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Populationsgenetik

Die Wurzeln der Mapuche

Die Vorfahren der Mapuche besiedelten Südamerika bereits vor 5000 Jahren. Lange lebten sie in relativer Isolation und trotzten den Inkas und den Spaniern. Eine bemerkenswerte Studie gibt Einblick in ihre genetische Geschichte und jene Südamerikas.
Stefan Stöcklin
Uralte südamerikanische Kultur: Mapuche-Frauen am «National Day of Indige nous People» im Juni 2023 in Santiago, Chile. (Bild: Esteban Felix, Keystone)
Uralte südamerikanische Kultur: Mapuche-Frauen am «National Day of Indige nous People» im Juni 2023 in Santiago, Chile. (Bild: Esteban Felix, Keystone)

Chiloé ist eine fruchtbare Insel im Pazifik unweit des chilenischen Festlandes. Sie gehört zum Stammland der Mapuche, der grössten indigenen Volksgruppe Chiles, die sich während Jahrhunderten gegen die spanischen Kolonisatoren und die Inkas wehrte. Heute lebt nur noch eine Minderheit der Mapuche in ihren ehemaligen Herkunftsorten, der grössere Teil hat sich im Umfeld der Metropole und Hauptstadt Santiago niedergelassen. Auf Chiloé, dem Gemüsegarten Chiles, starteten Chiara Barbieri und ihre Mitarbeiter:innen eine Studie mit dem Ziel, die genetische Abstammung der Mapuche zu ergründen. 

«Wir wollten mehr über den genetischen Kontext ihrer Geschichte vor der Ankunft der Europäer wissen», sagt die Populationsgenetikerin. Gleichzeitig sollte die Studie auch die Bedeutung der indigenen Gruppe hervorheben, die wie viele Ureinwohner von den europäischen Einwanderern verdrängt wurde. «Unsere Arbeit ist auch eine Wertschätzung und soll die Identität dieser marginalisierten Gruppe stärken», sagt Doktorandin Epifania Arango, die Erstautorin der Studie über die Mapuche. Die kürzlich publizierte Studie hat beide Ziele mehr als erreicht – denn sie konnte eine bemerkenswert lange Siedlungsgeschichte der Mapuche im Süden Südamerikas nachweisen, die sich über Jahrtausende erstreckt. «Wir konnten zeigen, dass sich die Vorfahren der Mapuche bereits vor gut 5000 Jahren im Gebiet von Zentralchile und Chiloé ansiedelten», sagt Barbieri.

Speichelproben und Fossilien

Die Langzeitanalyse basiert einerseits auf paläogenetischen Untersuchungen, also Erbgutanalysen fossiler Fundstücke aus Nord- und Südamerika sowie weiteren Regionen, die in Datenbanken abgelegt sind. Andererseits stellten 64 Angehörige der Mapuche aus der Insel Chiloé und dem angrenzenden Festland – einem Gebiet namens Araukanien – Speichelproben zur Verfügung. Durch den Vergleich der genetischen Muster ihrer DNA lassen sich Abstammungslinien und Verwandtschaften rekonstruieren.

Derartige genetische Untersuchungen sind nicht unproblematisch. Immer wieder haben Forschende in der Vergangenheit indigene Volksgruppen als Studienobjekte missbraucht und die Resultate ohne Rücksprache weiterverwendet. «Wir haben von Anfang an auf Inklusivität geachtet», sagt Chiara Barbieri. Zusammen mit Forschenden aus Chile, einer Anthropologin und einem Linguisten, kontaktierte sie erstmals 2019 die Einheimischen, erklärte ihnen den Kontext des Projekts und die Bedeutung genetischer Daten. «Wir haben viel Zeit investiert, um die Menschen zur Teilnahme zu motivieren», sagt Barbieri, «dabei gingen wir sehr behutsam vor und übten keinerlei Druck aus.» So gab es immer wieder Leute, die nicht mitmachen wollten, obwohl sie die Projektziele im Grunde unterstützten, da ihnen die Genetik suspekt war.

Die 64 Speichelproben lieferten schliesslich den Grundstock, um Abstammung und Verwandtschaft der Mapuche im Kontext Südamerikas zu entwirren. Wie mit einem Teleskop konnten die Wissenschaftler:innen dank den Sequenzdaten sowohl in die weit entfernte Vergangenheit zoomen als auch einen Blick auf die jüngere Geschichte erhaschen.

