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Welt-Sepsis-Tag

«Wir müssen die Forschung zur Sepsis stärken und besser koordinieren»

Sepsis ist eine lebensbedrohliche Erkrankung und betrifft vor allem auch Kinder. Wie Diagnose und Therapie verbessert werden können, erklärt Luregn Schlapbach, Professor für Pädiatrische Intensivmedizin an der Universität Zürich und Chefarzt Intensivmedizin am Universitäts-Kinderspital.
Stefan Stöcklin
Von einer Sepsis sind mehrheitlich Kinder betroffen, ihre Behandlung und Pflege sind aufwendig. (Bild: Kispi, zVg)

Herr Schlapbach: Die medizinische Fachwelt und Betroffene erinnern mit dem heutigen Welt-Sepsis-Tag an eine Erkrankung, die selten in den Schlagzeilen ist. Wieso ist das Thema Sepsis wichtig? Und wie viele Menschen sind betroffen?

Luregn Schlapbach: Weltweit sind rund 50 Millionen Menschen betroffen, die Hälfte davon sind Kinder. Auch wenn Entwicklungsländer stärker tangiert sind, ist die Sepsis auch in hochentwickelten Industrieländern wie den USA oder in Ländern Westeuropas ein gravierendes Problem. Allein in der Schweiz erleiden rund 20'000 Menschen pro Jahr eine Sepsis, und wir verzeichnen rund 3500 Todesfälle jährlich. Im Prinzip sind alle Altersgruppen betroffen, wobei das Risiko einer Erkrankung in den ersten Lebensjahren am höchsten ist.

Was ist eine Sepsis?

Luregn Schlapbach: Bei einer Sepsis reagiert der Körper derart stark auf eine Infektion, dass einzelne Organe ihre Funktion nicht mehr wahrnehmen können, das heisst es kommt zu einem lebensbedrohlichen Organversagen aufgrund von Fehlregulationen des Abwehrsystems. In der Mehrheit der Fälle sind es bakterielle Infektionen, die zu einer Sepsis führen, sie kann aber auch durch Viren oder eine Kombination von Viren und Bakterien ausgelöst werden. Auch im Rahmen der Covid-19-Pandemie sind viele Patient:innen an Sepsis verstorben. So wie bei der Influenza-Pandemie von 1918, viele Opfer der spanischen Grippe waren eigentlich Sepsis-Fälle.

Eine Sepsis wird auch als Blutvergiftung bezeichnet, wieso?

Luregn Schlapbach: Im Volksmund ist dieser Begriff häufig. Der Name Sepsis stammt aus dem Algriechischen Wort für Fäulnis. Sepsisfälle können entstehen, wenn aus einer Verletzung eine lokale Infektion entsteht und Bakterien in die Blutbahn eindringen, die den Körper «vergiften». Die meisten Sepsisfälle haben aber andere Ursachen.

Sind Kleinkinder überproportional betroffen, weil ihr Immunsystem noch nicht ausgereift ist?

Luregn Schlapbach: Ja, in den ersten Lebensjahren haben Kinder ein höheres Risiko für eine Sepsis als gesunde Erwachsene, weil ihr Abwehrsystem noch schwächer ist, das heisst die Abwehrzellen und Eiweisse haben mehr Mühe, gewisse Keime zu erkennen und effizient abzuwehren. Das Organversagen bei der Sepsis ist Folge eines komplexen Wechselspiels zwischen dem Keim und dem Immunsystem, der Gerinnung und der Blutgefässe. Die erstbetroffenen Organe sind häufig die des Kreislaufsystems. Das kann die Herzfunktion beeinträchtigen und die Durchblutung gefährden.

Kinder mit septischem Schock zeigen dann eine fahle Hautfarbe, die Haut erscheint marmoriert und haufig kühl, später kommt es zum Abfall des Blutdrucks. Häufig sind auch die Lunge und die Atmung betroffen. Eltern berichten, dass Ihr Kind  zunehmend stossend atmet. Als drittes Organ kann das Gehirn tangiert sein, mit der Folge von Wahrnehmungsstörungen und Verhaltensänderungen, Betroffene sind dann zum Beispiel sehr schläfrig oder zum Teil auch verwirrt.

Was kann man dagegen tun?

Luregn Schlapbach: Wird eine bakterielle Sepsis vermutet, sollte man möglichst früh im Krankheitsgeschehen Antibiotika verabreichen. Die Zuweisung an eine Intensivstation ist wichtig, um frühzeitig das Organversagen zu behandeln. Hier kommen beispielsweise Kreislaufmedikamente, Beatmung, aber auch Nierenersatzverfahren und in den schwersten Fällen auch Herzlungenmaschinen auf der Intensivstation zum Einsatz. Um das Immunsystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen, dafür fehlen uns hingegen noch zielgerichtete Wirkstoffe. Das heisst es gibt nur allgemein wirkende Mittel wie Steroide, die das Abwehrsystem dämpfen. Die funktionieren bei manchen Patient:innen gut, bei anderen weniger. Hier braucht es dringend mehr Forschung, damit wir den Betroffenen in Zukunft möglichst personalisierte Therapien anbieten können. Das würde bedeuten, dass wir aufgrund der individuellen Risikoprofile der Betroffenen angepasste Wirkstoffe zur Verfügung haben. Die klinische Forschung bewegt sich in diese Richtung.

schlapbach

Die klinische Erkennung einer Sepsis lässt sich sicher auch hierzulande noch verbessern.

