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Balthasar Bickel, Sie leiten den Nationalen Forschungsschwerpunkt «Evolving Language». Können Sie ein Beispiel schildern, wie sich die überraschend grosse Dynamik der Sprache zeigt?
Balthasar Bickel: Ein schönes Beispiel im Schweizerdeutschen finde ich die Einführung einer neuen Verbform. Früher sagte man mer hauet ab, heute me hauets ab. Dieses S bei hauets ist eine Neuerfindung, die den Weg auch in andere Ausdrücke gefunden hat. Grammatikalisch gesehen, ist es eine komplexe Konstruktion, gleichzeitig hat das S für sich allein keine Bedeutung, trotzdem ist es zu einem funktionalen Element geworden.
Haben Sie noch ein allgemeineres Beispiel?
Neulich konnten wir zeigen, dass Sprachpopulationen, die miteinander in Kontakt treten, darauf auf zweierlei Arten reagieren. Sie können Ausdrücke voneinander entlehnen oder das Gegenteil tun: sich voneinander abgrenzen, indem sie eigene Ausdrucksweisen suchen und die Gruppengrenzen sprachlich signalisieren. Das ist ein bisher wenig untersuchtes Phänomen, zu dem wir vermehrt forschen werden.
Verändern sich alle Sprachen dynamisch?
Ja, sich zu verändern, ist wirklich eine universelle und fundamentale Eigenschaft aller Sprachen zu jeder Zeit. Eine dynamische Sprache entwickelt zu haben, gehört zu den grossen evolutionären Schritten des Menschen. Das hat die menschliche Denkweise geprägt. Bei Tieren haben wir diese Dynamik bisher nicht entdeckt. Wobei es auch nur wenige Studien gibt, die das angeschaut haben. Wir wollen nun in Phase 2 des NCCR «Evolving Language» herausfinden, wie stark der Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Ausdrucksweise in dieser Hinsicht ist und worauf er gründet.
Wer sich gegen Neues in der Sprache stemmt, kämpft eigentlich gegen den angeborenen Drang des Menschen an, seine Sprache zu verändern.
Viele Ihrer Doktorand:innen schliessen auf Ende Jahr ihre Arbeiten von Phase 1 ab. Findet sich darunter noch ein weiteres Beispiel für die überraschende Dynamik der menschlichen Sprachen?
Der Grad der Komplexität einer Sprache kann sich relativ rasch verändern, hat einer unserer Doktoranden herausgefunden. Er untersuchte zusammen mit anderen Forschenden in drei Sprachfamilien in Südamerika und Eurasien die Art und Weise, wie Sätze miteinander verbunden werden. Die gesammelten Daten zeigten, dass die Sprechenden dazu tendieren, im Verlauf der sprachlichen Evolution die Komplexität dieser Verbindungen zu «optimieren» – so dass sie weder zu komplex noch zu wenig komplex waren.
Sie prüften unter anderem die weit verbreitete Hypothese, dass verschriftlichte Sprache bei solchen Verbindungen komplexer sei als gesprochene Sprache. Die Analyse der Daten aus fast sechzig Sprachen, die zur Verfügung standen, bestätigen diese Annahme aber nicht. Wenn man aussereuropäische Sprachen mitberücksichtigt, erkennt man, dass Verschriftlichung keinen derart grossen Unterschied in der Komplexität ausmacht, wie man lange vermutete.
Worauf könnte das zurückzuführen sein?
Viele aussereuropäische Sprachen, die nie verschriftlicht wurden, erreichen eine Komplexität, die weit über das hinausgeht, was wir in Europa kennen. Es gibt Sprachen, die über 4000 Verbformen haben und deren Wörter aus rund einem Dutzend Silben bestehen. Zwei Beispiele hochkomplexer Sprachen aus unserer Forschung sind das Dene, eine Sprache im Norden Kanadas, und Chintang, eine Sprache aus dem Himalaja. Beide funktionieren seit Jahrhunderten bestens. Sprachen entwickeln sich teils in Richtung grössere Komplexität weiter, dann werden sie wieder weniger komplex.
Im NCCR «Evolving Language» arbeiten Wissenschaftler:innen aus Linguistik, Anthropologie, Biologie, Psychologie, Medizin, Informatik, Mathematik und Philosophie zusammen. Was sind die grössten Herausforderungen, wenn Expert:innen aus den Naturwissenschaften und den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen forschen?
Die grösste Herausforderung bestand darin, uns gegenseitig verständlich zu machen, was wir mit grundlegenden theoretischen Begriffen wie Bedeutung, Konzept oder Kommunikation meinen. Mittlerweile haben wir selbst in komplexeren Bereichen der Theoriebildung, zum Beispiel in der Evolutionstheorie, eine Ebene erreicht, wo wir uns gut verstehen.
