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Kinder- und Jugendpsychiatrie

Jugendliche in der Multikrise

Das Smartphone ist Ursache für viele psychische Störungen von Jugendlichen. Darum sieht Susanne Walitza «pathologischen Medienkonsum» als Krankheit. Wichtig ist der Kinder- und Jugendpsychiaterin aber auch der Blick auf die erfreulichen Seiten des Lebens.
Andres Eberhard
Susanne Walitza
Damit Jugendliche den Dauerkrisen-Modus besser meistern können, plädiert Susanne Walitza dafür, auf ihre Stärken zu fokussieren und auf die Dinge, die gut laufen im Leben. (Bilder: Marc Latzel)

Depressionen, Angstzustände, Essstörungen: Was in dieser altehrwürdigen Seefelder Villa besprochen wird, ist ernst und schwer. Zumal es Kinder und Jugendliche sind, die derart belastet die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich aufsuchen. Doch in und um dieses Haus weht ein Charme, der unbekümmert und spielerisch ist – in etwa so, wie man sich die Kindheit eigentlich gerne vorstellen würde. Im Garten gackern Hühner, Hochbeete zeugen von gärtnerischen Aktivitäten, und auch drinnen bemüht sich Susanne Walitza um eine freundliche Atmosphäre für ihre Patient:innen. Wer in das Büro der Direktorin tritt, richtet seinen Blick unweigerlich auf das uralte Schaukelpferd, das mitten im Raum steht – ein Erbstück ihres Grossvaters, wie sich herausstellt, gebaut im Jahr 1915. «Noch heute schaukeln kleine Kinder gerne darauf», sagt Walitza und lacht.

So kann ein Gespräch mit Susanne Walitza leicht einen unerwarteten Verlauf nehmen und statt zu den Problemen dieser Welt zum scheinbar Nebensächlichen und Schöngeistigen abschweifen. Zum Beispiel zu den drei Bildern an der Wand, zu denen Walitza eine Geschichte zu erzählen hat. Die Gemälde des Zürcher Malers Bruno Bischofberger hätte ihr die kantonale Gesundheitsdirektion überlassen, sagt sie. Dort war Walitza eine Zeit lang häufig für Besprechungen zu Gast, bestaunte die Bilder im Sitzungszimmer, wo sie auf ihre Gesprächspartner wartete. «Als das Amt umzog, bekam ich einen Anruf und kurz darauf brachten Umzugsleute dicke Kartons vorbei.» Die impressionistisch gemalten Bilder zeigen nachdenkliche, in Gedanken und in ein Buch versunkene Jugendliche. Walitza fand, das passe nicht schlecht.

Wochen mit sechzig Arbeitsstunden sind für die 55-jährige Klinikdirektorin keine Seltenheit. Früher betrieb sie während zwanzig Jahren Grundlagenforschung, war an mehr als 500 Publikationen beteiligt. In den letzten Jahren wandte sich Walitza mehr und mehr der angewandten klinischen Forschung zu. In ihrem aktuellen Projekt forscht sie zu den Folgen des sogenannten «pathologischen Medienkonsums». Dabei hat sie viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die stundenlang im Internet surfen oder sich in den sozialen Medien verlieren. Eine Handyzeit von acht bis zehn Stunden pro Tag an den Wochenenden ist bei ihren jugendlichen Patientinnen und Patienten keine Seltenheit.

Smartphones und Internet

Die Smartphones und das Internet, sie sind ein bei Psycholog:innen und Psychiater:innen bekanntes Thema. In die Praxen gelangen die Kinder und Jugendlichen aber in der Regel wegen der psychischen und sozialen Folgestörungen. So kann Gamen beispielsweise zu Konzentrationsschwächen in der Schule führen: Wer nächtelang durchspielt, ist tagsüber müde und abgelenkt. Auch exzessives Online-Shopping oder Konsum von Pornografie sind ein typisches problematisches Online-Verhalten. Soziale Medien und das stetige Vergleichen mit Altersgenossinnen wiederum können zu einem steigenden Leistungsdruck beitragen – in der Schule, im Sozialen, beim Aussehen. Vor allem Mädchen sind davon betroffen. «In den letzten Jahren beobachten wir mehr Depressionen oder Essstörungen wie Bulimie oder Übergewicht», sagt Walitza.

Trotz dieser für Fachleute eindeutigen Zusammenhänge gibt es aus medizinischer Sicht keine Diagnose für solch problematische Online-Nutzung. Einzig das pathologische Videospielen hat im ICD-11, der offiziellen Klassifikation von Krankheiten, einen eigenen Eintrag: die «Computer-Spielsucht». «Es wäre wichtig, wenn auch der pathologische Medienkonsum offiziell als medizinische Diagnose anerkannt würde», sagt Walitza.

Susanne Walitza

Wollen wir den Jugendlichen die Smartphones wegnehmen, dann müssen wir ihnen etwas anderes anbieten.