Luregn Schlapbach
Prof. für Pädiatrische Intensivmedizin

Ist die Diagnose einer Sepsis schwierig?

Luregn Schlapbach: Die Erkennung einer Sepsis im Anfangsstadium ist eine grosse Herausforderung. Denn sie unterscheidet sich zu Beginn kaum von einer normalen, fiebrigen Infektion, was Hausärzt:innen oder Notfallstationen immer wieder vor grosse Schwierigkeiten bringt, wenn sie entscheiden müssen, ob es Antibiotika braucht oder nicht. Es gilt, den Wechsel von einer einfachen Infektion zu einer Infektion mit Anzeichen verschlechterter Organfunktion zu erkennen. Dann ist rasches Handeln nötig. Die Diagnose ist auch deshalb herausfordernd, da wir bisher keinen Bluttest haben, der ausreichend präzis ist. Die klinische Erkennung einer Sepsis lässt sich sicher auch hierzulande noch verbessern.

Das heisst, es gibt Fehldiagnosen?

Luregn Schlapbach: Ich würde nicht von Fehldiagnosen sprechen, aber wir sehen immer wieder Fälle, bei denen man rascher zur richtigen Diagnose einer Sepsis hätte kommen können. Aber wie gesagt, die Diagnose ist je nach Fall schwierig und braucht auch viel Erfahrung. In Spitalern im Ausland werden zunehmend sogenannte Early Warning Scores eingesetzt, um den Zustand von Patientinnen und Patienten, der sich verschlechtert, besser zu erkennen. In der Schweiz hat sich dies noch nicht durchgesetzt, weder bei Kindern noch bei Erwachsenen.

Sie haben Anfang Jahr in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen standardisierte Vorgaben zur Diagnose einer Sepsis veröffentlicht. Warum und was ist der Vorteil dieser Kriterien?

Luregn Schlapbach: Bisher wurde Sepsis bei Kindern unterschiedlich definiert, was dazu führte, dass nicht immer vom gleichen Krankheitsbild gesprochen wurde. Wir haben in den letzten Jahren deshalb Daten von über 3.5 Millionen Kindern aus der ganzen Welt analysiert, um daraus eindeutige Kriterien für eine Sepsis-Erkrankung abzuleiten. Dadurch kann die Forschung auf diesen evidenzbasierten Kriterien aufbauend zielgerichtet neue Wirkstoffen entwickeln. Ebenso verbessern diese standardisierten Kriterien die Früherkennung und damit die  Heilungschancen.

Es braucht also von Seiten der Forschung an Hochschulen und der Industrie dringend mehr Forschung im Bereich der Sepsis?

Luregn Schlapbach: Wenn man die grosse Zahl der Fälle und die Langzeitfolgen dieser Krankheit sieht, dann ist es wirklich wichtig, die Forschung zu stärken und besser zu koordinieren. Wir haben im Verlauf der Covid-19-Pandemie gesehen, wieviel es bringt, wenn Forschung gebündelt und gut koordiniert wird – nur dank dieser Fokussierung konnten so rasch Fortschritte erzielt werden. Dasselbe wünschte ich mir auch im Bereich der Sepsis, sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Behandlung. Man muss sich vor Augen führen, dass die meisten Kinder mit einer Sepsis unter fünf Jahre alt sind, das heisst sie haben noch 80 Lebensjahre vor sich, wenn sie die Krankheit überleben. Ein Drittel dieser Betroffenen leidet unter Langzeitfolgen – wenn man diese besser behandeln könnte, wäre die Wirkung für die Kinder, ihre Familien, und unsere Gesellschaft riesig.

Sie haben eben eine vierteilige Serie zum Thema Sepsis im renommierten «The Lancet» publizieren können. Was zeichnet die UZH und das Kinderspital auf diesem Gebiet aus?

Luregn Schlapbach: Die Fachzeitschrift wollte eine umfassende und aktuelle Darstellung zu allen wesentlichen Aspekten und Herausforderungen der Krankheit. Aufgrund der Arbeiten von unserer Forschungsgruppe am Kispi auf dem Gebiet wurde ich mit der Leitung einer internationalen Arbeitsgruppe beauftragt, die diese Artikelserie verfasst hat. Wir haben versucht, nicht nur den heutigen Stand des Wissens in Bezuf auf Epidemiologie, Ursachen, Erkennung und Behandlung zusammenzufassen, sondern auch aufzuzeigen, welche Hindernisse es in Klinik und Forschung erschweren, Fortschritte bei der Sepsis zu machen. Darauf aufbauend haben wir Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung, Forschung und verbesserten Nutzung der Digitalisierung verfasst, die hoffentlich dazu beitragen, das Feld voran zu bringen und Leben zu retten.

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