absehbarer Zeit wird keine KI über Leben und Tod entscheiden. Der Mensch wird das letzte Wort haben.» Dennoch räumt er ein, dass KI in der Medizin zunehmend unverzichtbar wird. Ihre Fähigkeit, riesige Datenmengen zu analysieren, eröffnet neue Perspektiven.
Wicki betont: «Kein Arzt kann die gewaltigen Datenmengen, die in der modernen Medizin verfügbar sind, in dieser Tiefe erfassen und vergleichen. Die Zeiten, in denen Ärzte mit Leuchtstiften auf Papier Dokumente durchgingen, sind vorbei», sagt Wicki. Die grösste Herausforderung für die Entwickler des AI-Tumorboards besteht nun darin, ein System zu schaffen, das nicht nur exzellente Analysen liefert, sondern diese auch verständlich kommuniziert. Nur so kann die KI zu einem vertrauenswürdigen Partner werden und ihren Platz im Klinikalltag finden.