Wird das interdisziplinäre Verständnis auch für die zweite Phase des NCCR «Evolving Language» reichen oder kommen neue Herausforderungen dazu?
Es ist natürlich ein Verständigungsprozess, der weiterlaufen muss. Sehr hilfreich dabei ist die Gründung eines neuen Instituts, des ISLE-Instituts, im Januar 2025, in dem die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Forschungsbereich Sprachevolution verstetigt wird. Die Abkürzung ISLE steht für Interdisciplinary Study of Language Evolution.
Was bringt das ISLE den Studierenden?
Das ISLE führt nächstes Jahr ein neues interfakultäres Master-of-Science-Studienprogramm für Studierende unterschiedlichster Disziplinen ein, den MSc Evolutionary Language Science. Dieses spezialisierte Masterstudium ist stark forschungsorientiert und kann nur auf Bewerbung absolviert werden. Die aufgenommenen Masterstudierenden werden befähigt, die wichtigsten Aspekte der beteiligten Disziplinen am ISLE schnell kennenzulernen. Es wird ein anstrengender Studiengang, das ist klar, aber ich denke, die Belohnung ist gross. Wir machen Forschung zur Dynamik der Sprachen, zu ihrer Verarbeitung im Gehirn, zu ihrem Erwerb bei Kindern sowie zum Vergleich mit der Kommunikation und Kognition nichtmenschlicher Primaten. Das schliesst auch Forschung an vielen Orten der Welt mit ein.
Ihr NCCR «Evolving Language» hat herausgefunden, dass eine der grössten Unterschiede zwischen menschlicher Sprache und der Kommunikation von Tieren darin besteht, dass die Sprachen der Menschen ausgesprochen dynamisch sind. Was halten Sie als Sprachwissenschaftler denn davon, wenn die Sprechenden aktiv ihre Sprache verändern wollen? Ein aktuelles Beispiel wäre das Gendern von Substantiven mithilfe eines Doppelpunkts oder Sterns.
Es ist eine Eigenschaft von uns Menschen, dass wir die Ausdrucksweise laufend verändern wollen. Das ist auch der Grund, weshalb wir so kreativ sind. Und warum wir als Art so erfolgreich waren – und nicht etwa die anderen Menschenaffen. In diesem Punkt unterscheiden sich die Menschen viel deutlicher von anderen Tieren als in den vielen Aspekte, die bisher in der Forschung untersucht wurden, z.B. den Fähigkeiten in der Syntax.
Ist es nicht problematisch, wenn eine bestimmte Gruppe eine sprachliche Veränderung aktiv herbeiführen will?
Es macht keinen Unterschied, ob eine Veränderung in der Sprache einfach passiert oder ob sie aktiv und kreativ herbeigeführt wird. Es gibt beides, und es hat schon immer beides gegeben. In beiden Fällen beginnt die Dynamik mit einer kleinen Gruppe, die irgendetwas Neues macht. Ich habe das Beispiel erwähnt, einfach mal ein S einem Verb anzufügen, weil es irgendwie cool klingt, ohne ersichtlichen Grund.
Manche monieren, man könne einen Doppelpunkt oder Stern vor der weiblichen Endung des Substantivs nicht aussprechen.
Ich höre immer mehr Leute, die beim Gendern von Wörtern – zum Beispiel Unternehmer:in oder Unternehmer*in – einen sogenannten Glottalverschluss verwenden. Im Hochdeutschen ist das ein gebräuchlicher Laut, zu hören zum Beispiel beim Wort Aorta. Aber auch im Schweizerdeutschen kann man diesen Laut einführen, und das schadet überhaupt nicht. So wissen wir aus unserer Forschung, dass die Menschen vor etwa 10’000 Jahren immer häufiger den Laut f eingeführt haben, den es früher nicht gab. Das f hat sich problemlos verbreitet und hat keinem geschadet.
Wann setzen sich aktiv herbeigeführte Änderungen in einer Sprache durch?
Je populärer die Leute sind, die «anders» sprechen, desto eher können sich Änderungen durchsetzen. Lebt eine grössere Gruppe die Sprachänderung, geschieht die Verbreitung ähnlich wie bei einem Virus. Erst langsam, dann nimmt die Verbreitung Fahrt auf, steigt schliesslich exponentiell an, bis die meisten Leute die Änderung übernommen haben. Es ist ein Prozess, den man schlecht steuern kann. Wer sich gegen Neues in der Sprache stemmt, kämpft eigentlich gegen den angeborenen Drang des Menschen an, seine Sprache zu verändern.