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Eichhörnchen galten im europäischen Mittelalter als chic. Wer es sich leisten konnte, liess sich einen Mantel aus dem Fell der kleinen Nagetiere machen. So bestellte der englische Königshof in manchen Jahren Tausende von Eichhörnchenfellen, um sich standesgemäss auszustatten und warm einzupacken. Entsprechend boomte der Handel mit Fellen. Er erstreckte sich über ganz Europa und reichte bis nach Russland. In erlauchten Kreisen en vogue war auch, sich ein Eichhörnchen als Haustier zu halten. Die aus Bayern stammende französische Königin Isabeau de Bavière (1370–1435) teilte ihre Gemächer mit einem solchen Felltier, das ein extra angefertigtes, perlenbesticktes Halsband trug. «Eichhörnchen und Menschen waren sich damals sicher viel näher als heute, wo wir die Tiere vielleicht höchstens einmal im Wald antreffen», sagt Verena Schünemann. So drollig ein Eichhörnchen als Haustier sein mag, ganz harmlos war diese Koexistenz vielleicht nicht. Das macht Schünemanns Forschung deutlich.
Verena Schünemann ist Paläogenetikerin. Sie erforscht unter anderem am Universitären Forschungsschwerpunkt «Evolution in Action» der UZH, wie die grossen historischen Seuchen, heute würde man sagen Pandemien, entstanden sind und wie die Krankheitserreger sich im Lauf der Zeit veränderten und sich immer wieder dem Menschen anpassten. Denn die Erreger von Krankheiten wie Lepra, Pest oder Syphilis sind hartnäckige Feinde. Sie begleiten uns schon seit Jahrhunderten und verursachten Millionen von Todesfällen – zum Teil bis heute.
In aus dem Mittelalter stammenden Eichhörnchenknochen, die in der englischen Stadt Winchester gefunden wurden, haben Verena Schünemann und ihr Team nun Spuren von Mycobacterium leprae identifiziert, also jenem Krankheitserreger, der die Lepra verursacht. Dies ist der gleiche Keim, den die Paläogenetikerin auch in menschlichen Überresten aus dem Mittelalter aufgespürt hat. «Es ist also durchaus möglich, dass der Erreger in der Vergangenheit zwischen Menschen und Eichhörnchen zirkuliert ist», sagt die Forscherin. Ob und in welche Richtung eine Übertragung stattfand – das heisst, ob Tiere Menschen oder umgekehrt Menschen Tiere angesteckt haben –, ist allerdings noch nicht klar. Was man aber mit Sicherheit weiss, ist, dass der Aussatz, wie man die Lepra auch nennt, im europäischen Mittalter grassierte. Den Höhepunkt der Verbreitung erreichte die Krankheit im 13. Jahrhundert, gegen Ende des 16. Jahrhundert klang die Leprawelle dann ab.
Eine Ansteckung mit dem Lepra-Erreger führt zu krankhaften Veränderungen von Haut, Schleimhäuten, Nervengeweben und Knochen und zu den körperlichen Entstellungen, die man von Bildern von Betroffenen kennt. Der Keim selbst ist meist nicht tödlich, dafür aber die Folgeinfektionen, die durch die Gewebeveränderungen begünstigt werden können. Noch heute infizieren sich jedes Jahr weltweit rund 200 000 Menschen mit Lepra – vor allem in Indien, Südostasien und Südamerika. Wie Analysen, die Verena Schünemann mit anderen Forschenden gemacht hat, zeigen, ist das Genom heutiger Leprakeime noch weitgehend identisch mit demjenigen von Keimen aus dem Mittelalter. Das heisst, das Erbgut des krankmachenden Bakteriums hat sich im Lauf von Hunderten von Jahren kaum verändert. «Der Erreger hat sich ich Lauf der Evolution einen wirksamen Verteidigungsmechanismus aufgebaut», sagt Verena Schünemann, «deshalb ist eine Behandlung mit Antibiotika auch heute noch sehr langwierig und zäh.»
Ob eine Zoonose, also das Überspringen eines Krankheitserregers von Tieren auf Menschen, bei der Lepra am Anfang stand, weiss man noch nicht. Klar ist aber, dass Zoonosen beim Entstehen vieler «klassischer» Infektionskrankheiten eine wichtige Rolle spielen. Das am besten erforschte Beispiel ist die Pest, die in Europa jahrhundertelang mit verheerenden Folgen wütete. Der Pesterreger, Yersinia pestis, wird vor allem durch Flohbisse von Ratten auf den Menschen übertragen und raffte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Millionen von Menschen dahin.
Im amerikanischen Yosemite-Nationalpark wird auf Tafeln dazu aufgefordert, den Kontakt mit Streifenhörnchen zu vermeiden, denn die Tiere könnten Träger des Pesterregers sein.
Schon 2011 ist es Verena Schünemann zusammen mit ihrem damaligen Chef Johannes Krause an der Universität Tübingen gelungen, anhand der Überreste von Pestopfern, die auf einem Londoner Friedhof liegen, mittels DNA-Analysen das Genom des mittelalterlichen Pesterregers zu entschlüsseln. Damit konnte der Erreger aus der Vergangenheit mit Pestkeimen von heute verglichen und so seine Entwicklung bis heute nachvollzogen werden.
Noch heute ist der «Schwarze Tod» nicht aus der Welt. An globalen Hotspots wie etwa in Kasachstan erkranken immer noch jedes Jahr Hunderte Menschen an der Pest. «Im amerikanischen Yosemite-Nationalpark wird auf Tafeln dazu aufgefordert, den Kontakt mit Streifenhörnchen zu vermeiden, um eine mögliche Ansteckung zu verhindern», sagt Verena Schünemann, «denn die Tiere könnten Träger des Pesterregers sein.» Die Streifenhörnchen sind potenzielle «Reservoirs», in denen sich Krankheitskeime abseits vom Menschen vermehren können.
