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Wie kommt es, dass jemand zum Täter wird? Wie lebt es sich in einem Land, wo Korruption an der Tagesordnung ist und die Menschen oft gar keine Möglichkeit haben, nicht bestechlich zu sein? Das sind Fragen, die Juristen umgetrieben haben, bevor sie als Schriftsteller aktiv geworden sind. Felix Uhlmann, Professor für Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, hat mit dem Buch «Der letzte Stand des Irrtums» letzten Frühling einen Erstling vorgelegt. Er hat eine Erzählung geschrieben, wo es um die unausweichlich gewordene Logik von Gewalt geht. Von Oliver Diggelmann, UZH-Professor für Völkerrecht, ist im März 2023 mit «Die Lichter von Budapest» bereits der zweite Roman erschienen. Er handelt von korrupten Verstrickungen in Ungarn.
Diggelmann und Uhlmann sind hauptberuflich Rechtswissenschaftler. Sie sind auch in den Medien gefragte Stimmen. Oliver Diggelmann untersucht vor allem völkerrechtliche Fragen. So beschäftigt er sich beispielsweise mit dem Ukrainekrieg, dem Zugriff auf Gelder der russischen Zentralbank, internationalen Straftribunalen und Neutralitätsfragen. Sein Kollege Felix Uhlmann ist spezialisiert auf staats- und verwaltungsrechtliche Angelegenheiten. Er befasst sich beispielsweise mit den Grenzen des Rechtsstaates während der Corona-Pandemie und behandelt Fragen zu Raubkunst – er hat sich etwa in der Beurteilung der Sammlung Curt Glaser des Kunstmuseums Basel einen Namen gemacht und leitet den runden Tisch zur Aufarbeitung der Herkunft der Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich.
Doch wo bleibt angesichts all dieser Gutachten, juristischer Berichte und Expertisen Zeit und Musse zum Bücherschreiben? Die Professoren zucken mit den Schultern. Das fiktionale Schreiben geschieht nebenher, an Wochenenden, auf Reisen. In kleinen Auszeiten. Diggelmann und Uhlmann stehen mit ihrer Leidenschaft für die Literatur nicht allein. Tatsächlich gibt es nicht wenige Juristinnen und Juristen, die erfolgreich schriftstellerisch tätig sind. Man denke etwa an die Erfolgsautorin und Richterin Juli Zeh, an den Bestsellerautor und Rechtsgelehrten Bernhard Schlink oder den Schriftsteller und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Ganz als ob sie dem Korsett der juristischen Sprache, die Korrektheit und Eindeutigkeit verlangt, entkommen wollten. So ist im Schatten von Orten, an denen Gesetze und Verträge mit spitzer Feder geschrieben und ausgelegt werden, wo Belege und Beweise verlangt werden, eine schreibende Zunft entstanden, die der Literatur frönt. Und das nicht erst seit heute.
«Die Wochentage bin ich Jurist und höchstens etwas Musiker, sonntags am Tage wird gezeichnet, und abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht.» Das schrieb E.T.A. Hoffmann vor über 200 Jahren, der neben seinem Brotberuf als Richter zahlreiche literarische – auch musikalische – Werke schuf. Andere haderten mit der Juristerei. Heinrich Heine etwa ärgerte sich masslos über das Römische Recht: «Diese Räuber (gemeint sind die Römer) wollten ihren Raub sicherstellen, und was sie mit dem Schwert erbeuteten, suchten sie durch Gesetze zu schützen (…).»
Der promovierte Jurist hielt Advokaten für «Bratenwender der Gesetze». Von Franz Kafka, der bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen als vorbildlicher Rechtsreferendar Rekurse behandelte, kannten nur wenige seine Haltung zu seiner Arbeit: «Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist die Literatur, widerspricht.» Für einige war das Dichten auch eine Ergänzung zur Arbeit als Rechtsgelehrte, wo rechtswissenschaftliche Perspektiven zum Ausdruck kommen konnten. Advokat Goethe, der auch Geheimrat und Staatsminister am Weimarer Hof war, befasste sich beispielsweise in der «Gretchentragödie» mit der Frage, ob auf Kindstötung die Todesstrafe stehen soll. Auch die Bücher von Felix Uhlmann und Felix Diggelmann erzählen Geschichten mit unterschiedlichen juristischen Dimensionen, geht es darin doch auch um Gewalt und Verbrechen.
Wahrscheinlich kann ich der Widersprüchlichkeit von Menschen oder eines Landes mit belletristischem Schreiben besser gerecht werden als mit völker- und staatsrechtlichen Analysen.