Genetische Analysen reichen bis in das mittlere Holozän vor rund 7000 bis 8000 Jahren zurück. Um diese Zeit bildeten sich in Südamerika aufgrund der Migration von Menschen aus dem Norden drei grosse Gruppen, welche die Anden, das Amazonasbecken und den Süden (Cono Sur) besiedelten. Die südliche Gruppe teilte sich in drei weitere Linien auf, eine davon nahm Zentralchile und den Archipel bei Chiloé in Besitz. Wie sich diese Menschen nannten und wie sie lebten, ist unbekannt. Aber die Genetik zeigt, dass sie eng mit den Mapuche verwandt sind. «Aufgrund unserer Studien kommen wir zum Schluss, dass die direkten genetischen Vorfahren der Mapuche Chiloé und Zentralchile seit mindestens 5000 Jahren bewohnt haben», sagt Epifania Arango. Gleichzeitig wanderten die Mapuche aus Zentralchile regelmässig in den Süden Richtung Feuerland und hatten Austausch mit Gruppen wie den Kawéskar, die Patagonien besiedelten. Während einer langen Zeitspanne grenzten sie sich hingegen von den weiter nördlich lebenden Völkern in den Anden ab. Die genetischen Daten legen nahe, dass die Mapuche bis vor zirka 1000 Jahren in «relativer Isolation» lebten, das heisst während einer viertausendjährigen Periode. 

Kartoffeln, Quinoa und Mais tauschen

Öffnet man den Zoom und rückt die nähere Vergangenheit vor rund 500 bis 1000 Jahre in den Fokus, so zeigen sich auch Verbindungen mit den Andenbewohnern. Die Mapuche suchten damals offenbar den Kontakt mit den Bewohner:innen im Norden: «Wir finden genetischen Austausch, aber vor allem kulturelle Beziehungen», sagt Chiara Barbieri. So wurden Pflanzen wie Kartoffeln, Quinoa oder Mais getauscht. Die an der Studie beteiligten Linguisten dokumentierten auch den Transfer spezieller Wörter aus dem in den Anden gesprochenen Ketchua ins Mapudungun der Mapuche. Diese Sprache gilt als isoliert und kann keiner anderen bekannten Sprachgruppe zugeordnet werden – ein Befund, der sich mit der Jahrtausende währenden genetischen Isolierung im Süden deckt.

Die Kontakte zum Andenhochland fanden noch vor den Eroberungszügen der Inkas im 15. Jahrhundert statt. Die Inkas wiederum versuchten vergeblich, von Norden herkommend die Mapuche zu unterjochen. Sie mussten umkehren, genauso wie die Spanier, die von den Mapuche erbittert bekämpft wurden. Die Kolonisatoren anerkannten die Mapuche 1641 als eigenständige Volksgruppe. Das unabhängige Chile bestätigte diesen Status 1825. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden grosse Teile des Mapuche-Territoriums dem Staat einverleibt und an europäische Siedler verteilt.

Angesichts dieser bitteren Erfahrungen versteht man die vorsichtige Haltung der Forschenden, die einen «Kontakt auf Augenhöhe ohne neokolonialistische Attitüden» suchten, wie Epifania Arango sagt. Das Forschungsteam hatte sich vorgenommen, die Ergebnisse den Teilnehmer:innen und der lokalen Bevölkerung vor der Publikation in Fachzeitschriften zu unterbreiten und «die Resultate zurückzugeben». Die Forscherin bereitete dazu Informationsmaterial vor, wo sie die Grundzüge der Vererbung und von DNA-Analysen sowie die wichtigsten Schlussfolgerungen in einfacher spanischer Sprache beschrieb. 

Stolz und Demut

Wegen der Corona-Pandemie verzögerte sich das Vorhaben. Erst im Frühling 2022 war es so weit. An insgesamt 16 Treffen wurden die Ergebnisse erläutert. «Laien komplexe Genetik zu erklären, ist ganz schön herausfordernd», sagt Arango. Sie ist aber überzeugt, dass zumindest jene, die an diesen Workshops teilgenommen haben, die Hauptbotschaften verstanden haben. Die Mapuche hätten die Befunde «mit Stolz und Demut» zur Kenntnis genommen. 

Was die Leute aber am meisten interessierte, konnte auch die Wissenschaftlerin nicht beantworten, nämlich die Frage: Wie indigen bin ich, bin ich ein hundertprozentiger Mapuche? Die Wissenschaftlerin musste dann erklären, dass sich alle Menschen genetisch betrachtet nur minimal voneinander unterscheiden. Genauer gesagt in weniger als einem Zehntausendstel des gesamten Genoms. «Die Genetik», so die Forscherin, «gibt keine Antwort auf die Identität.» Aber sie wird dazu beitragen, das Gemeinschaftsgefühl einer marginalisierten Gruppe zu stärken.

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