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Politologie

«Die Schweiz ist so stark polarisiert wie die USA»

Die politischen Lager in vielen Demokratien driften auseinander. Der politische Diskurs ist zunehmend gehässig und unversöhnlich. Silja Häusermann und Simon Bornschier vom Institut für Politikwissenschaft der UZH erklären, weshalb das so ist und ob das die Demokratie gefährdet.
Thomas Gull und Roger Nickl
Simon Bornschier und Silja Häusermann
Erforschen die Gründe und die Auswirkungen der Polarisierung in der Politik: Simon Bornschier und Silja Häusermann. (Bild: Stefan Walter)

Frau Häusermann, Herr Bornschier, in der Publikation «Democratic Conflict and Polarization: Healthy or Harmful?» erklären Sie die Entwicklung von demokratischen Konflikten und politischer Polarisierung. Diesen Juli haben in Frankreich nationale Wahlen stattgefunden. Wie hat sich die Polarisierung in diesen Wahlen gespiegelt?

Simon Bornschier: Die Wahlen haben gezeigt, dass Frankreich nicht sehr anders tickt als andere europäische Länder. Obwohl viele mit einem Rechtsrutsch gerechnet haben, waren die drei grossen politischen Lager – die radikale Rechte, die Neue Linke und dazwischen die etablierte Rechte – mehr oder weniger gleich stark. Die Pole halten sich in etwa die Waage.

Silja Häusermann: Frankreich hat zwar ein anderes Wahlsystem als die meisten europäischen Länder, aber die Grundkonflikte sind die gleichen wie andernorts auch. Trends, die wir in anderen Ländern festgestellt haben – etwa, dass Junge viel eher die Pole wählen als das Zentrum –, haben sich bestätigt.

In Ihrer Publikation analysieren Sie die zunehmende politische Polarisierung in westlichen Demokratien. Woran stellt man diese fest?

Häusermann: Wir messen die Polarisierung vor allem über die Distanz zwischen den politischen Positionen der Parteien oder der Wählerinnen und Wähler. Zudem betrachten wir die Grösse der politischen Lager, die an den Polen liegen. Wenn man diese Dimensionen kombiniert und auswertet, sieht man, dass die Polarisierung zunimmt. Dass jüngere Menschen eher die Pole wählen, bedeutet, dass sich die Polarisierung künftig eher noch verstärken wird, weil gerade in stark polarisierten und segmentierten Demokratien das Wahlverhalten über die Lebensspanne relativ stabil bleibt.

Welche Themen polarisieren denn heute die Gesellschaft?

Häusermann: Im 21. Jahrhundert polarisieren vor allem gesellschaftspolitische Themen wie Minderheitenrechte, Gleichstellung und Migration. Und die Internationalisierung – soll sich ein Land öffnen oder eher abgrenzen. Im 20. Jahrhundert polarisierten dagegen vor allem Verteilungsfragen etwa zu Steuern und Sozialleistungen.

Bornschier: In den Medien werden die aktuellen Konflikte oft auf die Immigrationsfrage reduziert. Die Gegensätze sind aber älter, vielfältiger und betreffen verschiedene Themenbündel und Identitäten, in denen sich die Wählerinnen und Wähler unterscheiden. Sie gehen zurück auf die Mobilisierung der so genannten Neuen Linken in den 1970er- und 1980er-Jahren. Diese hat neue Themen auf die Agenda gesetzt wie die Gleichstellung von Mann und Frau, Minderheitenrechte oder die freie Wahl von Lebensentwürfen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der «Homosexuellenbewegung», wie man sie damals nannte. Dagegen hat eine nationalkonservative Gegenbewegung mobilisiert, aus der die radikale populistische Rechte hervorgegangen ist. Diese hat Themen wie Immigration, den Schutz von Traditionen sowie das Verhältnis zur EU in den Mittelpunkt gestellt.

Häusermann: Letztlich ist diese Entwicklung ein Effekt der Bildungsexpansion im 20. Jahrhundert. Der Wandel vom industriellen zum postindustriellen Zeitalter hat die Gesellschaften grundlegend verändert. Es ist eine breite, gut gebildete Mittelschicht entstanden, der die Anliegen der Neuen Linken wichtig sind. Bildung ist zur zentralen Determinante von Lebenschancen und -risiken geworden. Gerade jüngere Menschen, viele Frauen und Menschen im städtischen Umfeld profitieren davon. Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung der Menschen, die nicht direkt von den gesellschaftlichen Veränderungen profitieren konnten und können.

