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Sprachliche und biologische Diversität hängen zusammen», sagt Balthasar Bickel. Auf den ersten Blick wirkt diese Korrelation kurios. Das gibt auch UZH-Linguist Bickel zu, der den Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) «Evolving Language» leitet, wo unter vielem anderem auch dieser Zusammenhang erforscht wird.
Zu den Parallelen zwischen Sprachen- und Biodiversität wird seit den 1990er-Jahren geforscht. Es hat sich in vielen Studien gezeigt, «dass einer der Hauptfaktoren, die die sprachliche Vielfalt treiben, die Artenvielfalt in der Umgebung ist», sagt Balthasar Bickel. Einer der wichtigsten Gründe: Wer mehr biologische Vielfalt um sich hat, verfügt über mehr Ressourcen, um zu überleben. Er kann in kleineren Gruppen agieren und ist weniger abhängig von anderen. Das Leben in der eigenen Gemeinschaft wiederum fördert die eigene Sprache.
Die Abhängigkeit der Sprachenvielfalt von der lokalen Ökologie verstärkte sich noch, als die Menschen sesshaft wurden und Landwirtschaft zu betreiben begannen. Das haben NFS-Forschende festgestellt, wie Bickel erzählt. «Als die Menschen ihre Nahrung noch als Jäger und Sammler suchten, waren sie flexibler und anpassungsfähiger. Sie zogen in überschaubaren Gruppen, die ihre eigene Sprache pflegten, an einen anderen Ort, wenn die lokale Ökologie zu wenig Nahrung bot», erklärt er. So mussten sie, um zu überleben, nicht zwingend mit anderen (Sprach-)Gemeinschaften kooperieren. Anders jedoch, als sie sesshaft wurden und ihre Nahrung selbst anbauten. Die Sesshaftigkeit machte sie stark von lokalen Gegebenheiten wie Niederschlagshäufigkeit abhängig und führte dazu, dass sie immer mal wieder von Missernten betroffen waren. Mit anderen (Sprach-)Gruppen zusammenzuarbeiten, zu tauschen oder zu handeln, wurde essenziell – was eine gemeinsame Sprache bedingte. Prägt die lokale Ökologie eine Sprache ganz direkt? Wer wie die Inuit dauernd Schnee um sich hat, wird auch viele Begriffe dafür entwickeln? «Nein, dieses Phänomen gehört eher in den Bereich der Ausbildung eines Fachvokabulars, so wie zum Beispiel die Jäger:innen oder Handwerker:innen spezifische Begriffe für ihr Tun entwickelt haben», antwortet Bickel.
Selbst wenn sich Englisch wie ein invasiver Neophyt stark ausbreitet, bleibt der Drang der Menschen zur Differenzierung bestehen.
Der Zusammenhang zwischen Ökologie und Sprache ist vielmehr indirekt: Eine artenreiche Region erlaubt es mehr Gruppen, und auch kleinen, relativ unabhängig voneinander zu überleben. Paradebeispiel dafür sind die tropischen Regenwälder, wo die Sprachenvielfalt pro Quadratkilometer und auch die Artenvielfalt sehr hoch sind. Am anderen Ende der Skala liegt das karge Sibirien: In den höheren Breitengraden braucht es ein riesiges Einzugsgebiet, um an genügend Nahrung zu kommen; so ist das Gebiet nur dünn besiedelt, und die kleinen Siedlungsgruppen müssen mit anderen zusammenarbeiten, um genügend Ressourcen zum Leben zu generieren – entsprechend klein ist die Sprachenvielfalt.
«Die Sprachenvielfalt einer Region kann weitgehend aufgrund der dort verbreiteten Ökologie vorhergesagt werden», sagt Bickel. Die Korrelation ist stark, wie ein Forschungsteam um ihn und den UZH-Geografen Robert Weibel vor einigen Jahren herausgefunden hat.
So findet man die grösste Sprachenvielfalt rund um den Äquator, wo das gleichmässig warme, sonnige und niederschlagsreiche Klima die Artenvielfalt fördert. Das Land mit den weltweit meisten Sprachen (839) ist Papua-Neuguinea. Dort leben die insgesamt knapp neun Millionen Menschen in rund 900 Volksgruppen mit je eigener Sprache und Kultur zusammen. Neuguinea weist auch die weltweit grösste Pflanzenvielfalt auf, wie eine Studie des Instituts für Evolutionsbiologie und Umweltstudien der UZH aufgezeigt hat. Dass die Sprachenvielfalt so stark von der Biodiversität abhängt, wirft viele Fragen auf. Am besten nähern wir uns ihnen wie die Jäger und Sammler von anno dazumal: indem wir mit Balthasar Bickel von einem ergiebigen Ort zum nächsten wandern und unterwegs die reifen Früchte von den Bäumen der Erkenntnis zu Biodiversität und Sprachenvielfalt pflücken.