Werden in der Literatur vielleicht Fragen von Recht und Gerechtigkeit mit anderen Mitteln weitergeschrieben? Für Oliver Diggelmann ist der Roman die angemessenere Form, einer komplizierten Wirklichkeit näherzukommen. «Wahrscheinlich kann ich der Widersprüchlichkeit von Menschen oder auch eines Landes mit belletristischem Schreiben gerechter werden als mit völker- und staatsrechtlichen Analysen», sagt er.
In seinem Buch geht es neben Liebeswirren auch um Günstlingswirtschaft, darum, wie EU-Gelder im postsozialistischen Ungarn fast spurlos versickern. Aus juristischer Perspektive ist der Fall klar: Das Land hält sich nicht an die in der EU geltenden Standards der Rechtsstaatlichkeit. Doch es gibt Gründe dafür, eine Geschichte dahinter, die abzuschütteln nicht so leicht ist. Und die viele auch gar nicht abschütteln wollen.
«Wir Westeuropäer sind uns funktionierende Institutionen so sehr gewohnt, dass wir oft kein Gefühl dafür haben, wie voraussetzungsreich intakte Rechtsstaatlichkeit eigentlich ist», sagt der Wissenschaftler. Diggelmann übernahm von 2004 bis 2010 eine Professur für Völker- und Staatsrecht an der Universität Budapest. Diese Zeit sei prägend gewesen. Dass ständig getrickst wird, nicht selten auch geistreich, sei ihm sofort ins Auge gesprungen. «Aber die Geschichten der Menschen dahinter», sagt Diggelmann, «lassen sich mit den nüchternen und etablierten Begriffen der Wissenschaft nur bedingt fassen.» In Diggelmanns Roman wird Anatol, einem Englischlehrer, der die kriminellen Machenschaften der Anwaltskanzlei, für die seine Freundin etwas unbedarft arbeitet, aufzudecken versucht, die Überheblichkeit der Westeuropäer vorgehalten. «Es ist nicht an euch, dieses Land zu ändern», sagt ein zwielichtiger Freund zu ihm.
Auch gegen das eigene Unbehagen, ein «Geschichtstourist» zu sein, wollte Diggelmann bis zu einem gewissen Grad anschreiben. Das Romanschreiben sei eine Art, dem Rätselhaften besser auf die Spur zu kommen. Es bringe im günstigen Fall eine eigene Wahrheit zu Tage, für die sich die Jurisprudenz nicht interessiert. «Zu dieser Wahrheit gehört natürlich, dass man sich nur auf Menschen verlässt, die man gut kennt, wenn Institutionen nicht funktionieren», sagt der Rechtsprofessor. Die literarische Sprache schien ihm der schillernden Welt des postsozialistischen Budapest besser gerecht zu werden.
Felix Uhlmann sieht bei sich den Bezug zur Rechtswissenschaft in der Sprache, dem spezifischen Blick. «Vielleicht ist es die Reduktion auf das Wesentliche», sagt er. In der Tat ist seine Erzählung sehr konzentriert. Der namenlose Protagonist, ein Ingenieur, ist wortkarg und sagt keinen Satz zu viel. Er baut Getriebe in Autos ein. Von derselben Automatik, die die Hauptfigur in höchster Präzision zusammenbaut, scheint auch die Erzählung getrieben zu sein, die immer mehr in eine Spirale der Gewalt mündet. Für Reflexion ist kein Raum, es ist eine sinnlose, stumpfe Gewaltlogik, der die Ereignisse folgen.
Die Logik unsinniger Gewalt, Repression und Ausgrenzung – ich denke, diese Mechanismen sind übergreifend.
Für Uhlmann ist die Freiheit in der Sprache und in der Fiktion, diese Radikalität, die hier möglich ist, das, was sich von seiner Berufspraxis als Rechtsgelehrter absetzt. Er muss anders als in Gutachten und Berichten nichts belegen, differenzieren und beweisen. Er kann die Geschichte ins Offene laufen lassen. Er muss nichts entscheiden. Im Gegenteil ist es genau dieses Unentschiedene, die Mehrdeutigkeit, die die Leserinnen und Leser zum Denken bringt. Offen bleibt in Uhlmanns Erzählung, ob und inwiefern der Protagonist Opfer und Täter ist. Die entstandene Ambivalenz gilt es auszuhalten.