Häusermann

Der Zusammenhang zwischen der materiellen Lebenssituation und politischen Einstellungen ist schwach geworden.

Silja Häusermann
Politologin

Sie unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen universalistischen und partikularistischen Positionen, die die Polparteien rechts und links vertreten. Können Sie das erklären? 

Bornschier: Die Themen, die die Neue Linke auf die Agenda gesetzt hat, betonen ein starkes Gleichheitsprinzip. Dieses betrifft nicht nur ökonomische Fragen, sondern auch Fragen der Identität. Es geht also um Gleichheit in Bezug auf das Geschlecht, auf die soziale Herkunft, auf Lebensentwürfe. Das ist die zentrale Forderung des einen, universalistischen Pols. Der Gegenpol ist traditionalistisch oder eben partikularistisch. Er versucht gewachsene Gemeinschaften zu bewahren. Häufig sind das Gemeinschaften, die imaginiert sind. Romantisiert und verteidigt wird eine Homogenität, die es so gar nie gab. Inzwischen sind aber nicht nur kulturelle, sondern auch ökonomische Themen mit diesen gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfen verknüpft.

Häusermann: Der direkte Zusammenhang zwischen der unmittelbaren materiellen Lebenssituation – etwa dem Einkommen – und politischen Einstellungen ist schwach geworden. Viele politische Überzeugungen sind vielmehr kulturell motiviert, also durch Werte und gesellschaftliche Zielbilder. Gerade bei Themen wie Immigration oder bei der europäischen Integration stehen kulturelle Motive im Vordergrund, obwohl diese natürlich eine ganz klare materielle, verteilungspolitische Dimension haben. Aber durch die Polarisierung werden die wertebasierten Gesellschaftsentwürfe zu Brillen, durch die man auf viele unterschiedliche politische Themen schaut. Ich habe viel zu Sozialpolitik und zum Sozialstaat gearbeitet, also zu genuin materiellen Themen. In diesem Bereich sehen wir, dass auch klassische Verteilungsfragen heute verstärkt durch diese kulturelle Brille gelesen werden. Zum Beispiel unter dem Begriff des Wohlfahrtschauvinismus, also der Bewertung von Sozialleistungen – etwa bei der Frage, ob diese eher den Einheimischen oder den Zugewanderten zugutekommen.

Ihre Studie thematisiert auch die Verliererseite der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Sie zitieren den Begriff der «places that don’t matter» eines britischen Politgeografen. Er steht für Orte, an denen die Menschen sich abgehängt fühlen. Welche Rolle spielt die Erfahrung, zu den Verlierer:innen zu gehören, in der Polarisierungsdiskussion?

Häusermann: Dazu gibt es viel Forschung. Sie zeigt, dass der empfundene Leidensdruck nicht nur ein materieller, sondern ebenso ein kultureller, immaterieller ist. Anders gesagt: Arbeitslosigkeit, Jobverlust und ein als tief empfundener sozialer Status sind keine starken Prädiktoren für rechtsautoritäres Wählen. Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust dagegen schon. Die subjektive Einschätzung, man habe relativ zu anderen gesellschaftlichen Gruppen an Bedeutung und Status verloren und sei zu kurz gekommen, ist sogar ein ganz zentraler subjektiver Prädiktor dafür. Es ist das Gefühl eines relativen Verlusts. Die Welt entwickelt sich in eine Richtung, der man nicht folgen kann und die einen zurücklässt.

Das Gefühl, kulturell zu verlieren, beeinflusst das Wahlverhalten stärker als die ökonomische Situation? 

Häusermann: Ja, die Schweiz liefert ein sehr gutes Untersuchungsfeld dafür. Denn hier gibt es keine «places that don’t matter». In den USA zum Beispiel aber schon. Dort gibt es Orte, wo viele Menschen sozial, wirtschaftlich und auch infrastrukturell abgehängt worden sind. Deshalb sind die USA oftmals ein schlechtes Studienobjekt für uns Forschende, denn dort ist alles überdeterminiert: Den Leuten geht es ökonomisch, kulturell, gesundheitlich und bildungsmässig schlecht. In Europa lassen sich diese verschiedenen Dimensionen viel besser differenzieren und gegeneinander abwägen. In reichen Ländern wie Österreich, Dänemark oder der Schweiz gibt es zum Beispiel flächendeckend gute Schulen. Die Kinder erhalten überall eine gute Bildung und auch Randregionen sind gut erschlossen. Dennoch gibt es in diesen Ländern rechtsnationale Parteien mit einem grossen Wähleranteil.