«Alles, was wir heute zur Evolution des Homo sapiens wissen, weist darauf hin, dass die Menschheit schon sehr früh nach kultureller Diversität gestrebt hat», sagt Linguist Balthasar Bickel. Bei den frühesten Menschen finden sich Unterschiede in der Form von Steinwerkzeugen oder in der Pigmentverwendung. Schon bald diversifizierten die Urmenschen weitere kulturelle Ausdrucksformen wie Behausung, Essen oder Begräbnisriten. Und irgendwann die Sprache. «Ob sich der frühe Homo sapiens auch schon in der Sprache unterschied, können wir mangels Belegen nicht wissen», sagt Bickel, «aber alles deutet darauf hin, dass das Streben nach Diversifizierung seit je zum Menschen gehört.»
Der Drang nach Diversifizierung scheint angeboren zu sein – auch in Bezug auf Sprache, vermutet Bickel. Mit dem Lernen der Sprache erwerben Kleinkinder immer auch die spezifische Gedankenwelt, die Kommunikationsregeln und Wertesysteme, die ihrer Muttersprache innewohnen und die sich von anderen Sprachen unterscheiden.
Nun schwindet seit geraumer Zeit nicht nur die Biodiversität, auch die Sprachenvielfalt nimmt weltweit akut ab. «Es ist dramatisch, wie schnell Sprachen weltweit aussterben», sagt Balthasar Bickel. Die Website GlottoScope listet auf, dass von insgesamt 7737 Sprachen auf der Welt fast zwei Drittel vom Aussterben bedroht sind oder schon nicht mehr weitergegeben werden. Vom Sprachensterben betroffen ist vor allem Eurasien, aber auch der Süden Australiens sowie Nordamerika – dort hat die gezielte Zerstörung der indigenen Kulturen zum Aussterben vieler ihrer Sprachen geführt.
Der Verlust der eigenen Sprache hat dramatische Konsequenzen, denn wenn einer Gruppe die Sprache genommen wird, verliert sie einen grossen Teil ihrer Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Ort und die Vertrautheit mit ihresgleichen, so Bickel. «Der Verlust der eigenen Sprache provoziert potenziell massive soziale und psychologische Schäden», sagt der Linguist, «denn Sprache ist ein wesentlicher Teil der menschlichen Identität.»
«Zum Glück diversifizieren sich Sprachen weiter», fügt Bickel an. Als Beispiel nennt er die Weltsprache Englisch: Schottisches, australisches, amerikanisches, südafrikanisches, indisches Englisch – sie alle unterscheiden sich hörbar voneinander und signalisieren, zu wem der oder die Sprecher:in der Weltsprache «eigentlich» gehört. Selbst wenn sich Englisch wie ein invasiver Neophyt stark ausbreite, bleibe der Drang zur Differenzierung bestehen, sagt Bickel. «Niemand kann diesem Drang widerstehen.»
Die Sprachenvielfalt einer Region kann weitgehend aufgrund der dort verbreiteten Ökologie vorhergesagt werden.
Doch zurück zum akuten Sprachensterben. Lassen sich Parallelen zum Aussterben biologischer Arten finden? Pflanzen- und Tierarten sterben aus, weil ihre natürlichen Habitate zerstört werden – durch den Menschen. Unsere Spezies transformiert natürlichen Lebensraum fast überall auf der Welt in Nutzland, indem wir roden, siedeln, anpflanzen, düngen und Verkehrswege bauen. Zudem wird kleinräumige Landwirtschaft durch grossflächige Monokulturen ersetzt, was weitere Arten gefährdet.
Sind «grosse», dominante Sprachen genauso schädlich für die Sprachenvielfalt wie Monokulturen für die Biodiversität? Sind «Weltsprachen» mitschuldig am Aussterben von Minderheitensprachen? Hängt es von der schieren Anzahl Personen ab, die eine Sprache sprechen, damit sie an Terrain gewinnt? Verdrängen «Weltsprachen» mit ihrer Ausbreitung die lokalen Sprachen? «Nein», antwortet Bickel und nennt eine weltweite Studie zu diesem Thema: «Der wichtigste Faktor, dass eine Sprache überlebt, ist die Schulbildung.» Denn Schulbildung geschieht zur Hauptsache mittels Sprache, und diese wiederum bildet die Basis dafür, dass sich eine Vielzahl menschlicher Eigenheiten und «Errungenschaften» überhaupt erst ausbilden können, insbesondere das Bewusstsein für eine eigene Identität.
