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Im Juni 1885 landet Kodama Keijiro zusammen mit fast tausend weiteren Arbeitern in Honolulu, wo er sich für drei Jahre auf einer Zuckerplantage verpflichtet hat. Sein Grabstein findet sich heute noch dort. Die 21-jährige Hashimoto Usa gibt im November 1897 australischen Beamten zu Protokoll, dass sie eigentlich nach Singapur zu einer Schwester wollte, doch stattdessen in ein Bordell auf Thursday Island in Australien verschleppt worden sei. Weiter gibt es von ihr keine Spuren. Und im März 1900 beschreibt der Fabrikant Yasukawa Keiichiro in seinem Tagebuch seine Reise nach Kobe. Von den 22 Einheizern und Kohleschauflern, welche die Maschinen des Schiffs am Laufen hielten, sind hingegen bloss die Namen überliefert.
Das sind einige der Geschichten, die Martin Dusinberre erforscht hat, über die Menschen, die Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Dampfschiff «Yamashiro-maru» unterwegs waren, um Arbeit und Auskommen zu finden. Dusinberre ist seit 2015 Professor für Global History an der Universität Zürich. Auf die japanischen Migrant:innen stiess er per Zufall, als er nach seinem Studium in Oxford als Englischlehrer in Japan arbeitete und feststellte, dass aus der Gegend um Yamaguchi, wo er tätig war, um die Jahrhundertwende sehr viele Menschen ausgewandert waren.
Japan machte damals, unter Kaiser Meiji, einen fundamentalen Wandel durch, vom Feudalstaat zur modernen Imperialmacht, die vom Westen als gleichberechtigte Handelspartnerin wahrgenommen werden wollte. Dazu gehörte, dass technischer Fortschritt begrüsst und die lange fast abgeschlossene Grenze stückweise geöffnet wurde. Die staatlichen Aktivitäten zur wirtschaftlichen Öffnung umfassten auch ein offizielles Migrationsprogramm, das Landarbeiter nach Hawaii sandte. Anders als die aus Afrika verschleppten versklavten Plantagenarbeiter in Amerika blieben diese Menschen aber weiterhin Staatsbürger und standen unter dem Schutz des japanischen Staats, der mit dem Gastland vereinbarte, wie sie zu behandeln waren, ihnen aber auch vorschrieb, 25 Prozent ihres Lohns nach Hause zu schicken. «Dieses Geld hatte einen transformativen Effekt», sagt Dusinberre, «damit wurden Schulen gebaut, neue Häuser, Kriegsdenkmäler, aber auch zentrale neue Infrastruktur wie Verkehrswege und Elektrizitätswerke. Die Migrant:innen waren wichtig für die Entstehung des modernen Japan.»
Das Land betrieb mit seinen Migrant:innen zudem Werbung für sein neues, zivilisiertes Image. Nur Männer mit einwandfreiem Leumund und verheiratete Frauen wurden zugelassen, und sie reisten mit einem der damals modernsten Verkehrsmittel, dem eigens im englischen Newcastle bestellten Dampfschiff «Yamashiro-maru». Newcastle wiederum war zufällig der Ort, wo Dusinberre nach seinem Japanaufenthalt eine Stelle an der Universität antrat. Im lokalen Archiv stiess er auf Unterlagen über dieses japanisch-englische Schiff, das ab 1885 auf seinen Fahrten nach Honolulu besonders viele Migrant:innen ausgerechnet aus dem Ort, wo er zuvor gearbeitet hatte, an Bord hatte – eine Passagierliste aus Tokio belegte es. Verblüfft beschloss er, mehr über dieses Schiff und die Menschen darauf herauszufinden: «Ich wollte die Welt aus ihrer Perspektive verstehen.» Dies erwies sich jedoch als schwierig, denn die Migrant:innen haben kaum Dokumente hinterlassen. Dusinberre erkannte: «Über dieses Schweigen und die damit verbundenen Schwierigkeiten muss ich schreiben.»
Und so nimmt er in seinem 2023 erschienenen Buch «Mooring the Global Archive. A Japanese Ship and its Migrant Histories» die Leser:innen mit zu seiner Detektivarbeit in Japan, Newcastle, Hawaii, Singapur und Australien. Dabei erfährt man einiges über die Tücken der geschichtswissenschaftlichen Forschung, vor allem wenn die Forschenden sich für etwas interessieren, das gemeinhin nicht aufgeschrieben, archiviert und erinnert wird: die Stimmen von Plantagenarbeiterinnen und -arbeitern, von Bergleuten, von Sexarbeiterinnen, von niedrigem Schiffspersonal und von den Indigenen, die von den Archiven der Kolonialmächte zumeist ignoriert oder gar zum Schweigen gebracht wurden. Nur die japanische Oberschicht konnte damals schreiben. Deshalb ist es kein Zufall, dass die Stimme des eingangs erwähnten Fabrikanten heute eher hörbar ist als die Stimme der von ihm genannten Schiffsarbeiter.