Anfangs sympathisiert man mit der Figur, die, offenbar einer Minderheit angehörend, grundlos verhaftet und in einem Lager interniert wird, wo Repression und Gewalt immer näher rücken und der Protagonist selbst auch zum Täter wird. Die Aussichtslosigkeit kommt auch in der reduzierten Sprache zum Ausdruck. Kurze Sätze, kurze Kapitel, die wenig Raum für Hoffnung lassen. Einzig die Jugendliebe scheint ein Lichtblick zu sein. Doch selbst hier scheitert die mögliche Rettung an der Sprachunfähigkeit des Protagonisten.
Wie aber kommen schreibende Juristinnen und Juristen zu ihren Inhalten? Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat den Stoff für seine Erzählungen, etwa die Bücher «Verbrechen» und «Schuld», oft direkt in seinem Kanzleialltag gefunden. Der Anwalt hat Vergewaltiger, Mörder und andere Verbrecher vor Gericht verteidigt. Seine Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten. Anders ist der Zugang des Autors Bernhard Schlink. Auf die Frage, warum er als Jurist auch literarisch schreibe, hat er einmal geantwortet: «Vielleicht, weil die Wahrheit des Rechts ebenso in Worten und Sätzen liegt wie die Wahrheit von Geschichten und weil die Dinge hier wie dort zu ihrem Ende gebracht werden müssen.» In seinen Büchern reflektiert Schlink immer wieder Fragen von Schuld, Verstrickung und Verantwortung in der NS-Zeit. So geht es in seinem 1995 erschienenen Bestseller «Der Vorleser» etwa um die Liebesbeziehung eines 15-jährigen Jungen mit einer älteren Frau, einer Strassenbahnschaffnerin und Kriegsverbrecherin.
Und was bringt die Rechtswissenschaftler zum Schreiben? Für Felix Uhlmann waren es die grossen, elementaren Fragen, die ihn immer wieder beschäftigt haben: Wie ist der Mensch und wozu ist er fähig? Er wollte seine Geschichte bewusst weder zeitlich noch räumlich verorten – auch wenn Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg, zum Balkan-Konflikt oder zum Völkermord in Ruanda durchaus möglich sind, «Ich denke, diese Mechanismen sind übergreifend, die Logik unsinniger Gewalt, Repression und Ausgrenzung», sagt Uhlmann im Gespräch, das noch vor der jüngsten Eskalation der Gewalt im Nahen Osten stattgefunden hat.
Sein Ausgangsinteresse war die Auseinandersetzung mit dieser sinnlosen Gewaltlogik. Uhlmanns Erzählung lotet Denkbares radikal aus und führt so in menschliche Abgründe. Für Oliver Diggelmann ist beim fiktiven Schreiben der persönliche Bezug zu einem Stoff wichtig. Es seien Zeitstimmungen, die er erlebt hat, und die politischen Themen einer Zeit, die ihn interessieren. Das Einmalige jeder Zeit und der Geschichten ihrer Menschen, auch und gerade, wenn diese Geschichten am Verschwinden sind. Die Nullerjahre in Ungarn, die postsozialistische Bohème-Welt mit ihren eigenen Riten und Ästhetiken. Genauso die Protestbewegungen von 1968 sowie der 1980er-Jahre, über die er in seinem Erstling «Maiwald» schrieb und die seine Generation stark geprägt haben. «Das ist eine Zeit, die für meine heutigen Studentinnen und Studenten nur noch beschränkt greifbar ist», sagt der Rechtsprofessor. An Autoritäten könne man sich heute, wo sich alle als Freunde geben, nur noch bedingt abarbeiten. Warum brauchte es Mut aufzubegehren, was waren die Risiken, was ist aus den Hoffnungen geworden? «Durch belletristische Texte bleiben die Menschen einer Zeit lebendig», sagt Diggelmann.
Für beide Autoren bietet das literarische Schreiben eine Möglichkeit, Erlebnisse und Wahrnehmungen jenseits der Wissenschaft zu bearbeiten. Das Wesen wissenschaftlichen Schreibens ist es, Dinge auf den Punkt zu bringen. Ereignisse werden mit möglichst klaren Konzepten und Begriffen fassbar gemacht. Dem gegenüber ermöglicht das literarische Schreiben eine Öffnung des Horizonts, indem Dinge in der Schwebe bleiben. Beide Bücher enden mit einem offenen Schluss: Wird sich das Liebespaar finden, was wird Anatol mit seinem Wissen unternehmen, wird die Anwältin belangt, wird der namenlose Protagonist eine Zukunft an seinem Zufluchtsort haben? Was ist mit der zurückgebliebenen Geliebten? Die Fragen bleiben unentschieden, wie im richtigen Leben. Und die Geschichten spinnen sich in den Köpfen der Leserinnen und Leser weiter.