Solche Tierreservoirs könnten ein wichtiger Grund sein, weshalb sich die grossen Seuchen von gestern bis in die Gegenwart haben halten können. «Das Wirtsspektrum von Pathogenen wie dem Pesterreger ist gross, es kann zum Beispiel in vielen verschiedenen Nagetieren zuhause sein und von dort aus immer wieder auf den Menschen überspringen», sagt Paläogenetikerin Schünemann, «diese Fähigkeit, verschiedene Wirte zu infizieren, ist eine wichtige Überlebensstrategie dieses Bakteriums.» Um die Pest loszuwerden, müsste man deshalb theoretisch alle Nagetierpopulationen weltweit pestfrei machen, was praktisch unmöglich ist. Aus diesem Grund wird uns die Infektionskrankheit wohl auch in Zukunft begleiten, wenn auch mit weniger dramatischen Konsequenzen als im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Welche Rolle Nagetierreservoires in der Vergangenheit bei der Verbreitung und Entwicklung von Pest und Lepra gespielt haben, wird Verena Schünemann, die mittlerweile eine Professur an der Universität Basel angetreten hat, im Rahmen eines EU-Grants, den sie im letzten Jahr erhalten hat, künftig detaillierter analysieren.
Lepra und Pest sind zwar nicht verschwunden, sie sind dank Antibiotika aber lange nicht mehr so gefährlich wie in vergangenen Zeiten. Ein regelrechtes Comeback feiert dagegen zurzeit eine ganz andere Infektionskrankheit, die die Menschheit seit langem begleitet: die Syphilis. «Insbesondere die Corona-Pandemie hat der Krankheit einen neuen Schub verliehen», sagt Verena Schünemann. Weshalb das so ist, kann sich die Wissenschaft nicht genau erklären. Fakt ist, dass die Syphilis-Infektionen weltweit stetig zunehmen.
Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es immer wieder Pandemien gab. Deshalb sollten wir auch heute permanent darauf vorbereitet sein.
Syphilis ist eine von mehreren sogenannten Treponematosen, das sind Infektionskrankheiten, die durch Treponema-Bakterien ausgelöst werden. Während Syphilis sexuell übertragen wird, werden andere Treponematosen wie die Framböse oder die endemische Syphilis hauptsächlich durch Schmierinfektionen zwischen Menschen weitergegeben, die in engen Verhältnissen zusammenleben. Die für die aktuellen Infektionszahlen verantwortlichen Syphilis-Bakterien werden durch sexuellen Kontakt übertragen. Im Mittelpunkt stehen weltweit sehr ähnliche Erreger. «Sie gehören zu einem bestimmten Unterstamm der klassischen Syphilis-Stämme», sagt die Forscherin. Syphilis und andere Treponematosen können mit Antibiotika wie Penicillin therapiert werden. Bleibt die Krankheit unbehandelt, kann sie zur Schädigung von Organen und dem Nervensystem, zur Bildung von Geschwüren am ganzen Körper und letztlich zum Tod führen.
Wo die historischen Ursprünge der Syphilis liegen und wie sich die Krankheit in der Vergangenheit in Europa verbreitet hat, darüber ist sich die Wissenschaft nicht einig. Gemäss einer von vielen Forschenden vertretenen These brachten Christoph Kolumbus und seine Mannschaft den klassischen Syphilis-Erreger 1493 aus der Neuen Welt nach Hause. Tatsächlich verbreitete sich die Infektionskrankheit im späten 15. Jahrhundert besonders von Hafenstädten aus in ganz Europa. Aufgrund verschiedener Analysen von historischen und prähistorischen DNA-Proben von menschlichen Knochen konnten Verena Schünemann und ihr Team allerdings zeigen, dass die Geschichte von Syphilis viel komplexer ist als bisher angenommen und andere Unterarten wie die Erreger der endemischen Syphilis mit in die Betrachtung einbezogen werden müssen, nicht nur die klassische Syphilis.
Verena Schünemanns Forschung kommt nicht nur zu neuen, zuweilen überraschenden Erkenntnissen zur Verbreitung und Evolution von Infektionskrankheiten, sie frischt auch unser pandemisches Gedächtnis auf. Denn: Auch wenn wir es vielleicht zuweilen vergessen, der Wettkampf zwischen Menschen und Mikroben ist eine Konstante in der Geschichte. «Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es immer wieder Pandemien gab. Deshalb sollten wir auch heute permanent darauf vorbereitet sein», sagt Schünemann.
Für die Paläogenetikern ist klar, dass wir auch in Zukunft mit neuen Pandemien zu rechnen haben. Umso mehr, als unsere moderne Lebensweise das Entstehen von Infektionskrankheiten begünstigt. In der globalisierten Welt mit wachsenden Megacitys rücken die Menschen näher zusammen – dies erleichtert auch die Übertragung von Krankheitserregern. «Dasselbe gilt für die Massentierhaltung, wo sich Infektionen schnell ausbreiten können», sagt Verena Schünemann. Wie zentral Tiere als Reservoirs von Krankheitskeimen in der Geschichte und bei der Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten sind – auch dies macht die Forschung der Paläogenetikerin deutlich. «Deshalb sollte man das internationale Monitoring von Wildtieren, das seit der Covid-19-Pandemie intensiviert wurde, unbedingt beibehalten», sagt Schünemann.
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen UZH Magazin «Kostbare Vielfalt»