«Das alles war auch eine Chance, darüber nachzudenken, was Geschichte überhaupt ist und wie Historikerinnen und Historiker arbeiten», sagt Dusinberre. «Eine der grundlegendsten Fragen für mich ist dabei: Wie sehen wir Historiker die Welt? In der Regel durch die Brille eines Archivs.» Doch was bedeutet das? Was ist eigentlich ein Archiv? Wer hat es gemacht? Wer betreibt es? Wer darf es benutzen? Nach welchen Interessen wurde ausgewählt, was archiviert wird? Das sind eigentlich alte Fragen in der Geschichtswissenschaft, aber sie stellen sich heute wegen der Digitalisierung nochmals ganz neu, sagt Dusinberre. Der UZH-Historiker sieht klare Vorteile in der Digitalisierung: «Reisekosten und CO2-Ausstoss können reduziert werden, mehr Menschen haben Zugriff auf die Archive und es kann sehr schnell gesucht werden.»
Doch er warnt auch davor, nur noch online zu forschen. Denn nicht alles ist digitalisiert, «un-moored», also unverankert und völlig losgelöst im digitalen Raum vorhanden. Und nicht alles ist überhaupt digitalisierbar, was als historische Quelle interessant ist. «Es ist immer noch wichtig, auch vor Ort zu forschen. Wir brauchen den lokalen Kontext und die Möglichkeit, auch zufällig auf Dinge zu stossen.» Dies zeigte sich gerade in Bezug auf die von ihm gesuchten Migrationsgeschichten. Dem Plantagenarbeiter Kodama Keijiro kam er über einen Grabstein auf die Spur – schliesslich ist ein Friedhof auch eine Art Archiv – und in Kodamas Heimatort, wo er Leute mit demselben Nachnamen aufsuchte. Und ein Archivbesuch in Hawaii brachte ihn auf die Idee, Lieder als Quelle zu verwenden, weil vor dem Archiv gerade die Royal Hawaiian Band ein hawaiianisches Widerstandslied spielte (siehe Kasten).
Dusinberre ist es wichtig, den Forschungsprozess sichtbar zu machen: «Im Studium habe ich gelernt, als Historiker zu verschweigen, wer man selbst ist und wo man herkommt. Man denkt gar nicht darüber nach. Doch das wäre wichtig!» Quellenkritik wird im Geschichtsstudium seit eh und je vermittelt: Woher und von wem stammt eine Quelle, welchen Interessen diente sie? Genauso wichtig sei es, dass Forschende reflektieren, aus welcher Position heraus sie schreiben. Dusinberre führt beides am Beispiel von Hashimoto Usa aus. Es war ungewöhnlich, dass sie als alleinstehende Frau aus Japan ausreiste, weil eigentlich nur verheiratete Frauen auf die Migrantenschiffe durften. Das Dokument, das er über sie fand, enthält eine Art Anzeige in Ichform. Es ist auf Englisch abgefasst und mit Kreuzen unterzeichnet. Das zeigt: Hier fanden allerlei Übersetzungprozesse statt. Eine junge Japanerin mit dem Status einer illegalen Sexarbeiterin erzählte einem offiziellen Übersetzer ihre Geschichte, die ein australischer Beamter aufschrieb. Hashimoto Usa wollte damit vermutlich ihre Entführer anzeigen, die sie namentlich nennt, und ihre Kolleginnen schützen, deren Namen sie verschweigt.
Es sind vielfältige Intersektionalitäten, die bei der Entstehung dieses Dokuments zum Tragen kamen. Ähnlich erging es dem Betrachter. Dusinberre fragte sich: «Was bedeutet es, dass ich als weisser Mann und Brite diese Frau suche? Stehe ich auf derselben Position wie der damalige Beamte? Oder mache ich mich zu einem imaginären Retter und sie zu einem ‹Opfer›? Wie steht es um die Intentionen der Frau selbst?» Gerade solche Widersprüchlichkeiten interessieren ihn: Wollte Hashimoto als Sexarbeiterin arbeiten, wurde sie dazu gezwungen oder stimmt gar beides? Und die japanischen Migrant:innen in Hawaii und Australien: Waren sie ausschliesslich Ausgebeutete oder auch Komplizen der Kolonialisten?
Auf diese Fragen gibt es keine klaren Antworten, sondern sie regen dazu an, über die Verteilung von Macht und Handlungsfähigkeit nachzudenken, über das komplexe Zusammenspiel in menschlichen Gesellschaften, das sich nicht in einer Einteilung in Opfer und Täter erschöpft. Das Schreiben des Buchs war für Dusinberre somit auch eine Art Reise. Er sagt es so: «Am Anfang dachte ich, ich würde die Geschichte eines Schiffs schreiben. Und am Ende hat sich herausgestellt, dass es ein Buch darüber wird, wie historisches Wissen entsteht.»
Literatur: Martin Dusinberres Buch Mooring the Global Archive. A Japanese Ship and its Migrant Histories, Cambridge University Press 2023, ist dank der Unterstützung des Schweizerischen Nationalsfonds (SNF) online frei zugänglich.