Nun wird in der Schule in den meisten Ländern eine Nationalsprache unterrichtet, die nicht identisch mit der lokalen Alltagssprache ist. Diese «Hochsprache» mindert gemäss Bickel bis zu einem gewissen Grad das Prestige der lokalen Sprache. Weshalb gedeihen Schweizerdeutsch, Katalanisch, Normannisch, Nordfriesisch, Südsamisch und zahlreiche andere lokale Sprachen trotzdem und sterben nicht aus? «Es scheint zu reichen, dass alle vor und nach dem Schulunterricht von sich aus auf die lokale Sprache umschwenken, damit sie lebendig bleibt. Nur wenn die Lehrpersonen mit den Schüler:innen und diese untereinander immer nur in der Nationalsprache sprächen, würde das die lokale Sprache zum Verschwinden bringen», so Bickel.
Solange die Sprache, in der man denkt und sich spontan unterhält, die lokale Sprache ist, bleibt diese die Nummer eins und die Nationalsprache eine erste Fremdsprache. Wie es dazu kommt, dass eine Nationalsprache lokale Sprachen verdrängen kann, zeigt sich im politisch und linguistisch gut erforschten Nepal, erzählt Bickel. Sämtliche landesweiten Verbote lokaler Sprachen während der Königsherrschaft bis in die 1980er-Jahre und die Versuche, per Dekret eine Nationalsprache zu implementieren, scheiterten – obwohl die Leute zum Teil geschlagen und verhaftet wurden, wenn man sie auf dem Markt beim Sprechen ihrer lokalen Sprache erwischte. Erst als in den 1990er-Jahren die wirtschaftliche Entwicklung Nepals anzog, gerieten die lokalen Sprachen unter Druck. An den Schulen und in den Medien wurde ausschliesslich die Nationalsprache Nepali gesprochen – und es wurden abgeschiedene Regionen verkehrstechnisch erschlossen. «Der wichtigste Faktor, der Sprachen zum Verschwinden bringt, ist der Bau von Strassen», so Balthasar Bickel. Wird ein abgeschiedenes Gebiet (besonders augenscheinlich: eine Insel), wo die Menschen eine Minderheitensprache sprechen, durch Strassen oder Eisenbahnlinien mit anderen Regionen verbunden, verändert das die dortige Sprachgemeinschaft grundlegend – und auch die Biodiversität. Das gilt auch für Nepal: Dort wurden abgelegene Gebiete, wo lokale Sprachen vorherrschten, ans Strassennetz angeschlossen. Daraufhin verringerte sich Nepals Sprachenvielfalt stark.
Ein anderes Beispiel dafür sind die Bergregionen des Kantons Graubünden, in denen Rätoromanisch gesprochen wird. Im 19. Jahrhundert wurden sie verkehrstechnisch erschlossen; der einsetzende Fremdenverkehr wertete die Kommunikation auf Rätoromanisch ab. Selbst die Einheimischen empfanden damals ihre lokalen Sprachen, die andere nicht verstanden, als wirtschaftliches Hindernis und stimmten schliesslich zu, sie in Schule, Kirche und Amtsstube durch Deutsch zu ersetzen. Erst als das Rätoromanische auszusterben drohte, wurden Gegenmassnahmen ergriffen, schreibt die Lia Rumantscha auf ihrer Website. So wurde 1982 vom UZH-Romanisten Heinrich Schmid die romanische Schrift- und Amtssprache Rumantsch Grischun geschaffen, und 1995 wurde der Gebrauch des Rätoromanischen in Schule, Verwaltung und öffentlichem Leben wieder festgeschrieben. Trotzdem ist die Gefahr, dass das Romanische ausstirbt, bis heute nicht gebannt. Für die Schulen in den romanischen Gebieten bleibt es eine Herausforderung, die richtige Balance zwischen dem Schutz der lokalen rätoromanischen Sprachen und der Berücksichtigung der «mächtigen» Sprachen Deutsch, Italienisch und Englisch zu finden.
Mit den Strassen tauchen nicht nur Anderssprechende auf. Diese bringen auch – gewollt oder unbeabsichtigt – über kurz oder lang gebietsfremde Pflanzen und Tiere mit, die nicht selten durchsetzungsstark sind und das Potenzial haben, die lokalen Ökosysteme in Bedrängnis zu bringen. Bekommt ein diverses System erst einmal Schlagseite, wird es aufwändig und anspruchsvoll, das Gleichgewicht von Menschenhand wieder herzustellen – das gilt für die Sprachenvielfalt so gut wie für die Artenvielfalt.
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen UZH Magazin «Kostbare Vielfalt»