Bornschier: Die Leute, die radikal rechts wählen, sind nicht primär jene, denen es am schlechtesten geht. Sie haben aber das diffuse Gefühl, dass es ihren Kindern künftig weniger gut gehen wird und dass es einmal eine heile Welt gab, in der alles besser war. Sie gehen davon aus, dass das Programm der nationalistischen Rechten hilft, wieder dorthin zurückzukehren.

Die anderen Parteien scheinen es nicht zu schaffen, diesem diffusen Gefühl entgegenzuwirken. Weshalb ist das so?

Häusermann: Man würde denken, dass diese Menschen von politischen Programmen erreicht werden können, die direkt auf ihre Verlusterfahrung reagieren. Das ist aber gar nicht so einfach, weil diese Verlusterfahrung eben nicht unbedingt materiell ist. So kann man sie nicht einfach mit Geld kompensieren. Lange Zeit dachten die Parteien, man könne die Menschen mit Sozialpolitik – etwa mit grosszügigeren Arbeitslosenleistungen oder Mindestlöhnen – abholen. Doch das findet wenig Resonanz, weil der Hauptleidensdruck eben ein immaterieller ist.

Wie kann man auf dieses kulturelle Unbehagen antworten?

Häusermann: Das ist schwierig. Die politische Rechte hat darauf eine einfache Antwort, indem sie an die Nation appelliert. Dieser Appell ist mit einem Versprechen der Aufwertung des Nationalen gegenüber dem «Fremden» verbunden. Für die universalistische Linke, die sich gerade dadurch definiert, dass sie die Gleichheit auf immer mehr Leute ausdehnen will, ist das natürlich keine Option.

Bornschier: Das Grundproblem ist das Gefühl fehlender Wertschätzung. Leute, die das Gefühl haben, sie erhielten zu wenig gesellschaftliche Anerkennung, wählen eher radikal rechts. Die Frage ist, wie man ihnen diese Anerkennung geben kann. Da gibt es das exklusive, nationalistische Angebot. Das traditionelle Angebot der Linken war die Betonung der absolut zentralen Rolle der Arbeiterklasse als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Dieser Diskurs konnte den Leuten die Anerkennung geben, die sie heute vermissen. Für Teile der heutigen Arbeiterklasse sind aber andere Identitäten wichtig, beispielsweise, dass sie sich Menschen nahe fühlen, die bodenständig und ländlich verwurzelt sind. Mit sozialpolitischen Angeboten kann man diese Gruppen nur noch schlecht erreichen. Gerade die typischen Wähler:innen der radikalen populistischen Rechten wollen auch keine Almosen oder Sozialleistungen, weil sie stolz darauf sind, sich ihren Wohlstand selber erarbeitet zu haben.

Bornschier

Leute, die das Gefühl haben, sie erhielten zu wenig gesellschaftliche Anerkennung, wählen eher radikal rechts.

Simon Bornschier
Politologe

Braucht es neue politische Narrative?

Häusermann: Ja, vor allem auf der liberalen und linksprogressiven Seite. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Nach der verlorenen Europawahl hat die deutsche SPD darüber beraten, mit welchem Narrativ sie auf ihr schlechtes Abschneiden reagieren soll. Einer der Vorschläge war, zu betonen, man sei die Partei der «arbeitenden Mitte». Wenn man unserer Argumentation folgt, bliebe das wirkungslos, weil dieser Appell an keinem der politischen Pole Resonanz findet und den Nerv der Zeit nicht trifft. In Frankreich dagegen hat sich die Linke für die zweite Runde der Parlamentswahlen erstaunlich schnell gefunden und sich den Namen «Nouveau Front populaire» gegeben. Das ist eine direkte Wiederaufnahme des linken «Front populaire», der sich in den krisengeschüttelten 1930er-Jahren gegen den Faschismus gebildet hatte. Die Botschaft war klar: «Jetzt geht’s ums Ganze, wir sind in der gleichen Lage wie damals.» Das hat einen Nerv getroffen. Die Demokraten in den USA versuchen zurzeit das Gleiche, indem sie den Wahlkampf als grundlegende Entscheidung über liberale Freiheiten darstellen.

Sie schreiben in Ihrer Analyse, die Schweiz sei eines der polarisiertesten Länder Europas. Weshalb? Und woran zeigt sich das?