Susanne Walitza
Kinder- und Jugendpsychiaterin

Dazu muss das Phänomen erst besser erforscht werden. Eben ist eine grosse, vom EU-Forschungsprogramm Horizon geförderte internationale Studie angelaufen, welche die problematischen Auswirkungen der Online-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen untersucht. 22 Hochschulen aus neun Ländern machen mit. Walitza und ihr Team nehmen dabei eine führende Rolle ein. In einem ersten Schritt soll während eines halben Jahres der Medienkonsum von 12- bis 16-Jährigen untersucht werden – wie viel Zeit sie am Smartphone verbringen und was sie tun: ob sie vor allem Social Media nutzen, gamen oder anderes. Dafür wird eine eigene App entwickelt, die eine anonyme Datenerfassung ermöglicht. In einer zweiten Phase des Projekts sollen mögliche Interventionen entwickelt und ebenfalls direkt über die App getestet werden.

Krisen in Echtzeit

Während der Corona-Zeit ist Walitza in ihrer Funktion als Klinikdirektorin zu einer beliebten Gesprächspartnerin für die Medien geworden. Dass insbesondere Kinderpsychiatrien überfüllt sind und es lange Wartezeiten gibt, hat inzwischen die Runde gemacht. Walitza ärgert sich etwas darüber, dass die Darstellung nicht immer präzise ist. Die Situation mit den Wartezeiten sei je nach Kanton doch sehr unterschiedlich. Doch im Grunde stimme es: «Die Jugendlichen befinden sich in einer Multikrise.» Sie hält fest, dass es das «nicht schon immer gab», wie manche hin und wieder behaupten. Krisen folgten heute schneller aufeinander und seien näher bei den Kindern und Jugendlichen. Einerseits sitzen Kinder aus dem Kriegsgebiet nebenan in der Schulbank. Andererseits bringen Smartphones die Krisen in Echtzeit zu den Jugendlichen.

Walitza hat einen Sohn, der 17 ist, gerne malt und einmal Mathematik studieren möchte. Sie weiss darum nicht nur als Klinikdirektorin, sondern auch aus privater Erfahrung, wie das Smartphone das Leben der jüngeren Generationen verändert: «Es liefert kurzfristige Belohnungen im Minutentakt und hält davon ab, sich intensiver mit anderen Dingen zu beschäftigen», sagt sie und ergänzt: «Eigentlich sollte uns die Digitalisierung Zeit geben. Doch oft ist das Gegenteil der Fall.» Statt dass wir dank fortschrittlicher Technik effizienter sind und mehr Zeit für Freunde haben, sei das Handy zum Gegenspieler von sozialen Aktivitäten geworden. Dabei zeigen Studien von Walitzas Team, dass Jugendliche für ihre psychische Gesundheit neben Routinen vor allem Aktivitäten und sozialen Austausch brauchen.

Niemanden, um zu reden

Jeder dritte Jugendliche sagt von sich selbst, dass er niemanden habe, um zu reden, wie eine nationale Untersuchung in der Schweiz zeigt. Wenn ihr Jugendliche in Not gegenübersitzen, dann tut Walitza deshalb vor allem eines: zuhören. Für Eltern von Adoleszenten sei aber noch eine andere Erkenntnis aus der Forschung wichtig, sagt die Psychiaterin: «Die Befragungen zeigen sehr klar, dass die Jugendlichen reden möchten.» Angesichts der in vielen Fällen eher wortkargen Phase des Erwachsenwerdens ist diese an sich simple Erkenntnis von grosser Bedeutung.

Damit Jugendliche den Dauerkrisen-Modus besser meistern können, plädiert Susanne Walitza dafür, auf ihre Stärken zu fokussieren, auf die Dinge, die gut laufen im Leben. «Wir sollten uns nicht nur auf die Störungen konzentrieren, sondern vermehrt auch auf die Resilienz.» Statt mit einem Mädchen mit Essstörung auch in der Therapie ständig über das problematische Verhalten zu reden, nutze sie die Zeit, um auszuloten, welche Dinge für das Kind Potenzial haben und was Selbstwirksamkeit erzeugen kann wie beispielsweise Hobbies.

Auf das Erfreuliche konzentrieren

Sich auf das Erfreuliche im Leben zu konzentrieren, ist für Susanne Walitza also nicht bloss Ablenkung von der Ernsthaftigkeit des Alltags, sondern ein begleitender Therapieansatz für die problematische Smartphone-Nutzung von Jugendlichen: Wer Sport macht oder Bücher liest, hat weniger Zeit, um zu gamen oder übers Essen nachzudenken. Wer Bilder malt oder Klavier spielt, stärkt sein Selbstvertrauen. Wer ein Haustier betreut, lernt zu pflegen und Verantwortung zu übernehmen.

Und so kommt auch ein Gespräch mit Jugendlichen über Hühner, Musik oder impressionistische Bilder immer wieder auf Walitzas Arbeitsschwerpunkte zurück. Die Hochbeete und Hühner draussen: Eine Begleittherapie für junge Patientinnen und Patienten der Klinik. Das Musizieren im Freien während der Corona-Pandemie – das war eine Idee der Lehrpersonen ihrer Klinikschule, um Selbstwirksamkeit zu fördern. Die Bilder an der Wand: Vielleicht sind sie eine Inspiration für Jugendliche, es auch einmal mit Malen zu versuchen. Walitza sagt, und es klingt wie eine Art Fazit: «Wollen wir den Jugendlichen die Smartphones wegnehmen, dann müssen wir ihnen etwas anderes anbieten.»

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