Expertise wird wichtiger

Kinderbetreuer:innen, Köch:innen, und Fahrer:innen schwerer Lastwagen mögen wenig gemeinsam haben. Ein Merkmal allerdings verbindet sie: Für alle drei Berufsgruppen gibt es keine Software und Programme, die für ihre Arbeit relevant sind. Das legt jedenfalls eine Auswertung der Daten der letzten 22 Jahre aus dem Stellenmarkt-Monitor Schweiz an der UZH nahe: Sie sind die einzigen drei von rund sechzig untersuchten Berufen, bei denen in Stelleninseraten nie verlangt wird, dass sie mit fachspezifischer Software umgehen können. Ganz ohne digitale Kenntnisse kommen aber auch diese drei Berufe nicht aus: In Stelleninseraten wird zunehmend verlangt, dass Bewerber:innen allgemein mit Informationstechnologie oder mit Textverarbeitungsprogrammen umgehen können, wenn auch in geringem Mass.
Analysieren und beraten
Das Beispiel veranschaulicht das rasche Fortschreiten der Digitalisierung in der Arbeitswelt. Die Auswertung der Stellenmarkt-Daten zeigt, dass in den letzten zwölf Jahren in fast allen Berufsfeldern digitale Kompetenzen stärker nachgefragt wurden als in den zehn Jahren davor. Dabei wurden bisher in erster Linie standardisierte, repetitive Tätigkeiten mit Maschinen und Programmen ersetzt, zum Beispiel im Bereich einfacher administrativer Aufgaben. «Die Entwicklung in der generativen KI ist nun aber ein Quantensprung», sagt Marlis Buchmann, Professorin für Soziologie an der UZH und Leiterin des Stellenmarkt-Monitors. Denn erstmals sei es möglich, dass Maschinen auch nicht-routinemässige Tätigkeiten ausführten.
«Aber komplexe Fähigkeiten bleiben nach wie vor den Menschen vorbehalten», ist Buchmann überzeugt. Dazu gehören Fähigkeiten wie Planung und Organisation, komplexes Analysieren und kritisches Überprüfen oder professionelle Beratung sowie interaktive Fähigkeiten und die Fähigkeit zu Teamwork. In vielen Berufen seien solche Kompetenzen nun wichtiger geworden, sagt Buchmann. Ein Befund, der sich auch in den Stelleninseraten widerspiegelt. Noch stärker als digitale wurden in den vergangenen Jahren nämlich kognitive Kompetenzen für die zu besetzenden Stellen verlangt.
Fahrstuhleffekt durch KI
Die Entwicklung der KI werde nach Ansicht von Buchmann dazu führen, dass menschliche Expertise an Bedeutung gewinnt. Diese sei nötig, um die von KI-Tools erstellten Texte, Computerprogramme oder Datenauswertungen auf ihre Plausibilität und Korrektheit hin zu beurteilen. «Expertise setzt viele verschiedene Fähigkeiten voraus und ist als solche eine hochkomplexe kognitive Kompetenz», sagt Buchmann. Sie dürfte ihrer Ansicht nach noch lange den Menschen vorbehalten bleiben. «KI könnte auch das Potenzial haben, Ungleichheiten im Arbeitsmarkt zu verringern», meint Buchmann. «KI-Tools können etwa Arbeitskräften im mittleren Qualifikationsbereich ermöglichen, ein höheres Niveau zu erreichen.» In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass Texter:innen, die mit ChatGTP arbeiten, nicht nur effizienter sind, sondern auch Texte von besserer Qualität erzeugen als solche, die ohne ChatGTP arbeiten. Weil sich die Qualitätssteigerung mit ChatGTP besonders bei qualitativ schwächeren Texter:innnen zeigte, könnten Niveau-Unterschiede innerhalb des Berufs verringert werden.
Die Digitalisierung und KI-Tools könnten tatsächlich dazu führen, dass weniger qualifizierte Personen künftig höher qualifizierte Tätigkeiten ausüben, sagt auch Katrin Kraus, Professorin für Berufs- und Weiterbildung am Institut für Erziehungswissenschaft der UZH. «KI hat einen Fahrstuhleffekt.» Das heisst, dass sich gesamthaft das Niveau anhebt. Kraus geht allerdings davon aus, dass die Unterschiede in den Qualifikationen weiter bestehen bleiben. «Wir müssen deshalb aufpassen, dass die hoch qualifizierten und weniger qualifizierten Arbeitskräfte nicht zu stark auseinanderdriften.»
Die Digitalisierung und KI-Tools könnten tatsächlich dazu führen, dass weniger qualifizierte Personen künftig höher qualifizierte Tätigkeiten ausüben.
Einen Schlüssel dazu, dass dies nicht passiert, sieht sie im Zugang zu Bildung – und zwar nicht nur zur Schul- und Berufsbildung, sondern gerade auch zur Weiterbildung. «Bildung ist kumulativ über das ganze Leben», sagt Kraus. «Das heisst, wenn jemand schon gut gebildet ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit umso grösser, dass er oder sie sich weiterbildet.» Und umgekehrt – wenn eine Person in ihrem Leben bisher wenig Zugang zu Bildung hatte, wird es auch immer weniger wahrscheinlich, dass sie an Bildungsangeboten teilnehmen kann. Im Zug der Digitalisierung verändern sich berufsspezifische Kompetenzen sowie Fachwissen rascher als früher. Die Fähigkeit, sich auf solche Veränderungen einzustellen und mit ihnen mitzuhalten, sieht Kraus deshalb in einer künftigen Arbeitswelt als zentral an. Angesichts der sich stets wandelnden Anforderungen dürfen die Menschen nicht das Gefühl haben, diesen Veränderungen ausgeliefert zu sein. «Sie sollten vielmehr in der Lage sein, aktiv Entscheidungen über die eigene Laufbahn zu treffen und diese dann umzusetzen.»
Für die Berufsbildung bedeutet dies, dass den Lernenden in der Ausbildung nicht nur Fachkompetenzen vermittelt werden, sondern dass sie auch darauf vorbereitet werden, ihre eigene Erwerbsbiografie zu gestalten. Die elementaren Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen, die Menschen nicht nur für die Arbeitswelt benötigen, werden nicht verschwinden, so Kraus. Neu werden auch der Umgang mit Medien sowie ein grundlegendes Verständnis dafür, wie Daten immer mehr Aspekte unserer Gesellschaft durchdringen, Teil der Grundkompetenzen werden, die in Schule und Berufsbildung vermittelt werden müssen.
Digitale Tools beurteilen
Generell, darin sind sich Kraus und Buchmann einig, werden es weiterhin die Menschen sein, die definieren, wo und in welcher Art KI eingesetzt werden soll. «Die Frage ist, wie wir digitale Möglichkeiten gut in sinnstiftende Arbeit einbinden können», so Kraus. Dazu brauche es ein Grundverständnis, wie Prozesse funktionieren und was digitale Tools leisten können und was nicht. «Diese Entscheidungen werden bei den Menschen bleiben», ist Kraus überzeugt. Letztlich muss die menschliche Intelligenz beurteilen und bewerten, was KI-Tool leisten können, sagt auch Buchmann. «Ausser wir wollen in einer hundertprozentig automatisierten Welt leben.»