Bornschier: Das zeigt sich daran, dass die Parteien an den Polen besonders stark sind. Es gibt kaum ein anderes Land in Europa, wo die nationalkonservative Rechte in Form der SVP so stark ist mit fast 30 Prozent der Stimmen und wo gleichzeitig der Gegenpol etwa gleich stark ist mit der SP und den Grünen. Das heisst, wir haben mehr als die Hälfte der Bevölkerung an den Polen. In vielen anderen Ländern stehen dort sehr viel kleinere Parteien. Deshalb ist die Schweiz so stark polarisiert wie andere sehr polarisierte Länder, etwa die USA.

Häusermann: Das politische Selbstverständnis in der Schweiz ist ja meist nicht das einer Vorreiterin oder eines radikalen Landes. Doch bei der politischen Polarisierung ist die Schweiz ein paradigmatischer Fall. In unserer Analyse haben wir drei Gründe dafür betont: Der Strukturwandel, der die Neue Linke und die rechte Gegenbewegung hervorgebracht hat, war in der Schweiz sehr heftig und sehr schnell. Das gilt für die Deindustrialisierung in den 1990er-Jahren mit einer Halbierung der Beschäftigung in der Industrie und mit einer späten, aber raschen Bildungsexpansion. Der zweite Punkt: In der Schweiz ging die Sozialdemokratie sehr früh an den linken Pol. Andere sozialdemokratische Parteien lavierten. Der dritte Punkt: das politische System in der Schweiz, das den Parteien erlaubt, radikal zu sein und trotzdem zu regieren. In der Schweiz sitzen Parteien gemeinsam in der Regierung, die im europäischen Vergleich am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt sind. Deshalb hat die Schweiz als «Konsensdemokratie» paradoxerweise ein besonders stark polarisiertes Parteiensystem.

Ist der Konsens gefährdet?

Häusermann: Die Institutionen der Konsensdemokratie, des Proporzwahlrechts, die Konkordanzregierung, die direkte Demokratie, die zu Kompromissen zwingt, sind nicht gefährdet, weil sie eine enorm hohe Zustimmung in der Bevölkerung haben. Gefährdet ist dagegen die Handlungsfähigkeit der Politik, weil die Polarisierung es schwer macht, Entscheidungen zu fällen. Das sieht man in der Europapolitik, der Rentenpolitik oder der Umweltpolitik.

In Ihrer Analyse haben Sie die Frage gestellt: Ist die politische Polarisierung gesund oder eher schädlich? Wie lautet Ihre Bilanz?

Häusermann: Die politische Polarisierung hat einen schlechten Ruf und ist verständlicherweise mit Ängsten verbunden. Wir wollten betonen, dass der Konflikt darüber, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln soll, zur Demokratie gehört. Das ist a priori kein Problem für die Demokratie. Die Demokratie ist ein Set von Spielregeln, nach denen die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Vorstellungen einer guten Gesellschaft ausgefochten wird.

Trotzdem hat man den Eindruck, die liberale Demokratie sei gefährdet. Weshalb ist das so?

Häusermann: Es gibt ein Dilemma. Dieses besteht darin, dass der rechtsautoritäre Pol in gewissen Ländern nicht nur inhaltliche Ziele vertritt, sondern die Spielregeln der Demokratie selber in Frage stellt und versucht, die liberale demokratische Arena zu verändern, wo verschiedene politische Meinungen konkurrieren. Diese Gefahr gibt es und wir wollten sie nicht banalisieren. Wir wollen aber darauf hinweisen, dass im Rahmen der liberalen demokratischen Auseinandersetzung der Konflikt dazugehört und gut ist. Politik ist Konflikt, nicht Verwaltung oder Optimierung.

Bornschier: Beim heute zentralen politischen Konflikt, bei dem es um Identität geht, einen Kompromiss zu finden, ist jedoch schwieriger als beim Konflikt zwischen Staat und Markt. Ökonomische Gegensätze lassen sich eher mit einem Ausgleich der finanziellen Interessen lösen. Wenn es um Weltanschauungen geht, ist das sehr viel schwieriger. Das führt uns zurück zur Frage, wie man allen Menschen die Anerkennung und Wertschätzung für ihre Rolle in der Gesellschaft geben kann. Darauf haben unsere Gesellschaften noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden.

Literatur

Silja Häusermann, Simon Bornschier, Democratic Conflict and Polarization: Healthy or Harmful? UBS Center for Economics in Society. Public Paper n°14. Die Publikation ist auf der Website des UBS Center (www.ubscenter.uzh.ch) frei verfügbar.

Simon Bornschier, Lukas Haffert, Silja Häusermann, Marco Steenbergen, Delia Zollinger: Cleavage Formation in the 21st Century. How Social Identities Shape Voting Behavior in Contexts of Electoral Realignment. Cambridge and New York: Cambridge University Press 2024

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